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Volkszeitung: Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung des ganzen badischen Unterlandes (Bezirke Heidelberg bis Wertheim) (2) — 1920

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Nr. 201 (31. August)
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Lageszeiiung für die werktätige Bevölkerung der Amtsbezirke Heidelberg, Wiesloch, Sinsheim, Eppings«, Sberbach, Mosbach, Buchen, Adelsheim, Boxberg
Tauberbischofsheim und Wertheim.

Vc-uaspreis: Monatlich einschl. Träaerlohn 5.— Mk. Anzeigenpreise
»ie einspaltige Petitzeile (36 mm breit) 80 pfg., Reklame-Anzeigen
(yz mm breit) 2.2«Mk. Lei Wiederholungen Nachlaß nach Tarif.
Geheimmittel-Anzeigen werden nicht ausgenommen.
Geschäftskunden: 8-'/,ü Uhr. Sprechstunden der Redaktion: -12 Uhr.
Postscheckkonto Karlsruhe Nr. 22S77. Tel.-Abr.: VolkeGetiung Heidelberg.

Heidelberg, Dienstag, August 1920
Nr. 201 » 2. Jahrgang


Verantwort!.: Für innere u. äußere Politik, Volkswirtschaft und Feuilleton
I. Ä.: Z.Kahn: für Kommunales u. soziale Rundschau: I. Kahn? für
Lok: O. Geibel; für die Anzeigen: H.Hoffmann, sSmtl.i'n Heidelberg
Druckund Verlag der llnterbadischen Verlagsanstalt G. m.b.H., Heidelberg
Geschäftsstelle: Schröderstraße 39.
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Der Krieg im Osten.
Moskau, 30. August. (Durch Funkspruch.) Eine
Kundgebung der Regierung besagt, die russische Armee hat
in ihren neuen Stellungen die Umgruppierung vollzogen
und die Offensive wieder ausgenommen. Sie hat bereits
einige Ortschaften in der Nähe von Bialystok und Brest-
Litorvsk erreicht. In Galizien haben die russischen und
ukrainischen Armeen ebenfalls neue Erfolge gegen die Polen
erzielt. Die polnischen Erzählungen von den ungeheueren
Verlusten der russischen Armee gehören in das Reich der
Fabel. Es gab schwierige Augenblicke während des Rück-
zuges. Die russische Leitung hat in schwieriger Lage ihren
Weg gefunden und in den neuen Stellungen die Um-
gruppierungen vorgenommen.
Eine bevorstehende Offensive der Ruffen in
Ostgalizien.
Königsberg, 30. Aug. Wie der „Information"
aus Warschau gemeldet wird, erklärte Marschall Pilsudski
dem Vertreter des Blattes, die Bolschewisten würden
sich nicht mit ihrer Niederlage zufrieden geben. Von den
70 Divisionen, die sie im Kampfe gegen Polen eingesetzt
hatten, seien allerdings nur noch 30 übrig, aber die Bolsche-
wisten seien dabei, neue Armeen aufzustellen. Augenblick-
lich zögen sie sengend und brennend durch Ostgalizien
und bewaffneten Bauernbanden. Die mir zugegangenen
Meldungen, sagte der Marschall, geben mir das Recht, zu
behaupten, daß die Bolschewisten in Ostgalizien mit 15
neuen Divisionen eine neue Offensive in grsßem Stile
vorbereiten.
Eine Zurriüdrängung der Armee Mr-mgel,
London, 30. Aug. In einem Funkspruch anKame -
new sagt Tschitscherin: Unser Vormarsch gegen General
Wrangel dauert fort. Im ganzen Gouvernement Tanrien
zieht sich General Wrangel gegen das Innere der Krim
zurück. Seine Lags wird kritisch.
Kundgebungen für Sowjet-Rutzl«nd rn
Italien.
Mailand, 30. Aug. (W.B.) Am Sonntag sanden
auf Veranlassung der sozialistischen Partei in zahlreichen
Städten Italiens Versammlungen statt, mit dem Zwecke,
die offizielle Anerkennung der Sorvjetregierung zu verlangen.
In verschiedenen Städten verliefen die nur schwach besuchten
Versammlungen in größter Ruhe, einzig in Florenz, wo
die Manifestanten in einem Zug die Stadt durchzogen, kam
es zu einem Zwischenfall mit der öffentlichen Gewalt, der
ein blutiges Ende nahm. Ein Polizist wurde von den
Manifestanten getötet, worauf die Polizisten das Feuer
erwiderten. Es gab dabei 2 Tote und 7 Verwundete.
Infolge dieser Zwischenfälle wurde in der ganzen Stadt
der allgemeine Proteststreik proklamiert. In Mailand wurde
ebenfalls nach einer solchen Versammlung ein Zug ver-
anstaltet, wobei es zwischen den Teilnehmern und Mit-
gliedern der patriotischen Vereinigung „Ascio" und Heim-
kehrern zu Zusammenstößen kam. Diese arteten in Prügeleien
aus, wobei mehrere Personen verletzt worden sind
Italienische Hilfe für die Bolschewisten?
Paris, 30. Aug. (W.B.) Aus Rom wird gemeldet,
daß in Triest ein sozialistisches Freiwilligenkorps ge-
bildet worden ist, das nach Rußland gehen will. Trotzki
soll sich an die Sozialisten in ganz Italien gewandt haben,
mit der Bitte, Rußland mit sozialistischen Legionen zu Hilfe
zu kommen.
Riga soll der Ort der Friedensverhandlungen
sein.
Berlin, 30. Aug. Im Gegensatz zu den Nachrichten,
nach denen die russisch-polnische Friedensverhandlungen nach
Warschau verlegt werden sollen, wird jetzt aus Warschau
gemeldet, daß der Rat der nationalen Verteidigung in seiner
Freitagssitzung beschloß, dis Delegation in Minsk anzuweisen,
unverzüglich die Verlegung der Verhandlungen nach Riga
zu fordern.
Litauen erklärt sich für strikte Neutralität.
Berlin, 30. Ang. Der litauische Außenminister richtete
an den polnischen Minister des Aeußern heute folgendes
Telegramm: „In dem Krieg zwischen Polen und Sowjet-
Rußland wird Litauen auch fernerhin strikte Neutralität
beobachten. Um mögliche Zusammenstöße zwischen polnischen
und litauischen Truppen zu vermeiden, schlägt die litauische
Neuerung der polnischen Regierung vor, den Truppen
Befehl zu erteilen, nicht dis litauische Grenze zu überschreiten,
die durch litauische Truppen geschützt wirde. Für das alte
Gouvernement Suwalki, wo die Grenze des litauischen
Staates noch nicht endgültig festgelegt ist, schlägt dis

litauische Regierung eine Demarkationslinie vor, die etwa
von Grodno über Augustowo nach Sztabin verläuft."
Unter dem Drucke der Entente.
Danzig, 30. Aug. In einer Vertrauensmännersitzung
der Danziger Hafenarbeiter wurde beschlossen, sich den
Danziger Eisenbahnern anzuschließen und sämtliche
Ausladungen, soweit sie nicht gegen die Bestimmungen
des Friedensvertrages sind, auszuführen. Morgen
vormittag wird über diesen Beschluß die Urabstimmung der
gesamten Hafenarbeiterschaft stattfinden.

Zur Lage in OLerschlefien.
Die Arrsstarrdsbewegung beseitigt.
Beuthen, 30. Aug. Aus Industrisir essen wird uns mit-
getM: Dis A u s st and s b ew egu n g ist wie mit einem
Schlags verschwunden. Das innere Und das äußere Leben wickelt
sich wieder normal ab. Die Arbeit ist durchweg im Gange. Wel-
chen materiellen Schaden die Augustereigm'sse, abgesehen van son-
stigen Weiterungen, in Oberschlestcn angsrichtet haben, ist noch nicht
zu übersehen. Dort wird man mit außerordentlich hohen Zahlen
rechnen müssen. Fordern doch die Polen für ihren Schaden in
Kattowi-tz von der Stadt allein 6 Millionen Mark. Daß die Koh-
lenförderung außerordentlich beeinträchtigt wurde, liegt bei der
Dauer des Streikes und den Gewalttaten gegen die Arbeitswilligen
auf her Hand. Bei Ausbruch des Streikes am 19. August betrug
der Hauptvcrsand 112 000 Tonnen täglich. Diese Ziffer war am
28. Aug. auf 75 Proz., am 21. auf 38 Proz. am 23. auf 25 Proz.,
am 24. und 25. Aug. auf 23. Proz. gesunken. Vom 26. August
sing sie wieder an langsam zu steigen. Der Ausfall vom 20. bis
26. Aug. beträgt rund 400000 Tonnen. Die Wirkung dürfte in
erster Linie die Eisenbahn treffen, weiterhin die Industrie, Gas,
Elektrizitätswerke; vor allem aber die Zuckerindustrie, die bis zum
Ende September zwei Drittel ihres gesamten TampagnÄ-odarfs ge-
deckt haben muß.
Beuthen, 30. Aug. Die polnische Presse übt zur Zeit aus-
fallende Zurückhaltung. Zum Beuthener Abkommen schreibt heute
die „Grenzzeitung", baß dieser Friede nicht sofort in seinem ganzen
Umfange in Kraft treten wird. Polen beurteilt klar, daß für Ge-
walttaten weder der deutsche noch der polnische Volksteil in seiner
Gesamtheit verantwortlich sei. Es solle auch nicht gesagt sein, daß
jeder Deutsche und jeder Pole an den Uebergriffen beteiligt geweson
sei. Im übrigen werden heute durch den Warschauer Außenmini-
ster die deutschen Pressemeldungen, über den Eingriff polnischer
Truppen in Oberschlesien. entschisdM dementiert
Die Folgen der nationalistischen Hetzereien in Breslau.
Berlin, 31. Aug. (Priv.-Tsl.) Unter der Ueberschrist:
Französische Forderungen für Breslau wird in der
„D. A. Z." ausgesührt, daß dis französische Regierung erst den
Bericht des Berliner Botschafters über die Breslauer Vorgänge ab-
wartet, ehe sie die Bestrafung und Wiedergutmachungen, die sie für
notwendig erachtet, zur Kenntnis der Oesfentlichkeit bringt. Die
französische. Presse scheine dagegen einen festen Standpunkt in der
Frage eingenommen zu haben. Die nationalistischen Blätter stellen
bereits als Forderung die S ch l i eßung der Breslauer
Universrät, zumal diese ein wohlbekannter Herd des Nationa-
lismus sei. Außerdem müsse man der Stadt Breslau eine schwere
Geldbuße auferlegen. Ein Ausgleich in der Richtung, wie ihn
die französische Presse andsutet, sagt bas Blatt, würde weder den
Tatsachen, noch dem Gefühlen dar Billigkeit Rechnung tragen. In-
dem die französische Presse die Vorgänge in Breslau mit übertrie-
bener Schärfe behandele, scheine sie die Erörterung der oberschlesi-
schen Ai.'gelegenheit in den Hintorgrund drängen zu wollen
Polnische Uebergriffe.
Marienwerder, 30. Aug. Am Sonntag wurden die
deutschen tleberlertungskvmmrssare von Schwetz und Thorn, die Or-
gane des Reichs- und Staatskemmissars sind, von den Polen
verh a f t e t. Die Verhaftung des Schwätzer Kommissars geschah
angeblich wegen Spionagoverdacht. Der Kommissar wurde zu dem
Starosten gebracht, -wo er seinen ebenfalls verhafteten SÄretär vor-
sand. Dieser wurde am Nachmittag wieder freigelassen. Der
Ueberleitungskommkssav blieb bis zum nächstes Tage in Unter-
suchungshaft und durfte Schwetz nicht verlassen. Erst aus eine
Intervention dos Starosten wurde er am folgenden Tage wieder
frsigelassen; doch mußte er Schwetz alsbald verlassen. Der deutsche
Uebevleftungskrmmistar aus Thorn wurde am 19. August auf einer
Dienstreise nach Marienwerder in Roggenhausen aus dem- Zuge
herausgeholt und verhaftet. Den polnischen Beamten war ein ver-
siegelter Brios ausgefallen, den der Ueberlieferungskommifsar bei
sich führte. Der Uebevlestungskommissar wurde trotz eines Protestes
nach Graudenz zurückgobracht. Dort erkannte der Starost, vor den
er geführt wurde, alsbald die geschehenen Uebergriffe und stellte
ihm neus Ausweise aus. Auf dem Bahnhof wurde der Kommissar
sofort von neuem durch Bürgerwe-Hrleute verhaftet, welche den Aus-
weis des Starrsten nicht als ausreichend befanden. Der Kommis-
sar wurde in eine Kaserne gebracht, wo er die Nacht in einer Arrest-
zelle verbringen mußte. Am nächsten Morgen wurde er erst dem
zuständigen Offizier des "Generalkommandos vvrgesührt, der^n so-
fort freiließ. Darauf sandte de: Stowst den Ueberleitungskonrmif-
sä-r zur Forschung seiner Reise nach Marienwerder in einem DieNst-
automo-bil und in Begleitung des KreiskoNsulars bis an die deutsche
Grenze. Von Marienwerder aus geschah dir Zurüäsendung des
Kommissars nach Thorn durch den polnischen Genoralkonsular per-
sönlich in dessen Kraftwagen.

Die Kraft Lassalles.
Zum Todestage des großen Führers am 31. August.
Im Anfang der Klassenbewegung und Massenorganisation des
deutschen Proletariats war Vas Wort Lassalles, rind das Wort
wurde Tat und war schon Tat. Zeugendes Wort, zeugende Tat!
Was zurücklag: die ersten Regungen und groß ausholend« Zeichen
der Bewegung ein ganzes und ein halbes Menschenalter zuvor,
wurde nun Vorgeschichte. Eine neue Phase begann. Und wiederum
zeigte sich bedeutsam, daß die deutsche sozialistische Arbeiterbewe-
gung als eine Erbin der klaUchen deutschen Philosophie erwuchs.
Kant, Fichte, Hegel — in dieser Entwicklungsschichtung — sind das
idealistische Ursprungsland. Hier wurzelte Marx, von hier zweigte
er in mcnerialistischem Geschichtsdenken weiter, in den Wehen ka-
pitalistischen Zeitwerdens befreit zu umwälzenden ökonomischen
Einsichten, die der im Elend der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft
auffteizenden Klasse des Proletariats den Beruf wiesen, Träger
eines gegensätzlich neuen, gesellschaftformenden politischen Handeftks
zu werden. Und dort war auch der Mutterboden Lassalleschen
Geistes.
Früh schon in entflammtem Verstehen vom theoretischen Ge-
winne Marx', des ochtundvierziger Revolutionsgenossen, befruchtet,
bleibt Lassalle verwachsend de urschen: Gelehrtentum, dem er gelten
und zebcn will, in der Bewegung seines Denkens stärker unter dem
Einfluß des Anschauens und der Ziele des klassischen Idealismus
als die ins Londoner Exil verschlagenen Kampfgefährten junger
Jahre. Wenn das deutsche Bürgertum, von kapitalistischen Stre-
bungen in platten Geldmaierialisimis abgetrieben oder von ihren
Zerstörungen gehemmt und entmutigt, jenen Zielen sich entftsnkdete,
so hob Lassalle nun deren Banner retterisch als ein heiligstes Gut
einpor, und er pflanzte es auf den Wall der Demokratie, der er be-
fehdet, verfolgt, eingekerkert eine neue, von der Arbeiterschaft zu
bauende Partei schuf. Die philosophische Durchgeistigung seines
geschichtlichen, politischen Denkens, die das politische Handeln er-
faßte und anspointe als ein Werk mit höchsten sittlichen, staatcksidt-
iichen Zwecken, fächle in neuer Zeit das Feuer an, das ein Haides
Jahrhundert vorher loh gebrannt hatte in Hirn und Blut des gro-
ßen Pottttkers unter den klassischen deutschen Philosophen. Wer
Lassalle der politischen Entwicklung Deuffchlands im
neunzehnte»: Jahrhundert emgliedern will, muß zu Marx immer
Fichte in seine unmittelbarste Nähe denken. Das bedeutet Zeichen
und Richtung seines persönlichen inneren Seins und Werdens
Ein volksgeistig wichtig Vermächtnis berief. Wie Lessing ihm als
der starke Weitersührer des Werkes erschien, das einst der große
deutsche Entseßler der Reformation begonnen, als der westliche
Luther, so nahm Lassalle Fichtes ideale demokratische SchluUorde-
rungen aus. um sie, auf den durch geklärte ökonomische Einsicht ge-
schichtlich leistungsfähig gemachten Revolutionswillen einer Arbei-
terpartei gestellt, entscheidend auf Bahnen der Weltverwirllichung
vorwärtsjuieiten. Wie sehr über die Rolle des ökonomischen
Faktors in der Geschichte zu werten verstand und in seine Arbeit
einschloß, immer doch hielt er regeltreu fest an der Betonung des
Geistigen, in dein alles besondere geschichtliche Geschehen in höch-
stem Sinne umfassend vorbegrisfen sei. Und das war ganz gewiß
auch in de» leidenschaftlichen Wucht seiner geistigen Persönlichkeit
begründet.
Immer wenn Zeiten reif sind, ererbte soziale Formen als un-
erträglich zu empfinden, gedeihen Persönlichkeiten, die den Beruf
in sich füh'en, Wißen und Handeln, Gedanken in Tat umzusehen.
Es kommt nur auf das Maß ihrer Denkergaben an, ob sie Unge-
heures wagen werben. Die Unruhe des Werdenmüssens sammelt
sich in ihnen, spannt die treibende Feder ihres Wollens, steigert
ihre Reizbarkeit bis zum Schicksalsbewußtsein. Als Herrscher-
naturen, von ihrer Herrschgewalt ausgesperrt, leiden sie 'wie Ent-
glückte, die das Glück aller wollen. Dies war das Wesen Lassalles.
Er ist brr Sproß einer Zeit, in der die Lavagüsse der größten Re-
volution noch forigl'Uten, und um so heißer, weil der Schoß der Ge-
genwart -wehzuckend eine neue Revolution verkündet. Als die Früh-
reife seines Lebens sich in durchschütterndem Entschließen Weg und
Ziel des Doseins selber bestimmt, heißt die Wahl ein Wirkenwol-
len auf dem gewaltigen Felde, das der Kampf der Geschichte opfer-
fordernd bestellt. Er ist kein Kopf, der sich mit einer Einzelwissen-
schaft begnügen kann, und hat nicht das Blut, dem in abgeschlossen-
stiller Studierstube aus Bücherweisheit Sättigung zusickert. Er
braucht Wissenschaft, die Wissenschaft verbindet, umfassend und
überlegen, und Wissenschaft, die lebendig ist; das aber ist Wissen-
schaft, die das Leben sucht, um Bestes zu empfangen und Stärkstes
zu geben. Dieser Drang, zu finden und zu vermitteln, wirkt in sei-
ner höchst entwickelten Kunst, sich auf Menschen einzustellen, die er
seiner Absicht, seinem Werk gewinnen will. Er ist ein Genie dleses
Hinüberwirkens ins Leben. Aus dieser erstaunlichen Kraft ent-
sprang, was er als Selbstverteidiger vor Gericht, als werbender
Redner in stürmischen politischen Versammlungen erzielte. Er war
ein kluger, gewandter Netzeweber, der seine Gedanken in der DeNk-
weise anderer zu entwickeln -verstand und hundert Schwerter hielt
er zu Schlag und Stoß für seine -Sache bereit. In beherrschend-
stem Vorausberechnen, in sieghaftest jähem Erfassen der Gunst des
Augenblicks zwang er die Hörer auf seinen Weg. Was dieser un-
erschöpflich zähe Wille, Menschen, Menschenmassen mitzureißen,
für seinen Gedanken zu erobern allem in den zwei letzten Lebens-
jahren geleistet, summiert sich zu immer berückenden Ausdruck -einer
gewaltigen Persönlichkeit.
Gladiator nannte Heinrich Heine den zwanzigjährigen Lassalle,
der sich ihm in Paris gZellte. Er empfand den Jüngling als einen,
dessen Schicksal es war, den Tod vor Augen hoch aufrecht in den
Kampf zu schreiten. Er, ein Vierteljahrhundert älter und den Jün-
geren längst ein sichernder Führer durch die Zerrissenheiten der
Zeit, begriff das Leben, das in Lassalle über die nur in Dichter-
phantasie!, handelnde Romantik eniporbrängte. Heines denkwürdi-
ge: Brief an Varnhagen hat den Gegensatz der zwei Generationen
 
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