Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Volkszeitung: Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung des ganzen badischen Unterlandes (Bezirke Heidelberg bis Wertheim) (2) — 1920

DOI chapter:
Nr. 131 - Nr. 140 (10. Juni - 21. Juni)
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.44127#0202
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
G





Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung der Amtsbezirke Heidelberg, Wiesloch, Sinsheim, Gppingen, Eberbach, Mosbach, Buchen, Adelsheim, Boxberg
Tauberbischofsheim und Wertheim.

Heidelberg, Dienstag, Juni ^920
Nr. 13S » 2. Jahrgang

Verantwort!.: Für inneren. äußerepolItik,Dolkswirtschasiu. Feuilleton: Or.
.. für lokale-:
> in Heidelberg-
. ub.H., Heidelberg
kraße ZS.
. Mdaktion 2S48.

Bezugspreis: Monatlich elnschl. Trägerlohn 3.50 Ml. Anzeigenpreise:
Oie einspaltige Petitzelle (36 mm breit) 80 pfg., Reklame-Anzeigen
03 mm breit) 2.20 Ml. Bei Wiederholungen Nachlaß nach Tarif.
Geheimmittel-Anzeigen werden nicht ausgenommen.
Geschäftsstunden: S-'/,6 Uhr. Sprechstunden der Redaktion: 11 — 12 tlhr.
Postscheckkonto Karlsruhe Nr. 22521. Tel.-Adr. -Volkszeitung Heidelberg.

G.Kraus; für Kommunales u. soziale Rundschau: I.Kahi
O.Getbel» für die Anzeigen: H. Hoffmann, sämtlich
Druck und Verlag der Unterbadischen Verlagsanstalt G. m. o.
Geschäftsstelle > Schröderstraß
Fernsprecher : H^eMi-Annahme MA

Der russisch - polnische Krieg
und Deutschland.
Von Dr. L. Galin.
Sofort als der pomphaft angekündigte Vormarsch der polni-
schen Truppen gegen di« Ukraine durch das Eingreifen der russischen
Truppen zum Stillstand gekommen war. fing der polnische Propa-
ganda-Apparat an zu arbeiten und versuchte durch alle ihm zu-
gänglichen Mitte! zu beweisen, welche Gefahr der europäischen
Kultur von feiten der roten Armee droht, wenn Polen, dieser Vor-
posten der westlichen Zivilisation (!) und Kultur unter den Schlägen
dieser Armee zusammenbrechen sollte; vor allem wurde dann auf
die gefährliche Lage hingewiesen, in die das benachbarte Deutschland
in einem solchen Fall geraten würde. Und siehe, eine Reihe deut-
scher Politiker und sogar einige Regierungskreise (Bayern) verfielen
Ach-ttzläub-ig der Hypnose der polnischen Propaganda, nahmen die
Liebenswürdigkeit und die plötzlich erwachte nachbarliche Sorge der
Polen für bare Münze und schlugen Alarm wegen der Gefahr eines
weiteren Vormarsches der roten Armee gegen Polen. Mit Ver-
blüffung beobachten wir, wie einige deutsche Publizisten mit einem
einer besseren Sache würdigen Eifer einander den Rang absagen
und ihre Köpfe über einer neuen, rein künstlich im Interesse gewisser
.Kreise konstruierten Preisausgabe zerbrechen, nämlich über der Frage,
wllche Gefahr Deutschland und insbesondere Ostpreussen droht,
weiW die Bolschewisten in Verfolgung der geschlagenen Polen an
die deutsche Grenze kommen sollten. Werden dann die Bolsche-
wisten an der Grenze Halt machen oder brechen sie in das Land
ein, um gemeinsam mit den hiesigen Kommunisten die Sowjet-
diktatur auszurichten und die wirtschaftlichen Kräfte Deutschlands
zu einem Aufbau ihres verarmten Landes auszunützsn? Heiss-
sporne aus der Reihe vielleicht ehrlicher, aber nicht sehr weitblicken-
der Politiker und sehr kälte und berechnende Anhänger der Reak-
lion und des Militarismus verlangen unverzüglick>e und enischeidev.de
Massnahmen zur Abwendung dieser drohenden Gefahr. Wenn ich
diese Zeilen schreibe, so geschieht das nicht, um die Wachsamkeit des
deutschen Volkes einzuschläfern, welches nur nebelhaft über das
ungeheuerliche russische Durcheinander — die Folge der bolschewisti-
schen Experimente — unterrichtet ist und welches daher unwillkür-
lich in Entsetzen gerät beim Gedanken, dass ein ähnliches Schicksal
seinem Vaterlande beschieden sein sollte; mir liegt vielmehr daran,
bas befreundete deutsche Volk vor einem neuen
Baltikumabenteuer zu warnen. Denn was anderes
als ein Daltikumabenteuer ist das Verlangen reaktionärer Kreise
nach einer Verstärkung der Truppen an, der Ostgrenze; ein geschickt
ausstaffiertes Verlangen, welches sie zu ihren Zwecken gut ausnützen
verben? Ich schreibe diese Zeilen, weil die Gefahr des Bolschewis-
uus in diesem Fall in provokatorischer Absicht übertrieben wird
and weil bei einer längeren Lebensdauer diese furchtbare Idee Hern
pureren freundschaftlichen V e r k c h r z w i s ch e n D e u t s ch l a n d
and Russland schaden könnte, einem Verkehr, der für die Gr-
ündung beider Länder eine Lebensnotwendigkeit darstellt und der
» dem Verfasser nicht erst von heute ab einen Verfechter findet.
Per sich zu den Freunden der deutschen Demokratie zählt, welcher
n dieser Frage zweifellos eine Gefahr droht, wer die vitale Not-
wendigkeit der freundlichen Zusammenarbeit dieser beiden im Grunde
ne verfeindet gewesenen Völker — des deutschen und des russischen
— versteht, der hat meines Erachtens die Pflicht, den Sinn und die
Bedeutung des gegenwärtigen russisch-polnischen Krieges Verständ-
lich zu machen, etwas Licht auf seinen Ursprung und seine treibenden
Kräfte zu werfen und zur sachgemässen Aufklärung bcizutragen.
Wenn das 'deutsche Volk den Sinn dieses Krieges begreifen würde,
so wäre ihm das eine Anregung, um in die Bedeutung aller dieser
Ereignisse cinzudringen, statt auf das Geschrei politischer Aden
teurer zu hören. Damit wäre aber der erste und wichtigste Schritt
zur Annäherung zwischen Deutschland und Russland getan.
In dem durch den Versailler Vertrag ausgestellten System der
„B al k a n is i e r u n g", d. h. der politischen Zersplitterung starker
Mächte einerseits und der Aufstellung kleiner politischer Gewichts-
einheiten anderseits nimmt Polen einen bestimmten und sehr be-
zeichnenden Platz ein. Das politische Interesse Frankreichs, sein
angebliches Prestige, der Gedankenkreis seiner Führer endlich bindet
Polen die Rolle eines Bundesgenossen Frankreichs im kommenden
Krieg mit Deutschland auf, und zwar die eines durchaus nicht pas-
siven, sondern sehr tätigen Bundesgenossen; die gegenwärtig herr-
schenden imperialistischen und nationalistischen Kreise Warschaus,
deren geistige Verwandtschaft mit den gleichen Kreisen in Paris
recht eng ist, verhalten sich zustimmend zu diesem Plan. Im Zu-
ammrnhang damit muss Polen dasjenige Element bilden, weiches
die Annäherung grosser Länder Hintertreiben soll, wie solche im
Osten in Gestalt Russlands, im Mitteleuropa in Gepalt
Deutschlands vorliegen (der polnische Korridor). Und so bil-
det man denn in Versailles ein Polen nicht jener Art, wie es inner-
halb seiner etnographischen Grenzen von allen Freunden der pol-
lischen Staatlichkeit gedacht wurde, sondern etwas Geflicktes. Hyper-
rophisches und Unbestimmtes, welches in der Sprache der Imperien
asten irgend warum den Namen des „grossen" erhält, in Wahrheit
aber alle Zeichen der Schwäche und des Verfalles ausweist. In
der Tat wurde die Verschiedenheit zwischen Galizien, Posen und
dem ehemaligen Königreich Polen bald so deutlich, daß Forderun-
gen nach einer Autonomie für die kulturell höherstehenden Landes-
seile austauchien; ich schweige dabei von her. 'Verschiedenheit der
sozialen Lebensart des Lodzer Arbeiters erstens, des Landarbeiters
Wrstgaliziens und des landbesitzenden Farmers Westpreussens zwec-
kens und des podalen Magnaten russtsch-Polens drittens. Die
Abwesenheit eines inneren Bandes, die innerpolitischen Divergenzen,
endlich die Hoffnungslosigkeit der wirtschaftlichen Lage hätten, so
sollte man meinen, auch die verstiegensten Imperialisten zur Ver-
nunft bringen sollen. Doch Frankreich übertrug an Polen bas
Ehrenamt des Gerichtsvollziehers, welcher die Forderunaen ssan-

Dr. Trimborn mit der Kabinettsbildung
beauftragt.
Berlin, 14. Juni. Der Reichspräsident hatte heute vor-
mittag mit dem Abgeordneten der Zentrumspartei, Geheimrat Dr.
Trimborn, eine längere Besprechung, in deren Verlauf Trimborn
die grossen Schwierigkeiten der Bildung des Kabinetts betonte. Der
Reichspräsident ersuchte Trimborn unter Hinweis auf den Ernst der
Situation, gleichwohl die Kabinettsbildung zu übernehmen. Trim-
born übernahm daraus den Auftrag.
Eins Lösung?
Berlin, 15. Juni. Der mit der KabineitsbilduW betraute
Herr Trimborn setzte sich zunächst mit den UnterhMstern oer
Sozialdemokraten, den Herren Müller und Lobe, in Verbin-
dung unb fragte sie, wie der „Vorwärts" berichtet, ob sie einer nach
rechts erweiterten Koalition beitreten tonnten, wenn das
Zentrum darin die Führung übernehme. Nach der Verneinung
wandle er sich einer zweiten Kombination zu, die mit
Einschluss der Bayerischen Volkspartei 243 Mandate zusammenfasfen
würde. Herr Löbe erwiderte, Sass die sozialdemokratische Fraktion
auch dann nicht teiluehinc n könne. Herr Müller führte dar-
auf aus, eine von solch gerii^er Mehrheit getragene Regierüng werde
nicht mit der nötige» Autorität nach Spaa gehen können. Darauf
erwiderte Herr Trimborn, es gebe noch eine dritte Möglichkeit, ein
Block der Mitte aus Demokraten, Zentrum und
Deutsche Volkspartei besteher-d. Er könne zwar nur 188
Abgeordnete aufnehmen, vielleicht aber auf wohlwollende Neutrali-
tät der Nachbarparteien rechnen. Die Sozialdemokratie wünfche
doch auch ein regierungsfähiges Kabinett und dürfe eine solche Re-
gierung nicht schroff ablehnen. Sie könne ja auch einen Fachminister
als Sicherheitswache im Kabinett zulassen. Ein allen genehmer
Reichskanzler sei vielleicht in Herrn Fehrenbach zu gewinnen.
Besonders hrrvortretende Vertreter des Großkapitals und
des A l l d e u L f ch t u m s würden in einem solchen Kabinett nicht
enthalten jein. Da die sozialdemokratische Fraktion zu einer
solche» Koalition noch nicht Steilung ge«y«.me» hat, mussten ihre
Vertreter, wie der „Vorwärts" berichtet, ihre Stellungnahme ver-
tagen. Genosse Müller habe aber im voraus versichert, dass
eine solche Koalition von der sozialdemokratischen Fraktion nach
ihren Taten beurteilt werden müsse mch jeder Versuch, aus-
wärtige Politik nach dem Rezept der Deutschen Vvlksxartei zu trei-
be», aufs schärfste bekämpft werden müsste. Der „Vorwärts" über-
schreibt sichren Bericht: Keine Aussicht auf Lösung mch jagt, auch der
wester abliegende Plan, die Koalition aller bürgerlichen Parteien
noch einmal in Erwägung zu ziehen, werde kaum grössere Aussicht
aus Erfolg haben.
Sozialdemokratischer Wahlsieg in Mecklenburg.
Rostock, 14. Ium. Vorläufiges Landtagswahl-
ergebnis in den Mecklenburgischen Städten mit Aus-
nahme des noch ausstehenden Ergebnisses von Dönitz:
Deutschnationale 42909 Stimmen und 9 Sitze, Deutschs
Volkspartei 43379 und 9, Wirtschaftsbund 13072 und 3,
Demokraten 18182 und 3, Mehrheitssozialdemokraten 77230
und IS, Unabhängige 29629 und 6, Kommunisten 10004
Stimmen und 2 Sitze.
Der rusfisch-Polnifrye Krieg.
Warschau, 23. Juni. Der polnische Heeresbericht
meldet: Auf der Nordfront bei dem Dorfe Dinas lebhafte
Erkundunqsgefeckte. An der Austa und Beresina herrschte
Ruhe. In der Ukraine haben sich unsere Truppen befehls-
gemäß auf die neue Verteidigungslinie zurückgezogen und
sangen au, Kiew nach Zerstörung der Brücken zu räumen.
Die Umgruppierung hat sich in vollkommener Ruhe voll-
zogen. Der Feind griff unsere Nachhuten an, wurde aber
mit großen Verlusten abgeschlagen.
Amsterdam, 18. Juni. Eine drahtlose Moskauer
Meldung besagt: Die roten Truppen besetzten Kiew. Vor
der Räumung sprengten die Polen die Wladimir-Kathedrale,
die Eisenbahnstationen, das Elektrizitätswerk und die Wasser-
leitung. Diese Maßnahme sei durch keinerlei militärische
Notwendigkeit begründet und habe die Stadt der Gefahr
schwerer epidemischer Krankheiten ausgesetzt.
Sowjetregierrmg in Persien?
Amsterdam, 16. Juni. Die „Times" berichten aus
Teheran vom 10. ds. Mts., Kntschitz Khon entschied sich nach
einigem Schwanken für den Leninismus und rief sich selbst
in Rjescht zum Ministerpräsidenten und Kriegsmimster
der persischen Sowjetregierung aus. Das deutsche Konsu-
lat in Täbris wird einem Bericht zufolge immer belagert.
Geueral Haldaue, Oberbefehlshaber in Mefopotanien ist in
Teheran eingetroffen.
Rotterdam, 14. Juni. Der persische Minister des
Äußeren Prinz Feruz sagte nach einer Londoner Meldung
in einem Interview, die letzten Berichte aus Persien besagten,
daß die Bolschewisten in der Gegend von Rjescht von neuem
vordringen und bolschewistische Agenten eine Steitmächt in
Turkestan organisierten, die zu einem Einfall in Persien und
Afganistan bestimmt seien. Persien wünsche ein Blutver-
gießen zu vermelden und setzte deshalb die Verhandlungen
mit den Bolschewisten fort, habe aber gleichzeitig die An-
aeleaenheit dem Völkerbundsrat unterbreitet.

zvsischer Rentner in Russland einlvftn sollte, ferner auch die Rolle
eines politischen Gendarmen, welcher Europa vor dem russischen
Bolschewismus behüten sollte und unter diefem Vorwand wurde
das autzgesogene polnische Volk gegen seine Streiter geworfen, —
zu wenig Blut war, scheint es, für d»e friedlichen Krieger geflossen,
welche nichlt im Schützengraben, sondern in den eleganten Studier»
räumen der Diplomatie Wen.
Dank eines scharf entwickelten und künstlich aufgeblasenen Im-
perialismus treibt Polen, wie ein losgerissener Fesselballon, nach
allen Seiten, stürzt sich auf jede sichtbare Beute, auf alles, was
unbewacht daliegt, drängt nach der äussersten Spitze imperialistischer
Befitzgier, übertreffend selbst seine französische Mama, um dann,
wie jener Fesselballon, an einer Stelle angestochen, wie ein zusam-
menaeknitterter Lappen aus den Wolken auf die niedrige Erde zu
stürzen; wenn es aber dergestalt heute noch nach allen Seiten auch
schlägt, so hat doch sein Krieg mit Rußland, vielmehr sein Angriff
auf Rußland, tiefere Ursachen, als es auf den ersten Blick scheinen
könnte.
Die Antipathie, welche eine lange geschichtliche Entwicklung
hinter sich hat, der Kampf zwischen dem russischen und polnischen
Volk, trug immer den Charakter von etwas Tiefem unb fest Ver-
wurzeltem, nicht nur im Gebiet staatlicher, sondern auch n dem
kultureller Beziehungen. Der tiefgehende Unterschied zweier reli-
giöser Symptome, von denen Polen dasjenige des streitbaren Katho-
lizismus war, die asiatische Autokratie Russlands unb die grausam«
Oligarchie d«S polnischen Kleinadels — alles gab Anlass zu blutigen
Zusammenstößen. Polen vertiefte stets den Sinn dieser Auseinan»
Versetzungen durch den Hinweis auf die ihm zugefalkene historische
Mission: auf der Wacht der europäischen Kultur und Zivilisation
zu stehen und dieselbe vor den ständigen Angriffen der Moskowiter
zu schützen. Das fortschrittliche Rußland begriff das, verhehlte und
verschwieg auch nie die Notwendigkeit der Wiederaufrichtung der
getretenen Rechte des polnischen Volkes. Don den Sozialisten ganz
zu schweigen, kann man diesen Kampf um die Wiederherstellung
Polens durch das ganze Jahrhundert verfolgen, angefangen von
den Dekabristen, über Herjen unb Bakunin bis zu unseren Tagen.
Während des polnischen Aufstandes 1863 schrieb Herjen: „Als in
Warschau 1830 die Revolution aufftammte, zeigte das russische Volk
keinerlei Feindschaft., Die Jugend war von ganzem Herzen für die
Polen; die Teilnahme mit ihnen setzte uns. schweren Strafen aus;
man war notwendig gezwungen, sie im Herzen zu verbergen und
zu schweigen."
Wenn vor hundert Jahren der Führer des polnischen Korps,
Fürst Joseph Poniatowski, in gerechtem Mißtrauen gegen die rus-
sische Politik, auf alle Annäherungsversuche Alexander des Ersten
Mst einem kategorischen Nein antwortete und es vorzog, in der
Schlacht bei Leipzig zu fallen und die Hoffnung auf eine Rettung
der Unabhängigkeit Polens mit ins Trab zu nehmen, statt sie dem
russischen Sphinx — Alexander dem Ersten — zum sicheren
Schmause darzureichen, so verdient eine solche Politik vom Stand-
punkt der russischen Demokratie nm Beifall. Es war klar, daß so
oder anders Alexander mit der Unabhängigkeit des polnischen Vol-
kes ein Ende machen würde, was er auch nach dem Falle Napoleons
zur Genüge bewiesen hat.
Doch, nun steht Rußland wieder, wie vor hundert Jahren, vor
einer französisch-polnischen Koalition. In wessen Namen führen
heute den Kampf gegen das zerrissene, verblutende Rußland die
Regierungen zweier auf kapitalistischer Tradition erzogene reaktionär-
kapitalistischer Systeme? Vor ihnrn steht doch heute das russische
V o l k, welches im Namen aller politischen Parteien, von den aller-
reaktionärsten bis zu den äußersten Linken ohne jeden Hintergedan-
ken, die alte Ungerechtigkeit der Unterdrückung polnischer Brüder
anerkannt und seine Unabhängigkeit freudig begrüßt hat. Was will
Polen heute vom russischen Volk, welches ihm auf eigenen Schul-
tern und durch eigene Blutopser die Befreiung gebracht hat?
Es scheint uns, dass in diesem Kriege nicht sowohl staatsmänni-
sche Berechnungen als psychische Impulse den Ausschlag geben. Das
wiedererwachte. Polen will dem halbzerstörten Rußland zeigen, dass
die Zeit seiner Selbständigkeit angebrochen ist, dass es mit diesem
Faktor zu rechnen Hal; ein glücklicher Ausgang müsste Polen sofort
nicht nur zu einem Staat, sondern zu einer Großmacht stempeln.
Das Letzte wäre für Polen besonders wichtig, weil man in War-
schau sehr wohl weiss, wie hoch in Europa die Kultur des polnischen
„Schljachla" (Adel) eingsschätzt wird und wie mau- sich dort ins
Fäustchen lacht, wenn ihre Vertreter behaupt««, Polen wäre, be-
rufen, die europäische Zivilisation (Pogrome?) vor großrussischer
Vergewaltigung zu schützen. Außerdem kennt die polnische Negie-
rung sehr wohl den Unterschied zwischen dem neuen und alten- Ruh-
land, sie kennt auch die Gefahr, welche — natürlich nur für ein
aufgeblasenes Polen — ein zukünftig erstarktes Russland -darstellt.
Und so stürzen sich denn die polnischen Panjes kopflos in das ufer-
lose rassische Meer, um dieses wild stürmende Element zu besiegen,
uns, wenn das nicht gelingen sollte, um es wenigstens etwas zu
schlagen und, sei es nur zeitweise, die eigene Lebensfähigkeit zu be-
weisen. Aber ich fürchte, die Geister, die man rief, wird man nicht
wieder los.
Der nordische Bär, durch das starke Drauflos-peitschen erschreckt,
kann wütend werden- unb sich auf seinen Bezähmer werfen. Der
polnische Fehlschlag kann mit einem Fehlschlag, oder,, was noch
wahrscheinlicher ist, mit einer Katastrophe enden und, wie schon so
oft, kann Warschau wieder in die Gewalt russischer Soldaten kom-
men. In den letzten Berichten kündigt die polnische Regierung da-,
schon für Ende Juni an, falls Frankreich- nicht zu Hilfe kommt. Unb
dann kann wieder die unselige polnisch« Frage auf di« weltgeschicht-
liche Bühne treten. Wie ich schon in einem meiner Artikel voraus-
gesagt, entfachte dieser Angriff einen Sturm der Entrüstung tn
weiten Kreisen des russischen Volkes, der nationalistische Umschwung
hat alles und alle auf die Beine gebracht und hat bloß di« schwan-
kende Macht der Bolschewisten verstärkt. Wenn diese ein neue-
Aushäirgeschilb zu ihrer weiteren Existenzberechtigung brauchten, so
tonnten die Polen ihnen keinen besseren Dienst erweisen - - - Dieser
 
Annotationen