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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 22.1912

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Heft 10
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Schmidt, Hans: Architektonische Reise-Eindrücke in England, 1: das alte London
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https://doi.org/10.11588/diglit.26494#0383

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Architektonische Reise-Eindrücke in Ciuiland.

Mir wenigstens ging es so. Nnch dieser Frist von
einigen Tagen fing ich an, mir all diese neuen Dinge
klar zu machen und in meiner Weise mir anzueignen.
Besonders die City bietet überraschende Erlebnisse:
z. B. man geht umher ganz erfüllt von Bewunderung
für die Lebhaftigkeit des nrodernen geschäftlichen Trei-
bens. Da steht an der Straße eine kleine Kapelle. Man
tritt ein und ist erstaunt, einen alten gotischen Raum
zu finden: obwohl dunkel und geschwärzt durch die
Jahrhunderte in dem alten Zustand erhalten, durch
lange Fenster dämmerhaft beleuchtet: von einer unge-
ahnten Stimmungsgewalt. Mitten in der Nüchternhcit
moderner Lebensauffassung,' in dem Hasten nach Geld,
in dem Wunsch: ,,to iwrcks inoiis^" diese Enklaven
einer längst vergangenen, ganz anderen Weltanschauung,
die sich in merkwürdiger Unberührtheit erhalten haben;
indem sie einem gleichsam in konzentrierter Form das
Wesen einer anderen Aeit vor die Seele stellen, machen
sie die eigene merkwürdig deutlich bewußt. Seltsam
betroffen in Gedanken wandelt man weiter. Dies Er-
lebnis kann man in der City oft haben. Die schönste
und größte der hier zerstreuten Kapellen, der Temple
— ursprünglich Ordenshaus der Tempelritter — nimmt
ein durch die schönen Verhältnisse seines Rundbaues und
die organische Überleitung in die dreischiffige Halle.
Die bronzenen Sarkophagfiguren der alten Ritter, das
schöne Material der Marmorsäulen, die ganze Raum-
anlage in ihrer ernsten, beinahe feierlichen Traulichkeit
laden ein zum Verweilen und verlohnten ein eingehen-
deres Studium, als es mir meine Aeit erlaubte.

Der Temple-Kompler birgt auch ein gutes Beispiel
jener schönen alten Bankettsäle: rechteckiger hoher
Raum mit offener freitragender Holzdecke; die Wände
bis zu einem Drittel vertäfelt in einfacher dunkler
Eichenkassetierung; in der darüberliegenden weiß ge-
putzten Wand sitzen die langen gotischen Fenster; auf-
fallend ist vorn am Ende der Längswand ein hoher,
reich ausgebildeter Erker. Die gleiche Anordnung und
Ausbildung zeigen alle alten englischen Säle, wie die
in den Colleges zu Orford, der in Hampton Court, wo
die Vertäfelung ersetzt ist durch Gobelins und ähnlich die
bekannte Westminster Hall am Parlamentshause. Unser
Saal führt uns in die Zeiten der Königin Elisabeth
zurück; hier soll „Was Jhr wollt" zu Shakespeares Leb-
zeiten aufgeführt worden sein; und hier steht auch der
Tisch, an dem Elisabeth das Todesurteil der Maria Stuart
unterzeichnet haben soll.

Das bedeutendste Denkmal der gotischen Aeit, die
Westminsterabtei — im Grundriß ein lateinisches Kreuz
mit dreiteiligen Schiffen und einem südlich angeglieder-
ten Kloster — überrascht weniger durch gewaltige
Dimensionen und schöne Einheitlichkeit des Außeren als
durch das Aussehen und die Aweckbestimmung des Jnnern:
ein Nichtunterrichteter müßte recht erstaunt sein, an
Stelle eines erhabenen feierlichen Doms von rein kirch-
licher Stimmung eine förmliche Ruhmeshalle vorzufinden.
An allen Pfcilern, in unzähligen Nischen und Seiten-
kapellen treten einem die Standbilder, Sarkophage,
Grabplatten entgegen von alten Engländern, die als
Staatsmänner, Soldaten, Künstler oder Gelehrte sich
um das Wohl und den Ruhm des Vaterlandes verdient

gemacht haben. Jm Chor und in eigenen großen Seiten-
kapellen ruhen die verstorbenen Könige und Königinnen;
Elisabeth und Maria Stuart liegen sich friedlich gegen-
über. Die grauen alten Schiffe geben einen wohl-
gelungenen Hintergrund ab für die vielen Statuen,
deren Hauptzahl wohl nicht künstlerisch bedeutend ist.
Eine gute Jdee, Gottesdienst zu halten inmitten der
Geister jener Ahnen, die das Vaterland gefördert haben.
Und eine echt englische Jdee dazu. Man wird beim Be-
trachten dieses Ortes den Gedanken nicht los, wie glück-
lich die Geschichte des englischen Volkes ist. Seine Ent-
wicklung war von ständiger großer Einheitlichkeit, sodaß
es möglich wurde, eine allgemeine Ruhmeshalle zu
schaffen, ein lebendiger Besitz des ganzen Volkes zu-
gleich; eine bedeutende Stätte, deren Namen allein
in einem Engländer nicht nur die Ahnung tiefer reli-
giöser Empfindungen anklingen läßt, sondern zugleich
die Vorstellung einer großen nationalen Ausammen-
gehörigkeit auslöst. Wer denkt hier nicht schmerzlich an
die Vielgestaltigkeit Deutschlands?

Formal besonders beachtenswert sind einige spat
angebaute gotische Kapellen, deutliche Beispiele jener
kunstreich gehäuften Vertikalen der spätgotischen eng-
lischen Zeit, wie sie auch in den Kapellen von Windsor
Castle, in der Eton-Schule oder in Orford zu hoher Voll-
endung ausgebildet sind. Hier, in der Kapelle Hein-
richs VIII.,vereinigen sie sich in derDecke zu einem feinen
fächerförmigen Netz, um schließlich in einen zapfenartig
herabhängenden Schlußstein zu münden. Obwohl un-
konstruktiv — an Stelle des herabhängenden Aapfens
könnte man eine Säule erwarten — bilden sie ein
interessantes, ja phantastisches Ornament, nmten aber
doch wie Spielereien an. Hier verwischen sich die Grenzen
zwischen Kunstwerk und Kunststück.

Lebensvoller ist in dem alten Kloster nebenan das
„Chapterhaus", ehemals Kapitelsaal, dann jahrhunderte-
lang als „House of Communs" benutzt; ein großer acht-
eckiger Raum, dessen Gewölbe sich auf einer Mittel-
säule vereinigen. Auf sechs Seiten flutet das Licht durch
große hohe Fenster herein, ringsuni zieht sich eine
steinerne Bank. Die freien klaren Verhältnisse dieses
Saales zusammen mit dem Lichteinfall erzeugen einen
Rhythmus, der gleichsam den Rhythmus des eigenen
Lebens anklingen läßt; der einen in wohltuenden Ein-
klang mit sich selbst bringt, sodaß man nur ungern
wieder ins Freie tritt.

Am wenigsten konnte ich ein Verhältnis gewinnen
zu den alten gotischen Schlössern, wie Hampton Court
und auch dem St. James-Palast in London, dem ehe-
maligen Königspalast, der in manchen Shakespeareschen
Stücken den Hintergrund abgibt. Dunkle Backstein-
massen mit Ainnen von schweren Verhältnissen, die auf
einen Mann vom Kontinent, der womöglich durch die
Heiterkeit süddeutscher Städte verwöhnt ist, nur einen
bedrückenden, unangenehmen Eindruck machen. Schloß
Windsor ist zu sehr renoviert, um als Beispiel heran-
gezogen zu werden. Da ist aber Orford fast eine ganz
gotische Stadt: unzählige alte Colleges, die meisten
gotisch; viele schöne, interessante und bedeutende Türme,
äußerst reizvolle Höfe mit Rasengrund, wundervolle
Parks; aber die Gesamtheit dieser gotischen Formen
 
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