Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Volkszeitung: Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung des ganzen badischen Unterlandes (Bezirke Heidelberg bis Wertheim) (2) — 1920

DOI Kapitel:
Nr. 121 - Nr. 130 (28. Mai - 9. Juni)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.44127#0115
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Torheiten zu warnen. Die „Freiheit" bezeichnet es als die
einmütige Ueberzcngung ihrer ganzen Partei, ohne Unter-
schied irgendwelcher Richtung, daß ein gewaltsames Vor-
gehen in der gegenwärtigen Situation die denkbar größte
ponrische Torheit wäre. Die Partei sei der Auffassung,
daß ein solches Vorgehen tatsächlich nur den Putschisten
von rechts gelegen käme, der Arbeiterbewegung aber nur
zum größten Schaden gereichen könnte.
Die Lehrer verlangen das Siretkrecht.
Kassel, 26. Mai. Die hier gestern abgehaltene außer-
ordentliche Tagung deutscher Volksschullehrerinnen, die u. a.
die Rechtsstellung der Volksschnllehrerinnen im neuen Deutsch-
land erörterte-, hat gemeinsam nut dem ebenfalls hier
tagenden Laudesbund preußischer Volksschullehrer folgenden
Beschluß gefaßt: Zur Erreichung der wirtschaftlichen Ziele
werden alle gesetzlich zulässigen Mittel zur Anwendung ge-
bracht. Zu diesen gehören auch die Arbeitsniederlegung.
E.rplsfiüttsunglülk an der Universität Münster.
Münster i. W., 27. Mai. (W.B.) Im chemischen
Laboratorium der hiesigen Universität wurden heute vor-
mittag durch eineZ Explosion beim Experimentieren
6 Studenten getötet und eine Anzahl schwer ver-
wundet.

. Ausland.
Ein Urteil französischer Sachverständigen.
Haag, 26. Mai. „Nieuwe Courant" meldet aus Paris,
daß die finanziellen Sachverständigen der Wiedergutmachungs-
kommission einen Bericht abgestrttet haben, in dem gesagt
wird, daß die wirtschaftlichen Bedingungen des Friedes-
vertrages undurchführbar sind und daß der ganze Abschnitt
des Versailler Abkommens, der sich auf die wirtschaftlichen
Bestimmungen bezieht, umgeändert werden muß.
Die Stellung des norwegischen Ministeriums
erschüttert.
Christiania, 26. Mai. (Erg. Drahtmeldung d. D.
Allg. Ztg.) Eine Ministerkrisis wird für immer wahr-
scheinlicher gehalten. Im Storthing findet die Lösung
des Konfliktes über das Wegebudget um den 10. Juni
statt. Die führenden liberalen Blätter im ganzen Lande
greifen den Staatsminister scharf wegen seiner Haltung
gegen den Vorschlag des Wegeausschusses an, eine Million
mehr für den Wegebau zu bewilligen, dem gerade jetzt
große Bedeutung für die Allgemeinheit beizumessen sei.
Lloyd George über den Völkerbund.
London, 25. Mai. (Reuter). Auf einer Völkerbund-
konferenz in Llandrindod wurde ein Brief Lloyd Georges
verlesen, worin dieser bedauert, der Konferenz nicht bei-
wohnen zu können und hinzufügt: Der Gedanke, daß der
Völkerbund erfolglos bleiben könnte, würde eine furchtbare
Aussicht eröffnen. Die einzige Möglichkeit, die dann bliebe,
wäre der Krieg, dessen zerstörende Methoden so entwickelt
worden sind, daß der Tod der Zivilisation die Folge sein
würde. Diese Aussicht ist zu furchtbar, um sie auch nur in
Erwägung zu ziehen.
Polnische Niederlage.
Berlin, 27. Mai. Die tschechischen Blätter berichten
übereinstimmend von einer abermaligen großen Nieder-
lage der Polen bei Minsk. Die SowMruppen stünden
vor den Toren der Stadt, deren Eroberung nur eine Frage
von Stunden sei. Auch westlich von Kiew entwickelten sich
dis Kämpfe für die Sowjettruppen günstig. Nach verschiedenen
Berichten soll bereits am letzten Donnerstag der Einmarsch
der Bolschewisten in Kiew erfolgt sein.
Die polnische Heeresleitung hat über den Bezirk Wilna
den Belagerungszustand verhängt und die Stadt als Kriegs-
zone erklärt.
Kopenhagen, 27. Mai. (WB.) Bei der ukrainischen
Offensive gelang es den Polen, wie Berlingske Tidende
aus Wauschau berichtet, 25000 österreichische Kriegsgefangene
zu befreien, die jetzt nach Oesterreich zurückgebracht werden
sollen. >

Bürgerkrieg zwischen Polen und Teschechen.
Teschen, 27. Mai. Im hiesigen Gebiet ist ein offener
Bürgerkrieg zischen Polen und Tschechen ausgebrochen. Seit
gestern früh tobt in der Gegend von Karwin ein Feuer-
gefechl. Nach dem Ueberfall auf die Teschener Gendarmerie-
station im Walde von Dombrau besetzten die Polen die
Schutthalde des Joachimsthaler Schachtes. Auf beiden
Seiten sind die Verluste an Toten und Verwundeten groß.
Dis Teschener Arbeiter eilten ihren Kameraden, zu Hüte
so daß mit einer weiteren Ausdehnung des Kampfes ge
rechnet werden muß.
- - ! --r -
Badischer Landtag.
Annahme verschiedener Gesetzentwürfe. — Die Sozialdemokratie für e c
finanzielle Fundierung der Gemeinden.
str. Karlsruhe, 27.
43, öffentliche Sitzung.
Präsiden: Koos eröffnet die Sitzung um 3.55 Uhr.
Auf eine kurze Anfrage des Abg. Holdermann (Den: )
Schutz des Meiner Klotzes vor Verunstaltung teilt Ministerin^' -ek:e:
Fuchs mir, dah die Negierung prüfen wird, ob durch Errichtung c>n,--
Stemdruches das Naturdild beeinträchtigt wird.
Voranschlag des Murgwerks.
Abg Habermehi (DR.) und Marum (Soz.) berichten na-
mens Ker Kommission, die Annahme des Voranschlags gemäß den Be
fchlüsicn-des Ausschusses -beantragt. — Der Voranschlag des Murgwerk,
wird einstimmig angenommen.
Abg Schöpf! e (D.R.) fragt wegen der Anfrage -bezügl. sts :
Ucbernahme der Privatbahnen an, wozu )
Abg. Marum (Soz.) bemerkt, daß Abg. Schöpfte wissen durste,
daß dieser Antrag gemäß einem von ihm selbst unterschriebenen
dem Haushaltung sausschuß überwiesen worden ist und bei den
Verhandlungen des Finanzministeriums mit der Gesellschaft noch lcü -
Einigung erzielt wurde
Notfinanzgesetz.
Abg Ma rum (Soz.) berichtet namens der Kommission übcr ha;
Notfinanzgesetz, wonach die Regierung bis zur Erlassung des Finan
gesetze; übcr die im Entwurf des Staatsvoranschlags vorgesehenen Stu.
forderungcn sachlicher Art schon jetzt verfügen kann. Die Staatsvcc-
waltunH wird ermächtigt, im Wege von Staatsanlehen die Milte! dei
allgemeinen Staatsverwaltung und des Vollzugs des Voranschläge de;
Murgwerks bi; zum Höchstbetrag von zweihundert Millionen Mark aus-
zubringen. Der Ausschutz beantragt Annahme des Notfinanzgesetzes
Das Notsinanzgefetz wirb einstimmig angenommen.
Abänderung des Vermögens- und Einkommensteuergesetzes.
Abg. Dr. Glockner (Dem.) berichtet namens der Kommission über
den Gesetzentwurf, der die Veränderung der Vermögen und Einkommen
vor Ablauf der Iahresfrist erfassen will und Pflichtige zwing!.
dem Steucrkommissar Erhöhungen und Verminderungen entsprechend zu
erklären. Wer der Verpflichtung ungeachtet, keine Steuererklärungen
eingereicht Hai, wird mit dem zehnfachen B e t r ag der hinterzogene
Steuer bestraft. Erfatzt sollen werden Erhöhungen und Verminderungen
des Einkommens um mindestens ein Fünftel und zugleich um minde-
stens 10 000 Mark und des Vermögens um mindestens ein Fünfte!
<und zugleich um mindestens 20 000 Mark. Der Ausschutz be-
antragt Annahme des Gesetzentwurfes.
Der Gesetzentwurf wird einstimmig angenommen.
Abänderung des Gesetzes über die Besteuerung des Liegenschasts- und
Betriebsvermögens im Rechnungsjahr 1920/21.
Abg. Dr. Glöckner (Dem.) berichtet namens der Kommission über
den Gesetzentwurf, der die Forterhcbung dieser Steuern regelt; es handelt
sich um ein provisorisches Gesetz. Der Abzug der Kapitalschulden ist nicht
zulässig. Der Steuersatz für die Liegenschasts- und Betriebsver-
mögen bestimmt, datz von je 100 Alk. steuerbaren Vermögens für das
Steucrjahr 1920/21 eine Steuer von 13 Pf. erhoben wird. Die Kom-
mission beantragt Annahme des Gesetzentwurfes gemäß der von ihr vor-
genommenen Aendcrung am 8 5 der Regierungsvorlage.
Einoegangen ist ein Antrag des Abg. Ma rum (Soz.), den 8 5 dec
Regierungsvorlage — die Gemeinden werden ermächtigt, nach den Vor-
schriften der Gemeinde- und Städteordnung Umlagen vom Liegen-
schafts- und Betriebsvermögen zu erheben — wieder herzustellen.
Abg. Mar u m (Soz.) begründet seinen Antrag, der die steuerzahlcn -
de» Kaufleute u. Betriebsunternehmer in den Stand setzen soll, jetzt schon
eine Ucbcrsicht über die zu zahlenden Liegenschftssteuern zu bekommen,
während sie durch die Annahme des Kommissionsvorschlages nicht in der
Lage sind, dies zu kalkulieren. Liegenschasts- und Betriebsvermögen sind
nicht geschädigt, auch wenn sie etwas höher zur Steuer herangezvgen
werden, als er der Kommissionsantrag will. Man mutz es den Gemein
den ermöglichen, die Steuern für Liegenschaften in diesem Jahre zue r-
b ö h e n, um sie aus der üblen Lage zu befreien, in der sie zur Zeit sind.
Die Annahme des Antrags liegt daher im. Interesse der Gemeinden.
Abg. Helsfrich (Ztr.): Man hätte die Forderungen des , ver -
schuldeten Hausbesihes berücksichtigen sollen; doch war man dazu nicht
in der Lage. Wenn den Gemeinden keine Grenzen gezogen werden, so
würden manche Gemcidcn den Liegcnschaftsbesitz mit Steuern überlasten.
Das Haus sollte daher dem Kommissivnsantrag zustimmen, vor allem im
Interesse der Hausbesitzer.
Minister Remmel« bittet im Interesse der Gemeinden des Lan-
des die Regierungsvorlage wieder herzustellen. Denn die Notlage der
Industricgemeinden tritt immer mehr in Erscheinung. Die Erwerbslosen-
fürsorge, die Baukostenzuschüsse belasten die Gemeinden außerordentlich
Ab 1. April hören die Gemeindeumlagen aus; ab 1. Juli erst erhalten sie
Neichszuschüsse. Sie müssen deshalb mit Bankkrediten arbeiten.. Aus

d:c den. vv.'revolutwnärrir Zustand in Deulsch'and, den allen- Obrig-
lrusltaar feiner Bevormundung c'.lrr llnie.nanen, rviedcr herbei-
führe,; wollen, und die die gehören!». Gegner von Freiheit und
Sechstee:wu.üv!tg find. Dem Treibe;! jcn<: Kveffr Huben den
Kapp-Pucs-.fi zu verdanken gehabt und sie stad es wiederum, hie
segenwär/g wühlen. o,n einen, neuen Putsch von rechts oo.'M>e-
rnlen. Herr Koos Hel scher.»Hf über die Beranrnv! r-ung dec Deüksch.
nationalen PiÄspa.'sti anläßlich desKapp-Putschest
Es kann keinem Zweifel vnfefistgen, Katz' die gesamte
Partei!e!k»n- der Deuücbna.'iookUen L^sksparte! bis ins
kleinste van dem Eka a t s st r c j ch, A r. p - L. v tL iv i tz u n ter-
richt e t war und mitKopp »ad Trauban her Vorbereitung
des Puficbes vet-iiigt war. Pflicht der Parteileitung war es,
sofort iw 10. März 1920 in aller O-ffontfichkeit die eigenen! Pkr-
telanaehöriqen zu warnen T'ne offizielle Warnung seitens
ö»r Deukschnationalen Nolkspartei hätte die Pmschiftcn wie Kapp-
Lvtnvih-Trarch rind deren Anhang unzweifelhaft abgeschreckt.
Dir deutschnatioiml.' Parteileitung war aber mit dem Herzen für
'»as Gelingen des Putsche- und anterlüch aus diesen Gefühlen
heraus jeglich» Warnung Vfn -mcyclische Verant-
wortung für den Staatsstreich Kavv-Lüttwitz und besten Aus-
wirkungen irt! ft Herat und v. Linbe' nrr, die Häup-
ter der Partei. Mag dir deufichnatioaale Parteileitung
noch so gewundene Ableugnungen Vorbringen, das Verhältnis
von Kavp nutz Traub zur P-neileitung war ein so inniges,
tv datz ohne Zweifel gnzuvehmen ffs, dah mindestens vor Traubs
Schritt — firbermchure eines Mimst«rpostens — «ine Ver-
ständigung st a k i g «? u n d « n hak. Auch waren die Per-
sonen an dem kritische;: Tage im Verkehr sich so nahe, daß jeder
Zweifel darüber schwinde!', mutz, daß Herat und v. Lin-einee
«üch!.!.- gewußt haben sollten."
(A. W. Kroschet: Das deustchnationale Gewissen.)
Diese Enki>üi!unzrn reißen der Deuffchnariorr-alen Volkspartei
tie hruchl«'isch< Maske vom Gesicht. An der deutschen Wähler-
schaft wird es am kl. /-uni liegen, dieser Partei für ihr hochberräte-
ouches Treiben, das Deutschlands kranken Wirrfchaftskörper nicht
affünd werden tasten will, die einzig richtige Antwort zu geben da-
durch, daß sie für die Kandidaten der Sozialdemokratischen Partei,
icn energischsten Feind der dculschnativnalen Volksbckriiger, stimmt.

Politische Ueberstcht.
Der Vertrag von St. Germain.
Ratifizierung durch die französische Kammer.
Paris, 27. Mai. Die Kammer hat die Ratifizierung
des Vertrages von St. Germain durch Handausheben
äuge n on: men.
Der Privat-Drahtverkehr mit dem Auslande.
Berlin, 27. Mai. Auf Veranlassung des Reichs-
finanzministeriums ist aufgrund der noch in Kraft befind-
lichen Verordnungen vom 15. November 1918 im Steuer-
interesse und aus wirtschaftlichen Gründen die Überwachung
des Privattelegrammverkehr nach dem Auslande wieder
eingeführt worden. Die Überwachung soll vor allem zur
Bekämpfung der Kapital- und Steuerflucht, wie auch zur
Durchführung des Verbots der Aus- und Durchfuhr von
Gotd und der Ausfuhr, Veräußerung und Verpfändung
ausländischer Wertpapiere nach dem Auslands dienen.
Unabhängige Warnungen.
Frau Schröder-Mahnke, vor deren Lockspitzsltäiigkeit
seit längerer Zeit die Blätter der Kommunisten und Unab-
hängigen warnen, soll, so meldet die „Hallesche Zeitung",
gestern einen Selbstmordversuch verübt haben, indem sie
Arsenik nahm. Das deutsch-nationale Blatt behauptet, Frau
Schröder habe im Dienst der Entente gestanden. Das
würde nicht hindern, daß sie daneben auch eins Lockspitzel-
läügkeit ausübts. Der ungarisch-englische Spion Lincoln
Trebitsch, der sine Zeitlang sogar das englische Par-
lament zierte, ist in Berlin offen als Agent des Ober-
sten Bauer aufgetreten und hat sich der Absichten gerühmt,
auf den: Umweg über einen sorgfältig inszenierten Kom-
müniftcnputsch dein Obersten Bauer zur Macht zu verhelfen.
Ganz im Sinne dieser Absichten scheint sich die Tätigkeit
Ser Frau Schröder-Mahnke bewegt zu haben. In ihren
Papieren wurden angeblich interessante Notizen über die
Ariedensverhandlungen in Breft-Litowsk und über die Vor-
gänge in Estland und Livland gefunden.
Wie immer man über dieses Treiben aller ntöglichen
-unklen Gestalten denken mag, so ist doch jedenfalls festzu-
stellen, daß die verantwortlichen Kreise der Linksradikalen
ihren ganzen Einfluß aufbieten, um ihre Anhänger vor
MM-«««« Ü'III MWMi
Die rote Armee.
Von Dr. L. Galin.
Zu den wichtigsten Kampfrufen der Bolschewisten, die einen unbe-
streitbaren und verständlichen Erfolg hatten, gehörte der so heiß erwartete
und ersehnte „Frieden". Und schon ztvei oder drei Tage nach der Ok-
tober-Revolution fing bas bewaffnete russische Volk eigenwillig an abzu-
rüsten. Ein schwer zu vergessendes Bild war diese Demobilisierung . . .
Alle Eisenbahnen waren in der Hand der riickslutenden Truppen, sie dik-
tierten ihre Befehle dem gesamten Bahnpersonal; wer keinen grauen
Mantel anhatte, bekam keinen Platz und wurde ohne überflüssige Worte
aus dem Wagen hinausgeworfen. Die Fensterscheiben wurden zerschla-
gen, bis Dächer der Wagen konnten die Last der sie bedeckenden feldgrauen
Passagier« nicht tragen, fie stürzten ein, Dutzende von Menschen unter
ihren Trümmern begrabend, das Gepäck wurde auf die Gleise hinaus-
befördert und die Wagen füllten sich in einem Augenblick mit Soldaten,
weiche nur nach einer baldigen Rückkehr in di« Heimat verlangten. So
zerfloß in nichts di« russische Armee, welche so viel gelitten hatte, so
stürmte ordnungslos das ..graue Vieh" zum heimatlichen Herd, alles
vernichtend, was im Wege stand.
Aber ohne bewaffnete Gewalt konnte sich auch die bolschewistische
Herfichast nicht halten, um so mehr, als Kerenski mit starken Kosaken-
abteilungen sich wieder Petersburg näherte und schon bei Gatschina stand
Schon vorher hatte sich der Kern der späteren russijckxn Armee gebildet;
er bestand aus der roten Garbe, die sich aus radikalen Arbeitern zu-
sammensetzt«, und aus kleinen, den Bolschewisten treuen Heeresabteilun-
gen, die unter dem Befehl von Trotzki und vom berüchtigten Oberst Mu-
fawiesf standen. Da; waren meist junge Leute von 19—20 Jahren,
welche voll Iugeick>eif«r zum äußersten drängten und welche diesen stür-
mischen Aufschwung mit ihrem Blut zu besiegeln bereit waren. Sie haben
viel dazu bvigctragen. die bolschewistische Macht in den Sättel zu heben,
denn das russische Bürgertum, wenig organisiert und zu keinem Wider-
stand fähig, ergab sich fast kampflos; so wurde die rote Garde zum Faktor,
welcher die neue Ordnung allerorts einsührtc. Doch bald erschienen neue
Wolken am Horizont . . . Di« flüchtigen Generäle Kor ml off und Deni-
kin organisierten den Kvsakenaufstaud im fernen Süden und entfesselten
den Bürgerkrieg. Man mußte an die Organisation regulärer Truppen
denken, da der Kaurpl im Donetzbecken ernst und langwierig zu werden
drohte. . .
Di« keltischen Landarbeiter, welche viel unter den baltischen Baronen
gelitten hatten und in der vorrevolutionären Zeit di« lettische Division
bildeten, kamen als erste auf den Ruf der Bolschewisten unter die roten
Fahnen. Eigensinnig, offen «nd entschloflen, furchtlos und einen Rest

militärischer Disziplin bewahrend, erschienen und erscheinen sie noch bis
heute als stark« Stütze, wenn nicht als Fundament der bolschewistischen
Herrschaft ... Die Feinde zeigten sich nicht nur im Süden, sondern auch
in den anderen Grenzbezirken; so wurde die Frage der regulären Armee
akut und erhielt im Februar 1918 ihre Lösung. Es wurde anerkannt, daß
die Arbeiter und Bauern selber das Werk der Arbeiter- und Bauern-
Revolution zu verteidigen hätten, und Nach einer kurzen Periode frei-
williger Rekrutierung, welche keinen großen Erfolg hatte, wurde die Mo-
bilisierung der jüngeren Jahrgänge anberaumt, und zwar nur derjenigen
Personen, „welche kein« fremde Arbeit ausbeuten". Dem Bürgertum
wurde die Ehre des Gewehrtagns nicht zugstandn, es mußte ausschließlich
zu Etappenarbeitrn verwendet werden; das Reinigen der Kasernen, der
Bau der Schützengräben und jede andere schmutzige Arbeit blieben ihm
Vorbehalten. Als dann der Bedarf nach Menschenmaterial für die rote
Armee von Tag zu Tag wuchs, veränderten die Kommunisten ihre ur-
sprüngliche Disposition und gestatteten auch dem Bürgertum und der
Intelligenz, für den Kommunismus zu sterben. So kommt es, daß heute
auf den Schlachtfeldern auch ihre erbittertsten Gegner für die dritte In-
ternationale ihr Leben lasten.
Womit man dieses machiavellistische Prinzip: das Ziel rechtfertigt die
Mittel, entschuldigen kann, ist bis auf heute «in Geheimnis seiner Erfinder
geblieben. — Die Größe der roten Armee wuchs ständig und betrug im
Oktober des vorigen Jahres nach sicherster Schätzung etwa 2^ Millionen
Menschen. In den für dir kommunistt'-Ke Herrschaft gefährlichsten Mo-
menten wurde das Prinzip: „alles für die rote Armee", unbeugsam durch-
geführt. Bei den Zivilbehörden waren all« Beamten mobilisiert und in
jeder Hauptabteilung blieben 1—2 Menschen übrig; ganze Kommissariate
wurden mit anderen zusammengeschmolzen, um das Personal an die Front
schicken zu können. Der Mobilisation auf Schleichwegen zu entgehen, ist
eine fast unerfüllbare Aufgabe, denn jeden Monat wird eine Neuunter-
fuchung der bei früheren Aufrufen für untauglich Befukidenen anbe-
raumt; auf den Straßen werden die Ausweise Tag und Nacht kontrolliert
und diejenigen, welche nicht alle Formalitäten erfüllt haben, werben ver-
haftet und zur Nachprüfung in das entsprechende Kommissariat geschleppt.
Die Deserteure wurden in den schweren Tagen des Denikinschen Vor-
marsches schonunMlvs zusammengeschosten. Man muß gleich darauf Hin-
weisen daß die Deserteure sich damals zu größeren Verbänden vereinig-
ten, die sich „grüne Armee" nannten; sie veranstalteten regelrechte Ge-
fechte mit den Regierungstruppen, sprengten die Brücken, rissen in kleinen
Städten die Gewalt an sich, machten die Etappe unsicher und bildest» so
eins schwere Sorge für die bolschewistische Herrschaft. Nur die Meldun-
gen von der Gegenseite, welche die dortigen Bauern herüberbrachten und
welche die Art der Behandlung schilderten, welcher die Bauern durch

Denikin und sein Gefolge von Gutsbesitzern ausgesetzt waren, ließ sie
reumütig in die rote Armee zurückkehren und gegen die Unterdrücker
kämpfen . . Ein Frund von mir erzählte nach seiner Rückkehr aus
Tambow, daß an einem Tag vor seinen Augen gegen 3000 Deserteure
sich im Kriegskommissariat gemelkt hatten, um ihr« sofortige Beförderung
an die Front zu verlangens So stärkte das sinnlose Behoben der Reak-
tion den Geist emd die Kampfkraft der roten Armee. Dazu führen die
Bolschewisten an der Front und in der Etappe eine an Umfang kaum zu
überbietende Agitation: längs der ganzen Front sind Agitationspunkst
verteilt, wo den roten Soldaten alle möglichen Agitationsschriften kosten-
los verabreicht -werden; Phonographen geben die Reden bekannter Führer
-wieder; in freien -Stunden finden fortdauernd Versammlungen und Un-
terredungen statt... So wird, reichlich einseitig, der dunkle russische
Bauer geistig entwickelt; «in eigenes Urteil durfte er ja bisher nie haben.
-Ts ist schwer, in einem kurzen Zeitungsartikel die gesamt« Organi-
sation der roten Armee zu schildern; einige Hauptzüge muß ich aber
erwähnen...
Sn rein militärischer Beziehung teilt sich die rote Armee in einzelne
Armeen, diese in Divisionen, die Divisionen in Regimenter (welche nach
der Stadt, wo sie ausgestellt wurden, benannt werden), die Regimenter
in Kompagnien. Bei jeder Einheit von der Kompagnie bis zur Armee
aufwärts befindet sich ein politischer Kommissär, welcher unbedingt ein
Kommunist sein muß. Er führt die kulturelle Arbeit in seiner Truppe,
überwacht ihren Geist, beobachtet die kommandierenden Personen. Die
Einrichtung der politischen Kommissäre, welche -vorwiegend aus Moskauer
und Petersburger Arbeitern bestehen, bildet jene Basis, auf der tatsäch-
lich die rote Armee steht. . . Kein Ereignis in seinem Truppenteil darf
unbemerkt an ihm vorllbergehen; er muß in enger Gemeinschaft mit die-
sem bleiben und immer in der Lage sein, die geringste Unruhe, die kleinste
Unzufriedenheit zu beseitigen indem er entweder durch sein Wort oder
durch die ihm stets zur Verfügung flehende bewaffnete Macht bei Sol-
daten beruhigt. So kann er jfi>e fremde Einwirkung an der Wurzel er-
stiaen, alle Befehle des Kommandos gehen durch ihn und erlangen nur
dann -Gültigkeit, wenn sie durch feine Unterschrift bekräftigt sind. Wäh-
rend der Schlacht hat er für den Geist feiner Truppe zu sorgen; durch
persönliche Tapferkeit und Entschlossenheit hat er den Untergebenen ein
Beispiel zu geben: das kleinste Versehen, die geringste Unvorsichtigkeit
oder Unentschlossenheit seinerseits werden auss schärfst? bestraft ... An
der Spitze jeder Armee steht der revolutionäre Kriegsrat, welcher die
gesamte politische und militärische Arbeit führt. Der revolutionäre
Kriegsrat der Armee ist dem revolutionären Kriegsrat der Front, dieser
dem revolutionären Kiegsra! der Republik unterstellt; an feiner Spitze
stebt bekanntlich Trotzki.
 
Annotationen