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Badischer Volksbote: für Deutschtum, Thron und Altar ; Organ der Deutsch-Sozialen Reform-Partei in Baden (6): Badischer Volksbote: für Deutschtum, Thron und Altar ; Organ der Deutsch-Sozialen Reform-Partei in Baden — 1895

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No. 9 - No. 16 (2. Februar - 27. Februar)
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https://doi.org/10.11588/diglit.42838#0045
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ZSesteTnuge«
auf den „Badischen VolkSboten" können jederzeit bei allen kaiserl.
Postanstalrsn, den Briefträgern, sowie unseren Agenturen gemacht
werden. — Preis vierteljährlich durch oie Post bezogen 1 Dl. 2S Pf.,
bei unseren Agenturen 1 Mk., bei der Expedition abgeholt 80 Pf.

Iüv Deutschtum,

stnden in dem wöchentlich 2mal erscheinenden „Badischen B»kkrb»ten"
dre werteste Verbreitung und kostet die viergespaltene Gar»»ndreile
oder deren Raum nur 10 Pfg., bei mehrmaliger Aufnahme mivd
bedeutender Rabatt gewährt.

Ih^on uud Attcrv.

Hegern der: deutscH-sozicrten Weform -Wartet in Maden und des
Madifchen Mauernkundes.

.»t LS.

Heidelberg, den 13. Februar 1895.

« Jahr«

Wit dem 1. Kebruar
begann eine neue Bestellung auf unsere Zeitung
zum Preise von SV Pfg. für die Monate
JeKrmar: und Wävz.
Wir bitten unsere Gesinnungsfreunde, den im Inseraten-
teil befindlichen Bestellzettel zu benutzen.
Professor Sohm über die heutige Gesell-
schaft und die gegenwärtige Lage.
Angesichts der Umsturzvorlage und der Aufforder-
ung zum Kampfe gegen die Feinde der heutigen Ge-
sellschaft wird es für die Leser nicht ohne Interesse sein,
zu hören, wie einer unserer bedeutendsten lebenden Rechts-
lehrer, Prof. R. Sohm in Leipzig, sich über die heu-
tige Gesellschaft und die gegenwärtige Lage äußert. In
dem letzten, „Die Situation" überschriebenen Abschnitte
seiner trefflichen „Kirchengeschichte im Grundriß" (9.
Aust. 1895) wirft Sohm die Frage auf: Wem soll ich
unsere Gesellschaft vergleichen?, um dann folgendes aus-
zufShren:
„Ich vergleiche sie dem Erdball, auf dem wir woh-
nen. Eine dünne Rinde um einen ungeheuren seurig-
flüsfigen, vulkanisch gährenden, revolutionären Kern.
Aeußerlich alles Ordnung, Friede, Blühen und Gedei-
hen; aber ein Moment, und die elementaren titanischen
Kräfte der Unterwelt haben die ganze Herrlichkeit in
Schutt und Asche verwandelt. Nur wenige sind es,
welche die besitzende, regierende, genießende, am öffent-
lichen Leben Antheil nehmende Gesellschaft bilden; die
Masse stellt den Lastträger, zugleich den übermächtigen
Feind der Gesellschaft da?-.
So ist es zu allen Zeiten gewesen. Die Gesell-
schaft p'le-t sich in dem Wahne zu gefallen, daß sie
dos Volk fei und daß ihre Interessen mit den Interessen
des Volkes identisch snen, bis eine revolutionäre Er-
schütterung des Bodens, a? f dem sie stand, ihr zeigt,
daß sie nutzt das Volk war, sondern nur die dünne
Rinde um den feurig nährenden Kern.
Im Mittelalter bilden nur zwei Stände die Ge-
sellschaft : Adel und Geistlichkeit. Der dritte Stand war
noch regierungsunfähig und von der Gesellschaft des
Mittelalters ausgeschlossen. Die deutsche Reformation
des 16. Jahrhundert., war die erste große Bewegung
gewesen, an der, und zwar gerade in Deutschland, das
Bürgertum selbstständig entscheidend sich beteiligte. Die
Reformation schloß in den deutschen Städten mit dem
Humanismus ihren Bund, und mit der lutherischen
Kirche wuchs eine nationale Bildung empor, die be-
stimmt schien, die geistige Großmacht der deutschen Zu-
kunft zu werden. Aber dieser ganzen Entwickelung ward
durch den dreißigjährigen Krieg ein jähes Ziel gesetzt.
Deutschland ward ein Lehrling und Sklave der Bild-
ung, die von Frankreich her uns dargeboten ward.
Aber diese Bildung trug die Revolution unter
ihrem Herzen. Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts
hatte aufs neue eine Entdeckung gemacht, die bereits
in der Bildung des Altertums und in dem Humanis-
mus des 15.'Jahrhunderts keimartig enthalten gewesen
war, die Entdeckung des Menschen: daß auch in den
Kleidern des Adligen ebenso wie in dem Talar des
Geistlichen nur ein Mensch steckte, derselbe Mensch, wie
in dem Rock des Bürgerlichen, nicht besser geboren,
nicht besser beanlagt, nicht besser berechtigt. Die Idee
der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit kam auf und
eroberte die Welt. Sie war schon immer dagewesen,
vor allem das Christentum hatte sie gelehrt. Aber nun
ward sie zu einer Macht des öffentlichen Lebens, und
der Antrieb, welchen sie jetzt in sich trug, war nicht
die Liebe zum Nächsten, sondern der Haß gegen die
Bevorrechteten. Noch galt die alte Gesellschaftsordnung,
noch war die Macht des Gemeinwesens in den Hän-
den von Adel und Geistlichkeit, in Frankreich noch mehr

als in Deutschland. Aber der dritte Stand hatte sich
selber mit der ganzen Kraft, die er in sich trug, wahr-
genommen. Er fühlte sich als die Nation, er war der
Vertreter der Idee, der das Jahrhundert gehörte: der
berauschenden Idee der Freiheit und Gleichheit. Ein
neues geistiges Prinzip, ein Gedanke war da, der be-
reit war, den dritten Stand jetzt endlich zum Herrn
der Gesellschaft zu erheben.
Der Boden zitterte, und mit einem Schlage war
die Gesellschaftsordnung, die ein Jahrtausend lang das
Abendland beherrscht hatte, vernichtet. Weshalb so plötz-
lich? Weshalb so mit einem Male, daß Adel und Geist-
lichkeit fast nicht einmal znr Verteidigung ihrer alter-
erbten Privilegien gelangten? Lediglich deshalb, weil die
herrschenden Stände, Adel und Geistlichkeit, selbst von
der Idee erfüllt waren, durch die ihre ganze Macht-
stellung vernichtet werden sollte. Die Gedanken der Auf-
klärung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit
waren in den Salons der Vornehmen groß geworden,
und die herrschenden Klassen waren es, die durch ihre
Literatur sich selbst den Untergang predigten. Die Schlacht
war schon entschieden, bevor es noch zum Schlagen
kam; denn die Ideen sind es, die die Weltgeschichte
regieren. Der dritte Stand fand keinen widerstands-
fähigen Gegner, weil er nur das Urteil vollstreckte, das
die herrschenden Stände sich selbst bereits gesprochen
hatten.
Seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts ist der
dritte Stand immer entschiedener in die Herrschaft über
das Gemeinwesen eingetreten. Er ist heute die Gesell-
schaft. In seine Reihen sind Adel und Geistlichkeit
wesentlich unterschiedslos ausgenommen worden. Er sieht
sich als gleichbedeutend mit dem Volk. Als Volk-rechte
hat er die Befugnisse in Anspruch genommen, welche
die konstitutionellen Staatsverfassuuaen ihm gewähren.
Mit seinen Interessen will er die Interessen der Na-
tion verteidigen, und wenn seine Rechte im Staate ge-
wahrt sind, so scheint ihm das Ziel der nationalen po-
litischen Entwickelung erreicht.
Und doch ist der dritt: Stand nicht das Volk. Gr
ist in derselben Selbsttäuschung befangen, wie einst Adel
und Geistlichkeit. Der dritte Siand macht nur die 10
Proz. der Bevölkerung, ihn: stehen die 90 Proz. der
„Enterbten", die ganze Volksmasse gegenüber. Auch der
dritte Stand ist nur die dünne Rinde um den unge-
heuren Kern.
Die Proletarier sind das Volk! Die Besitzlosen
und Ungebildeten sind das Volk! Sobald allein das
Kopfzahlprinzip entscheiden soll, so stellen die Rechte
und Interessen des dritten Standes vielmehr den Ge-
gensatz der Volksrechte und der Volksinteressen dar.
Der vierte Stand ist das Volk!
Und schon hat der vierte Stand sich selbst erblickt.
Er hat sich selbst bereits als das eigentliche Volk er-
kannt. Die Arbeiterbataillone sind im Begriff, sich zu
formieren, um den Monarchen der Gegenwart, den
dritten Stand, von seinem Thron zu stoßen. Immer
lauter kündigt sich die Bewegung an, deren Ziel ist,
die ganze Gesellschaftsordnung, Staat, Kirche und Fa-
milie zu zerstören, weil alle diese Träger unsere Bild-
ung und Gesittung den Führern des Anarchismus ledig-
lich als die Machtmittel des auf den Tod gehaßten
Gegners, des drittes Standes, erscheinen.
Wird der dritte Stand dem Andrängen des vier-
ten Standes gegenüber fähig sein, sich erfolgreich zu
verteidigen? Werden wir imstande sein, nicht bloß un-
seren Besitz, sondern, was weit mehr ist, unsere Re-
ligion, unsere Familie, unsere Bildung, unsere Freiheit
gegen die anstürmenden Massen mit starker Hand zu
schützen? Mit andern Worten: wird die Revolution
des 19. Jahrhunderts, der wir entgegen zu treiben
scheinen, ein anderes Ende nehmen, als die des acht-
zehnten ?
Eins ist gewiß: daß nämlich die Entscheidung
nicht durch Bajonette und nicht durch äußere Macht-
mittel, sondern allein durch die Stellung gegeben wer-
den wird, welche wir, welche unsere Gesellschaft zu

der großen Geistesströmung, zu den Ideen einnehmen
deren Geschichte die Geschichte unsere- Jahrhundert-
sein wird.
Auch das 19. Jahrhundert hat eine Entdeckung
gemacht, die Entdeckung der Materie : nämlich, daß
die Materie Gott ist. Aus dieser vermeintlichen Ent-
deckung des 19. Jahrhundert- ist, »ie H-Hm
weiter ausführt, jene Moral hervorgegangen. Welcher
der Kampf um das Dasein das Weltgesetz und zu-
gleich das Entwicklungsgesetz ist, die statt des G-on-
geliums der Liebe den nackten Egoi-sm- predigt.
„Der Einzelne hat seine Kräfte nicht, damit er seinem
Nächsten diene, sondern damit er ihn umbringe. Macht
ist Recht. Der Egoismus, Melchor in dem Kampf
um das Dasein jedem Einzelnen die Kraft gießt, ist
das allein berechtigte Prinzip und die irdische Glück-
seligkeit das einzige Ziel des Menschen".
Diese Moral ist der Punkt, wo der Materialis-
mus und der Atheismus populär wird. Hier packt
er die Volksmassen an ihren mächtigsten Instinkten.
Und schon hat die- neue Evangelium de- 19. Jahr-
hundert- seine Gläubigen gewonnen. Schon hören
wir die Arbeitermsrseillaise mit ihrem Refrain: „Wir
wollen auf Erden glücklich sein und »ollen nicht mehr
darben". In diesem Evangelium aber liegt die Kraft
der Bewegung des vierten Standes gegen unS. Dine
Idee ist es, durch welche Mr angegriffen werden.
Werden wir der Revolution des vierten Staude-
gegenüber widerstandsfähig sein? Diese Frage ist mit
der andern gleichbedeutend: werde« wir Widerstands-
fähig fein gegen die Ideen de- Materiali-rnu-, welche,
einem Sturme gleich, die wogenden Volksmsffen Men
un- herantreiben? Die soziale Reform, die wirt-
schaftliche Gesetzgebung, an der wir heute arbeiten,
ist zweifellos von der größten praktischen Bedeutung,
Aber ebenso zweifellos liegt hier die letzte Entscheid-
ung nicht. Die letzte Entscheidung liegt vielmehr in
den Ideen, welche un- selbst beherrschen, »elche wir
verteidigen, indem wir zugleich «sch »eit mehr von
ihnen verteidigt oder aber gerichtet werden".
Jnr Christentume, in der Weltübsrwindenden
Kraft des christlichen Glaubens sieht Sohm diese
geistige Gewalt. Aber ist unsere Gesellschaft noch
christlich? fragt er weiter, um ihr dann den Spiegel
vor^chalteu und sie allein für die Lage der Dinge
verantwortlich zu machen. Wo hat denn die Hehre
des Materialismus ihren Ursprung genommen? Oe-
rade in den Kreisen des dritten Stande-. Wo wird
der Atheismus, verschleiert oder unverschleiert, sm
eindringlichsten gepredigt? Gerade in den Kreisen
der Gebildeten und der Besitzenden. Aus den Kreisen
des dritten Standes selbst sind die Gedanken hersor-
gegangen, welche nun, den Feuerbrand tragend, die
Massen deS vierten Grande- ausreizen gegen den
dritten.
Was in den Büchern der Gebildeten und Gelehr-
ten geschrieben ist, das und nichts anderes ist eß, Wos
man jetzt auf den Gassen predigt. Mitten unter unS
ist der Unglaube groß geworden, welcher die Revolu-
tion des 19. Jahrhunderts schürt. Und dem mächtig
werbenden Unglauben ist unter uns kein Prophet enk-
gegengetreten, welcher mit der Kraft des Herrn do-
Ungeheuer der Lüge in den Abgrund geworfen hätte.
So sind wir alle ohne Ausnahme mit verantwortlich,
und das Gericht unserer eigenen Sünde schwebt über
un- und über unserer Zeit.
Die Bildung det 19. Jahrhunderts, sie ist es, die
sich selbst den Untergang predigt. Wie die Bildung de-
18., so trägt die Bildung des 19. Jahrhunderts die
Revolution unter ihrem Herzen. Wenn sie gebären wird,
so wird das Kind, welches sie mit ihrem Blut genährt
hat, seine eigene Mutter umbringen.
Go stehen wir jetzt. Eine dünne Decke trennt un-
von dem feurigen Abgrund, und die Geister, welche wir
selbst gerufen, arbeiten an unserem Verderben. „Da die
sittlichen Mächte die allein weltbauenden, »eMmAenden
und welterhaltenden Kräfte, die Säulen sind, aus denen
 
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