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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 22.1912

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Heft 9
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Lissauer, Ernst: Kritische Wirksamkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.26494#0344

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Kritische Wirksamkeit.

Kaiserlichen Burgtheaters in der „Neuen Freien Presse"
beurteilt. „Drei Schauspielergenerationen" — so sagt
die Einleitung — „sind an ihm vorübergegangen": die
um Schreyvogcl, die um Laube, die Modernen. Er
hat die Kontinuität der Anschauung und damit eine
ungemeine Fülle: er hat im weitesten Umfange die
Möglichkeit des Vergleichens. Wenn, von asthetischer
Bcgabung abgesehen, der Kritiker durchaus auch
historischer Kenntnisse bedarf, so gewann Speidel mehr
als Kenntnisse: weil er so lange an der einen Stelle
wirkte, speicherte er Geschichte in sich auf. Er >var
sich dessen bewußt; als er 1880 das Münchner Ge-
famtgastspiel unter Possart abfallig besprach und von
der Münchner Kritik deshalb angegriffen wurde, ver-
glich er in der Antwort die Münchner Hofbühne und
das Burgtheater, und dabei erwähnt er: „Das Burg-
theater kenne ich länger als fünfundzwanzig Jahre."
Jmmer und immer kommt diese Fülle der Anschau-
uung seinen Arbeiten zugute. Er mißt die Künstler an-
einander, die Aiegler und die Wolter, Salvini und
Rossi, Anschütz und Förster. Er vergleicht sein Urteil
mit dem, das er zwei Jahrzehnte zuvor ausgesprochen
hat, und umgrenzt damit auf die sinnfälligste Weise den
Weg des dargestellten Künstlers. Die Kritik einer Neu-
einstudierung des „Lear" wird von selbst zu einer theater-
geschichtlichen Studie „König Lear im Burgtheater",
in der er die Darstellung von Anschütz, Wagner, Förster
skizziert, ehe er von dem neuesten Schauspieler Hollen-
stein spricht. Er erkennt am Burgtheater eine fort-
währende Übertragung der Kräfte, eine Seelenwande-
rung von Generation zu Generation. Die Tradition
des Burgtheaters ist in ihm verkörpcrt und aufbewahrt.

Jmmer steht die Vergangenheit und die Aukunft
des Burgtheaters vor seinem inneren Blick. Er kritisiert
nicht losgelöst von Aeit und Raum, sondern im Hinblick
auf die besonderen Bedingungen des Vurgtheaters:
seine Kritik ist gewissermaßen eine angewandte Kunst,
und sie wirkte, sie wurde „angewandt". Man merkt
allen seinen Außerungen an, daß sie im Bewußtscin
einer weiten Resonanz und im Gefühl eines ur-
teilenden Amtes geschrieben sind. „Die Wiener Kritik
ist nicht das Echo von Schauspielermeinungen, sondern
eine öffentliche Macht, die im gegebenen
Falle gutes oder schlechtes Wetter macht."
Es ist bedeutsam, mit welchem Akzent cr das Wort
„Urteil" gebraucht. Ein großer Teil der niodernen Kritik
hat ja vorübergehend überhaupt das Urteilen ver-
fchworen und sich mit Refleren und Jmpressionen be-
gnügt. Für Speidel ist das Urteil der Kern der Kritik,
eine nicht nur ästhetische, sondern auch ethische Handlung:
„Auin Urteil wird man erzogen wie zum Sittlichen."
Der Kritiker ist für ihn nicht ein Gegner oder Outsider
des Theaters, sondern ein eingeborener Teil des theatra-
lischen Organismus, eine gleichberechtigte dritte Macht
neben Jntendanz und Künstlern: er nimmt „eine
Gentlemanstellung ein, die von den Schauspielern
und von den leitenden Häuptern der Bühne respektiert
wird".

Speidel überschätzte seine Stellung nicht. Jm Gegen-
satz zum heutigen blöden Prinzip der Nachtkritik erlaubte
er sich, die Leser mehrere Tage auf die Kritik warten zu

lassen: er schrieb schwer und sorgsam und wußte, daß
solche Arbeit Aeit braucht. Und ein anderes Beispiel.
Jn dem Bande ist auch einer der zertrümmernden Artikel
über Ferdinand Bonn aufgenommen, der mit den Wor-
ten schließt: „Falsche künstlerische Richtungen ab- und
auszustoßen, hat das Burgtheater noch immer Kraft ge-
nug." Und Bonn hat selbst in Erinnerungen erzahlt, daß
ihm der Jntendant gesagt habe: „Wenn Herr Speidel
Sie noch einmal schlecht rezensiert, müssen Sie gehn."

Absichtlich spreche ich in diesem Ausammenhange
nicht ausführlich von den persönlichen Vorzügen Speidels;
mir kommt es nicht so sehr auf eine Würdigung seiner
Leistungen an, als auf die Stellung, die er sich schuf, und
auf die Art seines Wirkens. Es ist selbstverständlich, daß
für eine derartige Auffassung des kritischen Amtes ein
kritisches Urtalent vorausgesetzt wird. Speidel war nicht
nur ein gediegener, prägnanter Stilist, sondern er besaß
eine natürliche Gabe, mimische Dinge zn 'erspähen,
anzuschauen und aufzubewahren. Er hatte ein scharfes,
ein nrimisches Gehör für jene eigentlichste Kraft des
Schauspielers, die er vortrefflich „körperliche Bered-
samkeit" nennt. Uberall beschreibt er das Außere der
Schauspieler: Wuchs, Haar, Haut, Hände, Stirne,
Nase, Mund, Gebiß; die Variationen des Schrittes und
Ganges, die wechselnden Stellungen der Beine werden
in die Betrachtung einbezogen^ Erfahrungen einer
mimischen Anatomie schimmern manchmal auf. Ange-
borene Fülle der zuschauenden Kraft ist gesteigert eben
durch die Fülle der langen kontinuierlichen Anschauung
an ein und derselben Stelle. Urteil über szenische
Leistungen ist ihm kein Ding, das sich aus den Fingern
saugen läßt, es will vielmehr angeregt, erlebt, erfahren
fein.

Daß Speidels Wirksamkeit so ungemein voll und reich
wurde, dazu kamen günstige Umstände zusaminen.
Ein Kritiker von reicher Begabung und Fähigkeit,
Tradition zu erleben, wurde gestellt vor eine Szene,
die eine lange Tradition hinter sich hat. „Jn München
einzelne, vereinzelte Talente," sagt Speidel einmal,
„das Burgtheater selbst ein Talent." Jn diesem Sinne
nennt er seine Kritik „eine Schülerin des Burgtheaters".
Durch diese Gunst der Umstände wurde Speidels kritische
Stellung vorbildlich. Nichts hindert aber, aus diefem
besonderen Vorgang und Beispiel das Allgemeine zu
entnehmen, wie es zuvor angedeutet ward. Bei Speidel
findet sich vielfach eine betonte Ablehnung alles Mechani-
fchen, „mechanisch" ist eines seiner stärksten Tadelworte:
organisch war seine gesamte kritische Wirkung in
dieseni langwährenden Verhaltnis zur organischen Ent-
wicklung einer Szene. Und eben dies ist es, was wir
brauchen: organische Kritik auf allen Gebieten. Deren
erste Voraussetzung ist aber die Einheitlichkeit. Alles
öffentliche Sprechen ist eine überpersönliche, eine
repräsentative Angelegenheit. Die vielen einzelneu
Jndividuen, die an den Blättern kommen und gehen,
können diese überpersönliche Dynamik und Akustik
gar nicht erlangen, wcil hierzu Ieit gehört: währende,
organische Fühlung mit der Leserschaft. Nur so kann
die Kritik das gewinnen, was einzig und allein Sinn,
Wesen, einzige Berechtigung ihrer Eristenz ist: Autorität.

Ernst Lissauer.
 
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