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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 22.1912

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Heft 9
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Bab, Julius: Die Kinematographen-Frage
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https://doi.org/10.11588/diglit.26494#0340

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Die Kinematographen-Frage.

Möglichkeiten des Kinematogrciphen überhaupt nichts
und seine Zeitungsfunktionen sehr wenig mit seinem
ungeheuren Erfolg zu tun. Man mache sich, bitte, klar,
daß nach den letzten Schätzungen Deutschland über
2600 Lichtbildbühnen besitzt und in einem einzigen
Vierteljahr nur an ausländischen Films nicht weniger
als rund 8 Millionen Meter im ungefähren Wert von
10 Millioncn Mark verkonsumierte; nach Angaben von
Fachleuten besuchen in Berlin gegen 90 000 Menschen
täglich den Kientopp — das sind etwa dreimal so viel,
als im günstigsten Falle alle Theater und Konzertsäle
an einem Abend beherbergen können; und jeder ver-
öffentlichte Film wird während seiner Lebensdauer von
mindestens 3V- Millionen Menschen gesehen. Es ist eine
kindische Selbsttäuschung oder eine irgendwie zweckvolle
Entstellung, wenn jemand behaupten wollte, diese un-
geheuren Erfolge seien durch irgend etwas anderes er-
möglicht als durch die sogenannte Filmdramatik, d. h.
die Nachahmung von Theaterstücken durch den kinemato-
graphischen Apparat. „Um eine Liebesnacht", „Die
schwarze Hand", „An Bord des Korsaren", „Des Räubers
Rache", „Jn der Großstadt verloren", „Aus dem Leben
einer Tänzerin", „Die Schrecken der Jnquisition" usw.
usw. — Einbruch, Giftmischerei, Brandstistung, Bomben-
attentate, Wahnsinn, Ehebruch, Verführung, Verbrecher-
kneipen und Hochgericht — das sind die Titel, das sind
die Stoffe, mit deren entsprechend drastischer Ankün-
digung die Millionen in die Kinematographentheater
gelockt werden.

Bedarf es eines Beweises, daß diese Filmdramatik
einen negativen Wert darstellt, daß sie dem absoluten
Nichts gegenübcr, das vorher im Leben mancheö Kien-
toppbesuchers in punkto ästhetischer Unterhaltung gc-
herrscht haben mag, noch ein Negatives bedeutet? Der
Seiltänzer und der Kraftmensch stellen doch auf einem
noch so primitiven Gebiete ein noch so rohes Jdeal auf,
wecken Ehrgeiz und Phantasie und irgendeinc Leiden-
schaft, die über das Alltäglichste, den bloßen Egoismus
des Frcssens und Liebens hinaustreibt. Diese im aller-
fürchterlichsten Sinne des Wortes naturalistischen Dar-
bietungen werfen den Menschen auf das niedrigste
Niveau seiner brutalsten Jnstinkte zurück. Auö Geldgier,
Blutgier und Geschlechtsgier wird hier eine Welt zu-
sammengekleistert, die in ihren schreienden Farben und
brüllenden Akzenten versührerisch wirken muß.

Der blöde Anstrich mit dem moralischen Ausgang
bildet natürlich kein Gegengewicht gegen die Gemeinheit
dieser Produkte, sondern inr Gegenteil eine Garantie,
unter deren Schutz sich der Kultus alles Rohen aufs
ungestörteste entfaltet. Auch die ani mcisten gepflegte
Art der Komik im Filmtheater, die umgestürzten Glas-
körbe und Mehlsacke, die Radler, die in Wasserkübel
fallen und Prügel bekommen, der Sonntagsreiter, der
ins Fenster fliegt — diese Komik ist natürlich auch nicht
Gegcnsatz, sondern Ergänzung der Schauerdramatik.
Daß sie so auf das geistige Niveau des Letzten der
Letztcn herabsteigt, daß sie ein Weltbild bietet, das
noch dem stumpfsten Pferdeknecht und dem wüstesten
Zuhälter einleuchtet, das allein macht den ungeheuren
Erfolg — aber das auch die furchtbare Gefahr der Film-
dramatik aus.

Aber wiederum bedeutet es ein Verkennen der Wirk-
lichkeit und diesmal der ästhetischen, wenn man behauptet,
dieser Stand der Filmdramatik sei nur momentan und
relativ zufällig und er könne gehoben werden. Hier
offenbart sich eine tiefe Verkennung dessen, was an
dramatischer Kunst Kunst ist; niemals nämlich die An-
ordnung einer Reihe von aufregenden Vorgängen,
sondern stets das Symbolhaftwerden dieser Vorgänge,
die Enthüllung einer irgendwie geistigen Leidenschaft,
eines persönlichen Verhältnisses zur Welt durch die Vor-
gänge hindurch. Diejenige Nuancierung, Nhythmisic-
rung, Durchgeistigung aber, die den dargestellten Hand-
lungen eine solche Transparenz gibt, ist immer nur
durch das Wort, das Werkzeug des Dichters, zu erreichen.
Die Pantomime bereits ist im dramatischen Sinne
immer ein rohes und wertloses Produkt, und wenn ihr
allgemein künstlerisch Qualitäten zukommen, so sind dies
Qualitäten der reinen Körperkunst, der Tanzkunst, so
steht die Schönheit der darstellenden Gebärden im Vorder-
grund, und der dargestellte Vorgang tritt als ganz irre-
levant zurück. Das Filmschauspiel aber bedeutet sozusagen
die körperlose Pantomime. Hier ist weder die
Möglichkeit noch die Absicht, den Rhythmus schöner
Körperbewegungen zur Geltung zu bringen, hier soll das
rohe Handlungssubstrat, von keinem Geist geadelt, von
keiner körperlichen Kultur entschuldigt, wirkcn; und es
muß deshalb etwas durch und durch Beziehungsloses,
Bedeutungsloses, „Unsymbolisches" entstehen, etwas, daö
sich in keinem Fall über das Niveau eines Aeitungs-
berichts erheben kann — Kolportage. Aur Kolportage
wird diese Folge geschüttelter Fäuste, geweinter Tranen,
gezückter Dolche, geschwellter Umarmungen, gekreuzter
Klingen, spukender Geister, selbstmörderischer Wasser-
sprünge und nachdenklicher Gebärden, auch wenn sie
sich zufällig an der Handlungsfolge von Shakespeares
„Hamlet" orientiert! Ja, dann — und wir haben den
„Hamlet" und die „Jlias" und die „Göttliche Komödie"
schaudernd auf dem Filni erlebt — ist die Sache nur noch
schlimmer: sür den Gebildeten, weil ihm eine große Er-
innerung befleckt wird, für den Ungebildeten, weil ihm
eine vollkommene Roheit trügerisch durch einen großen
Namen gedeckt wird. Solange die Dramaturgie des
Kinematographen also auf den Wegen dramatischer
Ambition wandelt, ist das Niveau ihrer Darbietungen
durch keine Stofswahl und durch keine Ausführungsart
zu heben. (Denn auch gute Schauspieler werden inner-
halb von Filmpantomimen höchstens Geschicklichkeits-
proben und nie dcn wirklich künstlerischen Effekt geben
können, der bei ihnen einzig aus dem unreproduzier-
baren Anhauch einer voll lebendigen Menschennatur sich
ergibt.)

Und es ist deshalb wiederum ein Nichtsehen der
Wirklichkeit, zu behaupten, daß ein gut Teil unserer
Bühnen ja mit den Kinodarbictungcn auf einem Niveau
stände. Das Menschenwort trägt noch in seiner dümmsten,
slachsten, konventionellsten Anwendung einen letzten
Hauch des Geistes, der Kultur, der Seelenkraft mit sich,
die es einmal geschaffen hat; noch der primitivste Dialog
bedeutet der rohen Pantomime gegenüber eine unend-
liche Verfeinerung und Komplizierung aller Motive;
noch der ärmlichste Vorstadtschauspieler besitzt in seiner
 
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