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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 22.1912

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Heft 11
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Hansen, Margret: Weiße Flammen
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Becker, Franz Karl: Der Totensee
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[Notizen und Besprechungen]
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https://doi.org/10.11588/diglit.26494#0429

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festgesetzt, daß sie großen, weißen Federn glichen. Die
Linie der Hügcl zog silbern am Himmel hin. Ja, es
war eine Pracht, wie sie kein Frühling mit allen Blüten,
kein leuchtender Sommertag, und nicht der Herbst in
seiner Glut hat. Jmmer herrlicher schmückte der Winter
die schlafende Erde. Um die vierte Nachmittagsstunde
ging die rote Sonne hinter einer weißxn, seenhaften
Welt hinab und überstrahlte die Felder und die schinnnern-
den Bäume mit rosenrotem Feuer. Eine große Rein-
hcit und Unberührtheit lag auf dem Angesicht der
schönen Erde. Und während ich über den klingenden
Schnee heimwärts ging von dem Grabe des so jung
Gcstorbenen, dachte ich all des schlafenden Lebens, das
der Erde Schoß hütete, auch der Tote schien mir nicht
anders als ein Samenkorn, das wir ihr vertraut Hatten.
Ja, und aus seinem stillen Hügel ist auch schon manch
schöner Gcdanke zu mir heraufgestiegen, als reife das
Lcben darunter weiter und teile sich mir freundlich mit."

Mit diesen Worten schlvß Mute ihre Erzählung.

Und ist es nicht, wie ich vorher sagte: sie kennt keincn
Tod. Die Erinnerung an ihr Enkelkind flicht sie in
den Kranz des Lebens, eine dunkle Blüte, abcr
doch eine Blüte, die für sie duftet und leuchtet, heute
wie gestern.

er Totensee.

Von Franz Karl Becker.

Der Herzog von Ferrara hatte Dante zu Gast ge-
laden. Als sie nun, ihrer sehr viele, eine edle und vor-
nehme Schar, scherzend und speisend bei Tisch saßen,
lehnte Dante sich auf seincm Sesscl zurück, verfiel in
Scbwcigen und sah nnt großen Augen starr ins Leere.
Die Herzogin, die neben ihm saß, bedeutete die An-
wesenden, sie mäßigten ihre Rede, weil sie vor dem
Dichter Ehrfurchl hegten.

Als er endlich aufatmete und uni sich zu sehen begann,
fragte ihn die Herzogin nach dem, was ihn so sehr bewege,
daß er die Umwelt und alles vergesse.

„Fürstin," entgegnete er, „mich hat die Erinnerung
überfallen. Als ich ein Schüler war, ward einer meiner
Mitschüler nächtlich erdolcht. Au derselben Aeit hatte
ich einen seltsamcn Traum. So oft ich an diesen Traum
denke, zerrüttet mich die Erinnerung so, daß ich alles um
mich vergesse und ganz in ihr versinke. Schmerz, namen-
los tief und furchlbar, peinigt mich. Dann sehe ich klar
in mir selbst, wie schwache Dinge wir sind, taumelnd
durch die lleine Frist unsreü Lebens, Schaum nur im
Spiel der wogenden Unendlichkcit, zertretener Staub
im Ungemessenen, Triebe, vom Grundstock einer hin-
sälligen Welt enlsprossen, genährt und wieder ab-
gerissen. Ringsum umgibt uns das unerforschte, grauen-
hafte Nichts. Fürstin, wir sind wie eine Schar, die aus
unsicblbarem Vaterhaus hervorwallt und durch Not
und Nacht hinmurmelnd die Jahrhunderte füllt. Unser
Weg ist modernde Verkündigung — starb und starb
und starb, mehr nicht."

Als er dies gesagt hatte, schauderte er auf und be-
deckte sür eine Weile seine Augen. Dann atmete er

Dcr Totensee.

schwer und erzählte den lautlos Horchenden seinen
Traum. So erzählte er:

„Jm Traum ging ich mit vielen mciner Freunde durchs
Hochgebirge. Jn dunkelgraucr Dämmerung war es,-
der Tag erlosch, der ruhige Abend sank schon. Wir eilten'
fröhlich auf dem schmalen Pfade hin, lustig singend.
Aiel war uns ein Häuslein am kühlen Rebental, wo der
Wirt uns erwartete, Lust uns lockte, dic frischausbrechende,
sorgloser Jugend.

Plötzlich, in einer Tiefe vor uns, weitgebreitet, lag
ein See. An einem öden Abhang von Geröll, darauf der
Pfad lief. Weiß lag der See, lveiß wie Wachs von
Kerzen. Rieselwellen nicht auf ihm. Schaum nicht,
Ruhe nur, träger Wogenschlag am Ufer nur.

Tote schwammen in dem See. Leichname, halb ge-
hoben, halb versunkcn, dem Gewässer schlaff im Arm.
Haar und Gewand in langen Linien gestrahnt. Frauen,
Kinder, Männer, viele, viele. Unzahlig dcnr Auge.
Ans Ufer bald gespült, bald wieder fortgerissen, dem
Hohn der Wasser preisgegeben. Oft stießen sie sich, mit
Häuptern oft sich, in Arme sich, über, unter sich. Nickten,
regten sich.

Die Schar der frohen Jugend, die mit mir war,
stand nur augcnblicks schweigend, staunend, stand und
fah. Und, seltsam! ging ganz unberührt.

Und der, Fürstin, der erdolcht ward, wie ich erzählt
habe, vor mir ging er, immer war er um mich, der neigte
fich mir zu, ich fragte ihn verwirrt: ,Sage, sieh doch,
fie regen sich, sie sprechen, regen sich, sie sprechen ja!^
Jch zerrte ihn, ich stand betäubt, mir war, als lispelten sie
untereinander. Doch er: ,Es scheint nur fo. Sie sprechen
nicht m'ehr. Ertrunkene find es. Jni Sec ertrunkenU

Und ging wie alle.

Mich trieb das Grauen niit, das unbezwingbar
dunkle Grauen mit. Nicht Lust, nicht Lachen, Sang nicht,
Labe nicht, Rast nicht mehr erquickte mich.

Und da ich wachte, mich des Traumes entschlug,
zerwühlte mich das Geschehnis noch, schlug mich die
Stimme noch: ,Sie sprechen nicht mehr. Ertrunkene
sind es. Jm See ertrunken U Mein Blut mißklang in
mir, kreischte und schrie in mir, immer raste ein Aittern
durchs Geäder mir.

Jch sah ihn vor mir, tausendmal und mehr noch,
wenn andere lachten und lebenSfroh genossen. Den
Totensee. Da vor mir. Jch sah ihn da, ich hörte, mit
Sinnen nahm ich wc hc, die in niir sind und viel heller
sind, Leichname plätschern und Gcmurmcl da und sahlc
weiße Wasser da.

Oft auch, wenn ich in die Nacht mein Auge bohrte
nach Bilderscharen, tauchend aus der Finsternis, schwarz-
hallendem Gemurmel, fah ich ihn und ward er meiner
Seele Ausbruch und Befreiung."

Als er dies, heftig in seiner Ruhe, erzählt hatte,
blickte er um sich mit lächelndem Munde, als ob cr über
sein Gebaren selbst verwundert wäre. Er sah die Blüte
und den Glanz um sich, edle und reiche Fürsten, Jugend,
schlanke, blühcnde —

Aber wo sein weltloses Auge hintraf, war es doch,
als verbrenne es alles Frohe. Scheu sahen sie zu ihm auf.
Niemand wagte, mit ihm zu reden. Niemand lobte das,
was er erzählt hatte.
 
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