Über die Variation.
kunft nicht verleugnen. Das Hervorwachsen der mancher-
lei Formen aus dem einen Keim ist ja gerade dach was
dem Betrachtenden, dem mit Verstandnis Auhörenden,
den Reiz und Genuß der Variation gewahrt.
Bei der Veränderung der Harmonie ist zu unter-
scheiden die Veränderung der Darstellung, also etwa der
bewegtere Charakter, der reichere Ausbau der Begleitung,
und die eigentliche Veränderung des harmonischen Ge-
schehens. Das Erstere ist, wie gesagt, keine eigentliche
Veränderung, sondern nur eine Entwicklung des Ge-
gebenen, kein neues, sondern nur ein volleres Dasein.
So ist die zwölfte der kls-äur-Variationen von Beet-
hoven ox>. 35 der harmonische Ausbau des harnw-
nischen Keims, welcher zur Eröfsnung des Werks in den
langen Noten gezeigt wurde. Ahnlich verhält sich die
siebente und die dreiundzwanzigste der L-rnoll-Variatio-
nen zu der Harmonie des Thenias. Jn der letzten unserer
/cs-clur-Variationen ist ebenfalls an die Stelle der
ruhenden Harmonie die bewegte getreten, die Harmonie
selbst aber geblieben. Man könnte dies auch als eine
Art des „Dinnnuierens" bezeichnen; die Baßstimme,
als Melodie betrachtet, odermehrerebegleitendeStimmen
lösen die langen Noten in eine Reihe von kleineren auf.
Sehr verschieden davon ist die Wirkung einer eigentlichen
Veranderung der Harnionie, welche also die ursprünglich
gebrauchten Akkordfolgen durch andere ersetzt, so daß
eine und dieselbe Melodie verschieden „harmonisiert"
erscheint. Andeutungsweise geschieht dies in dem lang-
samen Satz der Symphonie mit dem Paukenschlag von
Haydn; das Thema erscheint am Schluß, nachdem es
vorher m e l o d i s ch verändert worden war, in seiner
einfachen Gestalt wieder, aber anders „gesetz t", das
heißt auf anderer h a r m o n i s ch e r Grundlage; in
dem Finale der Orford-Symphonie von Haydn wird
das Hauptthema gegen den Schluß in eine neue har-
monische Atmosphäre versetzt, welche ihm denn auch
einen neuen, und zwar einen vornehmeren Charakter
verleiht; sein vorheriges Auftreten war etwas ländlich
jahrmarktmäßig. Ganz ani Schluß kommt abermals
eine neue harmonische Wendung, diesmal überdies
mit einer kleinen Umbiegung der Melodie ins Höfliche
und Galante, zugleich mit abschließender Wirkung.
Schon aus diesen kleinen Beispielen erhellt, daß die
Veränderung der Harmonisierung den Charakter
einer Melodie wesentlich verändert, dieselbe sozusagen
in einen neuen Lebenskreis stellt. Diese Veränderung
ist viel eingreifender, gefährdet also auch mehr die Ein-
heitlichkeit und den Zusammenhang, als dieVeränderung
der Melodie bei gleichbleibender oder nur reicher ent-
wickelter Harmonie es tut. Sie ist demgemäß in der
Variationenform das seltenere, übrigens auch schon aus
dem einfachen praktischen Grund, daß die Möglichkeit
harmonischer Veränderung gegenüber derjenigen melo-
discher und rhythmischerVeränderung vielbeschränkter ist.
Wir sprachen bisher von Variationen der Melodie,
welche durch deren Ausschmückung entstehen, ferner von
Variationen der Begleitung, und von Änderung der
Harmonie bei gleichbleibender Melodie. Der letztere
Fall, die verschieden harmonisierte Melodie, hat zuni
Gegenspiel die verschieden melodisierte Harmonie, den
verschieden melodisierten Baß. Der Name Baß für die
tiefste Stimme kommt von Basis, die Grundlage. Der
Name sagt das Richtige: auf den Baß baut sich die Har-
monie auf, er ist der Träger, ja auch der Produzent der
Akkorde. Er genügt, die Harmonie anzudeuten. Eine
beibehaltene Harmoniefolge wird also am besten durch
den gleichbleibenden Gang des Basses gewahrt und
reprasentiert, wie wir das an den oben erwähnten
Ls-clur-Variationen gesehen haben. Jst nun der Gang
des Basses so charakteristisch, daß er einem Thema oder
einer Melodie gleichkommt, so ergibt sich aus seiner
Wiederholung, bei Veränderung der Oberstimmen,
eine besondere Form der Variation, die l?ussLcLAliL,
für welche in den Orgelkompositionen von Bach das
schönste Beispiel zu finden ist. Aufder liedartigen Melodie
des Basses bauen sich immer neue Variationen auf.
Der Baß hebt sich also hier von der Harmonie ähnlich
ab, wie sonst die melodische Oberstimme, obgleich er die
Grundlage der Harmonie und mit ihr verwachsen ist.
Diese Art des verschieden melodisierten Basses (welcher
selbst eine Melodie ist) ist nicht dieselbe Sache wie die
melodischen Veränderungen, welche wir bisher besprochen
haben, denn hier ist eben der Baß der Ausgangspunkt,
wie er denn auch zuerst allein, ohne obere Stimmen,
austritt. Er ist selbst Thema, nicht nur als Scheinthema
dem eigentlichen Thema vorausgeschickt, wie in den
Os-clur-Variationen von Beethoven. Auf ihm erklingen
nicht nur veränderte, sondern auch neue Oberstimnien.
Diese Komposition fordert also von dem Auhörer,
daß er mehr als eine Melodie zugleich, daß er sowohl den
Baß als auch die Oberstinime oder die oberen Stimnien
in ihren Melodiegängen erfaßt. Gegensätzlich zu dieser,
wie man sagt, „kontrapunktischen" Kompositionsweise ist
die zweite der Xs-clur-Variationen, von denen wir aus-
gehen; auch in ihr ist zwar der Baß die Hauptsache, da
er die Melodie des Themas vorträgt; die oberen Stimmen
aber sind meist nur eine akkordliche Masse in seinem Ge-
folge, ohne Selbständigkeit, ohne Jntelligenz. Das
Verhältnis zwischen dem, was man hört, und dem,
was man verstehen soll, was der Mühe wert ist zu hören,
ist hier bei weitem kein so reines wie bei Bach, der hierin
überhaupt die andern Meister alle übertrifft. Beethoven
arbeitet an unserer Stelle mit Massen, auch sonst finden
wir häufig bei ihm sogenannte Trommelbässe (z. B.
in der Lonnts pLtlietlcins), auch andere Figuren, welche
mehr das Ohr füllen als dem sinnvollen AuhörenGenüge
tun: also je besser einer hört, desto mehr wird er an
solchen Stellen vermissen — mögen diese auch auf den
ungeübten Auhörer oft einen mächtigen Eindruck hervor-
rufen. So ist auch die höchst liebenswürdige, gewinnende
8-6ur-Sonate von Schubert, bei aller Pracht, Jnnigkeit
und Feinheit doch als Musik nicht von höchstem Rang;
das Gehörte deckt sich nicht mit dem Hörenswerten; die
äußere Bewegung entspricht nicht deni wirklichen musika-
lischen Geschehen. Man kann zu ihr große Liebe hegen,
ohne darum die Klarheit des Urteils sich trüben zu lassen.
Urteilen ist etwas anderes als Uberredetwerden oder
Gefallen finden. Jn dem Stil Bachs dagegen ist der
Spielraum des Geschehens völlig ausgenützt, alle Fak-
toren des Geschehens sind mit höchster Jntelligenz
durchdrungen. Je mehr er aufzunehmen imstande ist,
desto besser befindet sich hier der Auhörer, desto mehr
gewinnt er Genuß und Freude an diePr Musik, in
welcher kauni ein Ton zu finden ist, der nicht im Ernst
24S
kunft nicht verleugnen. Das Hervorwachsen der mancher-
lei Formen aus dem einen Keim ist ja gerade dach was
dem Betrachtenden, dem mit Verstandnis Auhörenden,
den Reiz und Genuß der Variation gewahrt.
Bei der Veränderung der Harmonie ist zu unter-
scheiden die Veränderung der Darstellung, also etwa der
bewegtere Charakter, der reichere Ausbau der Begleitung,
und die eigentliche Veränderung des harmonischen Ge-
schehens. Das Erstere ist, wie gesagt, keine eigentliche
Veränderung, sondern nur eine Entwicklung des Ge-
gebenen, kein neues, sondern nur ein volleres Dasein.
So ist die zwölfte der kls-äur-Variationen von Beet-
hoven ox>. 35 der harmonische Ausbau des harnw-
nischen Keims, welcher zur Eröfsnung des Werks in den
langen Noten gezeigt wurde. Ahnlich verhält sich die
siebente und die dreiundzwanzigste der L-rnoll-Variatio-
nen zu der Harmonie des Thenias. Jn der letzten unserer
/cs-clur-Variationen ist ebenfalls an die Stelle der
ruhenden Harmonie die bewegte getreten, die Harmonie
selbst aber geblieben. Man könnte dies auch als eine
Art des „Dinnnuierens" bezeichnen; die Baßstimme,
als Melodie betrachtet, odermehrerebegleitendeStimmen
lösen die langen Noten in eine Reihe von kleineren auf.
Sehr verschieden davon ist die Wirkung einer eigentlichen
Veranderung der Harnionie, welche also die ursprünglich
gebrauchten Akkordfolgen durch andere ersetzt, so daß
eine und dieselbe Melodie verschieden „harmonisiert"
erscheint. Andeutungsweise geschieht dies in dem lang-
samen Satz der Symphonie mit dem Paukenschlag von
Haydn; das Thema erscheint am Schluß, nachdem es
vorher m e l o d i s ch verändert worden war, in seiner
einfachen Gestalt wieder, aber anders „gesetz t", das
heißt auf anderer h a r m o n i s ch e r Grundlage; in
dem Finale der Orford-Symphonie von Haydn wird
das Hauptthema gegen den Schluß in eine neue har-
monische Atmosphäre versetzt, welche ihm denn auch
einen neuen, und zwar einen vornehmeren Charakter
verleiht; sein vorheriges Auftreten war etwas ländlich
jahrmarktmäßig. Ganz ani Schluß kommt abermals
eine neue harmonische Wendung, diesmal überdies
mit einer kleinen Umbiegung der Melodie ins Höfliche
und Galante, zugleich mit abschließender Wirkung.
Schon aus diesen kleinen Beispielen erhellt, daß die
Veränderung der Harmonisierung den Charakter
einer Melodie wesentlich verändert, dieselbe sozusagen
in einen neuen Lebenskreis stellt. Diese Veränderung
ist viel eingreifender, gefährdet also auch mehr die Ein-
heitlichkeit und den Zusammenhang, als dieVeränderung
der Melodie bei gleichbleibender oder nur reicher ent-
wickelter Harmonie es tut. Sie ist demgemäß in der
Variationenform das seltenere, übrigens auch schon aus
dem einfachen praktischen Grund, daß die Möglichkeit
harmonischer Veränderung gegenüber derjenigen melo-
discher und rhythmischerVeränderung vielbeschränkter ist.
Wir sprachen bisher von Variationen der Melodie,
welche durch deren Ausschmückung entstehen, ferner von
Variationen der Begleitung, und von Änderung der
Harmonie bei gleichbleibender Melodie. Der letztere
Fall, die verschieden harmonisierte Melodie, hat zuni
Gegenspiel die verschieden melodisierte Harmonie, den
verschieden melodisierten Baß. Der Name Baß für die
tiefste Stimme kommt von Basis, die Grundlage. Der
Name sagt das Richtige: auf den Baß baut sich die Har-
monie auf, er ist der Träger, ja auch der Produzent der
Akkorde. Er genügt, die Harmonie anzudeuten. Eine
beibehaltene Harmoniefolge wird also am besten durch
den gleichbleibenden Gang des Basses gewahrt und
reprasentiert, wie wir das an den oben erwähnten
Ls-clur-Variationen gesehen haben. Jst nun der Gang
des Basses so charakteristisch, daß er einem Thema oder
einer Melodie gleichkommt, so ergibt sich aus seiner
Wiederholung, bei Veränderung der Oberstimmen,
eine besondere Form der Variation, die l?ussLcLAliL,
für welche in den Orgelkompositionen von Bach das
schönste Beispiel zu finden ist. Aufder liedartigen Melodie
des Basses bauen sich immer neue Variationen auf.
Der Baß hebt sich also hier von der Harmonie ähnlich
ab, wie sonst die melodische Oberstimme, obgleich er die
Grundlage der Harmonie und mit ihr verwachsen ist.
Diese Art des verschieden melodisierten Basses (welcher
selbst eine Melodie ist) ist nicht dieselbe Sache wie die
melodischen Veränderungen, welche wir bisher besprochen
haben, denn hier ist eben der Baß der Ausgangspunkt,
wie er denn auch zuerst allein, ohne obere Stimmen,
austritt. Er ist selbst Thema, nicht nur als Scheinthema
dem eigentlichen Thema vorausgeschickt, wie in den
Os-clur-Variationen von Beethoven. Auf ihm erklingen
nicht nur veränderte, sondern auch neue Oberstimnien.
Diese Komposition fordert also von dem Auhörer,
daß er mehr als eine Melodie zugleich, daß er sowohl den
Baß als auch die Oberstinime oder die oberen Stimnien
in ihren Melodiegängen erfaßt. Gegensätzlich zu dieser,
wie man sagt, „kontrapunktischen" Kompositionsweise ist
die zweite der Xs-clur-Variationen, von denen wir aus-
gehen; auch in ihr ist zwar der Baß die Hauptsache, da
er die Melodie des Themas vorträgt; die oberen Stimmen
aber sind meist nur eine akkordliche Masse in seinem Ge-
folge, ohne Selbständigkeit, ohne Jntelligenz. Das
Verhältnis zwischen dem, was man hört, und dem,
was man verstehen soll, was der Mühe wert ist zu hören,
ist hier bei weitem kein so reines wie bei Bach, der hierin
überhaupt die andern Meister alle übertrifft. Beethoven
arbeitet an unserer Stelle mit Massen, auch sonst finden
wir häufig bei ihm sogenannte Trommelbässe (z. B.
in der Lonnts pLtlietlcins), auch andere Figuren, welche
mehr das Ohr füllen als dem sinnvollen AuhörenGenüge
tun: also je besser einer hört, desto mehr wird er an
solchen Stellen vermissen — mögen diese auch auf den
ungeübten Auhörer oft einen mächtigen Eindruck hervor-
rufen. So ist auch die höchst liebenswürdige, gewinnende
8-6ur-Sonate von Schubert, bei aller Pracht, Jnnigkeit
und Feinheit doch als Musik nicht von höchstem Rang;
das Gehörte deckt sich nicht mit dem Hörenswerten; die
äußere Bewegung entspricht nicht deni wirklichen musika-
lischen Geschehen. Man kann zu ihr große Liebe hegen,
ohne darum die Klarheit des Urteils sich trüben zu lassen.
Urteilen ist etwas anderes als Uberredetwerden oder
Gefallen finden. Jn dem Stil Bachs dagegen ist der
Spielraum des Geschehens völlig ausgenützt, alle Fak-
toren des Geschehens sind mit höchster Jntelligenz
durchdrungen. Je mehr er aufzunehmen imstande ist,
desto besser befindet sich hier der Auhörer, desto mehr
gewinnt er Genuß und Freude an diePr Musik, in
welcher kauni ein Ton zu finden ist, der nicht im Ernst
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