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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 22.1912

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Heft 12
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Buchwald, Reinhard: Martinus Eleutherius
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https://doi.org/10.11588/diglit.26494#0455

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artimrs Eleutherms.

Jm Jahre 1482, ein Jahr vor Luthers Ge-
burt, weilte Johannes Reuchlin, siebenund-
zwanzig Jahre alt, als Geheimschreiber des Herzogs
Eberhard von Württemberg in Florenz. Dort riet
ihm der Philosoph Hermolao Barbaro, seinen Namen
ins Griechische zu übertragen; seither nannte sich der
deutsche Humanist Capnio. Gerhart von Rotterdam,
zwölf Jahre jünger als Reuchlin, latinisierte seinen
Namen schon auf der Schule in Gouda; spater fügte
er auch noch die griechische Form bei und nannte sich
Desiderius Erasmus. Und so hat jene ganze Gene-
ration, die mit den begünstigteren Jtalienern um
eine neue Kultur, ein würdiges Gegenbild des antiken
Lebens rang, bald ein schlichtes us an ihre Namen ge-
hängt, bald sie irgendwie ins Lateinische übertragen oder
aber ihnen ein griechisches Gepräge verliehen. So unter-
zeichnete auch Martin Luther oder, mit seinen Zeit-
genossen zu reden, Martinus Lutherus sich am 11. No-
vember 1517 zum ersten Male, seinen Familiennamen
sinnvoll erweiternd, als Martinus Eleutherius. Jst das
mehr als ein Spiel? Jst das wirklich die Sitte der
Renaissance? Und wenn es so ist, wie ist dies Be-
kenntnis zur Freiheit zu deuten? —

Wir dürfen jene Namensform tatsächlich als huma-
nistisch auffassen; denn abgesehen davon, daß Erasmus
und andere sie aufgegriffen haben, ist Luther mehr als
der rebellische Mönch und der Schöpfer einer neuen
Kirche. Er hat zwar die Bewegung der Renaissance
in Bahnen gelcnkt, deren geschichtlicher Ausammenhang
mit Petrarca und Pico von Mirandola oft schwer zu
erkennen und oft verkannt worden ist; aber er hat das
als ihr ausgeprägtester Vertreter im Norden getan.
Jn seiner Person fallen Reformation und germanische
Renaissance zusammen. Er, der im selben Jahre mit
Rabelais und wenige Monate vor Raffael geboren
wurde, ist ihr Aeitgenosse so gut wie Dürer, Holbein
und Cranach.

Solange man freilich im Protestantismus eine ab-
schließende Kulturerscheinung erblickte, wollte man Luther
nur als Schöpfer dieses Kirchentums und nur als Glied
der Kirchengeschichte auffassen. Auf einen ganz anderen
Standpunkt gelangt aber, wer die Kultur der Renais-
sance als dasjenige Element ansieht, das die neue Aeit
und eine heute noch lebendig fortwirkende geistige Be-
wegung eingeleitet hat, die vom kirchlichen Leben wohl
streckenweise bald ersetzt und bald bekämpft, nie aber
in ihrer inneren Energie auf die Dauer ausgeschaltet
werden konnte. Man lernt nicht nur Luthers Wirkung
auf den Verlauf der Geistesgeschichte gerechter be-
urteilen, sondern sieht auch mehr Folgerichtigkeit in der
Gestaltung seines eigenen Lebens, wenn man ihn in
diesen weiteren Rahmen zu stellen versucht.

Will man eine Jndividualität, die hoch über ihrer
Aeit steht und jeder Einordnung in ihre Umwelt zu
spotten scheint, doch zu wesentlichen Gruppen unter
den Aeitgenossen in Beziehung setzen, so fragt man un-
willkürlich zuerst, wer diesen Menschen zu sciner Ieit mit
guten Gründen für sich reklamiert hat. Da lesen wir denn
in einer Flugschrift jener Tage hintereinander Pico

von Mirandola, Reuchlin, Luther, Karlstadt, Hutteck
und Erasmus als Vorkämpfer der Wahrheit bezeichnet.
Oder Freunde, die dem Kreise des Mutianus Rufus
in Gotha a'ngehören — jenem Airkel, aus dem die
Ilpi8toIus odsowrornm virorum hervorgingen — veran-
lassen Luther, sich gleichfalls um die Freundschaft dieses
Mäcens zu bemühen. Oder Melanchthon dringt in
ihn, mit dem alten Reuchlin in Verbindung zu treten.

Wollen wir die Verwandtschaft der beiden Mächte
Reformation und Humanismus genauer durchblickcn,
brauchen wir auf keine Gesamtwürdigung der Renais-
sance auszugehen, sondern können uns auf eine Tat-
sache beschränken, die eines der wichtigsten Ergebnisse
jener geistigen Umwälzung geworden ist: die Ver-
drängung des Aristoteles durch Plato. Dies bedeutete
nicht nur die Überwindung des Mittelalters, dessen ge-
schlossenes kirchliches Lehrsystem seit Albert dem Großen
und Thomas von Aquino eine Verarbeitung von bibli-
schen Lehren mit aristotelischer Philosophie war, sondern
zugleich einen entscheidenden Wechsel im Prinzipat
zwischen zwei Geistesrichtungen, die, seit den helleni-
schen Anfängen der europäischen Kultur, nebeneinander
hergehen, indem bald die eins die andere unterjocht,
bald ein Ausgleich zwischen ihnen versucht wird. Plato
und Aristoteles sind freilich in diesem Ausammenhang
mehr als philosophische Jndividualitäten und historische
Erscheinungen; sie sind Typen der Weltanschauung.
Plato, das ist Mystik, Romantik, Naturphilosophie;
Aristoteles hingegen Systematik, Mechanismus, Dialektik.

Wenn auch die Scholastik als offizielle Kirchenlehre
rein aristotelisch war, so teilt sie darin doch nur das Schick-
sal aller philosophischen Systeme,daß nämlich die Schulen
viel einseitiger alö der Lehrer, die Nachfolger viel doktri-
narer als der erste Schöpfer sind. So finden sich denn
auch bei Albertus Magnus selbst zahlreiche platonische
und neuplatonische Elemente, an die sein Schüler
Johannes Eckhart und nach ihm die deutsche Mystik
anknüpfen konnten. Obwohl ferner Meister Eckhart
sich nie von der kirchlichen Scholastik wissentlich hat ent-
fernen wollen, wurde doch die Spaltung im Laufe eines
einzigen Jahrhunderts so groß, daß eins der letzten Werke
der Mystik, die sogenannte „Deutsche Theologie",
schließlich von Luther, der das verschollene Buch auffand,
gegen die Scholastiker ausgespielt werden konnte.
Luther ist auch sonst Erbe der Mystik; sie ist ihm vor allem
durch seinen Ordensvikar Staupitz vermittelt worden.
Er steht aber zugleich in einer zweiten platonischen und
antiaristotelischen Bewegung, deren Ursprung nicht
wie bei der Mystik in Deutschland, sondern in Jtalien
zu suchen ist.

Dort ging, reichlich 100 Jahre nach der Geburt der
Mystik, eine neue Generation gegen das Mittelalter
zum Angriffe vor. Überwindung des Mittelalters aber
bedeutete konkreter: bewußte Befreiung von der indes
verknöcherten Scholastrk, Abwendung vom Aristoteles,
wie er von der Scholastik aufgefaßt, erläutert und in ein
mittelalterliches Latein übersetzt worden war. Da boten
sich nun verschiedene Wege in die Iukunft. Entweder:
man ging über den falschen Aristoteles — cr war auf dem
Umwege über das arabische Spanien nach Jtalien ge-
kommen — zum echten Aristoteles zurück. Das taten in


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