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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 22.1912

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Heft 12
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Schmidt, Hans: Architektonische Reise-Eindrücke in England, 3: moderne Häuser und Gartenstädte
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Benn, Joachim: Bleibende Bücher
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https://doi.org/10.11588/diglit.26494#0464

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Architektomsche Reise-Eindrücke in England.

der unsymmetrischcn Verschleppung der Giebel, der will-
kürlichen Verschiebung der Massen doch recht unschön sind.

Es ist freilich festzuhalten: diese Häuser sind die Er-
gebnisse einer eigenartigen Tradition, der der „grup-
pierte" Grundriß besonders geläufig ist. Dem ent-
spricht das anscheinend geringe Bedürfnis des Eng-
länders nach rhythmischer Gebundenheit in der Archi-
tektur. Obwohl unter Beachtung dieser Verhältnisse die
Gartenstadt Hampstead als eine in England sehr glück-
liche, mustergültige Leistung betrachtet wcrden muß, die
dem Architekten große Ehre macht, ist doch eigentümlich,
wie mit jedem Besuch ihre Wirkung sich abschwächt.
Sogar von Einzelheiten wie z. B. dem nicht geschickten
Verhältnis zwischen Straßenbreite und Häuserhöhe ab-
gesehen,* werden die Häuser mit jedem Male etwas
uninteressanter, nüchterner, da man anfängt zu erkennen,
wieviel mehr der guten Wirkung von den Gärten und
den Blumen herkommt, als von der Architektur
selbst. Auch die besten Häuser, die symmetrisch und in
guten Verhältnissen aufgebaut sind — deren es im
Grund nicht viele gibt —, haben auf die Dauer etwas
Trockenes, Steriles und wenig Anregendes. Jst es ihre for-
male Ableitung aus dem Bauern- und Kleinbürgerhaus,
die ihnen noch heute ein allzu schlichtes Geprage gibt,
das verfeinertem Empfinden nicht genügt? Für Arbeiter-
oder Bauernhäuser mag dies wohl dasRichtige sein, aber
es ist die Gefahr vorhanden — und auch für uns in
Deutschland ist dies so —, daß Häuser, die ursprünglich
als soziale Hilfsmittel für unvermögende einfache
Menschen gebaut wurden, wegen ihres netten und
aparten Aussehens nun auch von bemittelten Menschen
bezogen werden, die infolge ihrer Bildrmg andere An-
sprüche an dcn geistigen Gehalt ihrer Umgebung stellen
müßten.

Das wertvollste Ergebnis meineö Besuches in Hamp-
stead war, daß ich mich von neuem an jenen Haustypus
erinnerte, der vor etwa 100 Jahren in Deutschland ge-
schaffen war: das Haus des gebildeten Mannes. Dieser
Typus, ein Kind unserer Tradition, ist belebungsfähig;
er kann ganz neu individualisiert werden und genügt
schlichten und verfeinerten Ansprüchen. Jst es nicht
weit reizvoller, dachte ich mir, mit Lisenen, Pilastern
und Säulen ein Haus zu gliedern, als mit simpeln
Giebeln, Dächern, Vor- und Rücksprüngen?

Wenn uns heute die Nachahmung des englischen
Beispiels empfohlen wird, so ist dies allenfalls verständ-
lich für den Fall, daß eine deutsche Tradition ange-
nommen ist statt einer englischen. Denn die eng-
lischen Häuser, so wie sie sind, nach Deutschland zu ver-
pflanzen, kann keinem vernünftigen Menschen einfallen.
Und gerade Muthesius hat sich immer gegen diese Zu-
mutung verwahrt. Aber immerhin bedeutete eine Ent-

^ Es wäre wohl auch zu bedenken, ob eine Stadt vom Umfange
Hampsteads nicht einen Grundplan hätte erhalten können, der noch
klarer, als dies geschehen ist, einen bestimmten Hauptgedanken in
seinem Aufbau wiedergegeben hätte: mit strenger Beziehung auf
große Achsen, bei symmetrischer Anordnung, die ja an sich nicht
öde und schematisch zu sein braucht; in der Art der Städtegrün-
dungen des 17. und 18. Jahrhunderts, deren Schönheit heute
wieder mehr und mehr crkannt wird. Die Entscheidung ist frei-
lich nur bei genauer Kenntnis des hügeligen Geländes zu treffen,
das Strenge und Geradlinigkeit erschwert. Und cs soll nicht in
Abrede gestellt werden, daß Hampstead, so wie es ist, ein Werk aus
einem Guß bedeutet, Plan und Bebauung aus demselben Geist.

wicklung in Deutschland, die der englischen genau analog
wäre, ein Aufgreifen der Tradition des Bauernhauses
eher als der des schönen Bürgerhauses, das den Grund-
riß in Rücksicht auf Wohnlichkeit und eine schöne ein-
heitliche Gesamtform zugleich entwickelt. Eine strenge
Nachfolge des englischen Beispiels erforderte die Pflege
und Anwendung des gruppierten Grundrisses
selbst. Und da gehen wir doch noch einen Schritt weiter:
wir wollen nicht nur, daß unser Haus ein Organismus
sei, sondern, daß dieser Organismus an sich schön sei.
Und damit ist die Forderung der Symmetrie und das
Arbeiten mit Achsen im Jnneren wie im Außeren von
selbst ausgesprochen.

Wir wollen einer Architektur entgegensehen, die auf
der Grundlage unserer Tradition beruhend belebt, ja
geschaffen ist von unserem Geist bis in die kleinste Einzel-
heit hinein. Die in dem Rhythmus ihrer Formen ein
Gegenbild ist zu dem Rhythmus unser selbst und unserer
Ieit; die in der straffen und energischen Gliederung
ihrer Verhältnisse die Energie und das Temperament
widerspiegelt unseres neuen deutschen Lebens, dessen
Größe und Bedeutung einem gerade im Auslande
bewußt wird. Hans Schmidt.

leibende Bücher.

Vorbemerkung:

Wer aus irgend einem praktischen Lebenskreise heraus
bei einer Gelegenheit, wo er Bücher kaufen möchte,
vielleicht zu Weihnachten, Rates braucht, wird sich am
besten an einen Fachmann wenden. Er erkennt den
Vertrauenswürdigsten daran, daß sich ihm noch in das
leidenschaftliche Lob eines Buches Kritik mischt; denn
da der Begriff der literarischen, der dichterischen Voll-
kommenheit ein idealer ist, muß noch bei jedem Werk
Grund zu Tadel bleiben. Weil der Begriff der literarischen
Vollkommenheit ein idealer ist, ist aber auch ein ab-
solutes Urteil überhaupt nicht möglich, da der kritisierende
Mensch selber ja kein Begriff sondern ein einzelner
Mensch ist! Kraft seiner Einsicht in das formale Wesen
der Dichtung kann der fachmännische Kritiker zwar die
überwiegende Mehrzahl dessen, was erscheint, von
vornherein ablehnen und das übrige staffelweise an-
ordnen: hinsichtlich deö absoluten Wertes gerade des
Besten, was er zu finden meint, kann selbst er nur noch
fragen, wie der Dichter selber auch fragt. — Die Ant-
wort gibt ihm die Aeit, die sich auch dazu wieder jeiner
bedient. Es gibt auch für den Kritiker keinen ernst-
hafteren Wertmaßstab als die Tatsache, daß unter den
Tausenden von Büchern, die ihm zu Gesicht kommen,
die schlechten seinem Gedächtnis sofort entschwinden,
während sich die guten dort halten und, sobald sie ihm
zu entschwinden drohen, so daß sie ihre stille Herrschaft
über die Seele verlieren müßten, den Wunsch wecken,
sie wieder zu lesen. Jm folgcnden soll der Versuch
gemacht werden aufzuzeichnen, was einem Einzelnen,
der seit Jahren Mühe nicht gescheut hat, seine Einsicht
in das Wesen der Wortkunst zu vertiefen, bei allen Gren-
zen seiner Jndividualität an deutschen Büchern des
letzten Jahrfünfts und darüber hinaus zunächst im Ge-
dächtnis geblieben ist; dabei macht es die heutige Organi-

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