178 ROMAN. SYMBOLSPRACHE VON SCHÖNGRABERN U. ST. STEPHAN, WIEN
Zwischen der ersten und zweiten Säule folgt
eine männliche Halbfigur, wahrscheinlich eine
jener Darstellungen eines Propheten, die auf
romanischen Kirchen häufig zu finden sind.
NochzweiähnlicheHalbfiguren schmücken
den Fries, deren Deutung wohl versucht,
doch bisher nicht gelungen ist.
Sie schließen an eine weibliche Gestalt an,
die sich vor einem Hintergründe aus Akan-
thusblättern mit den Knien und Händen
auf den Boden stützt, dabei aber den Kopf
unnatürlich zurückgewendet hat; ein Schwert
steckt in ihrer Brust, mit dem sie sich nach
der Haltung der Hände selbst durchbohrt
haben dürfte. Dr. Melly versucht, sie mit
der Thisbe zu erklären, deren »Legende
sich wiederholt in den mittelalterlichen
Kirchen dargestellt findet, so am Dom zu
Basel«. Die von anderer Seite versuchte
Identifizierung mit einer Fleiligen ist bei
der Annahme, daß die Gestalt sich selbst in
das Schwert gestürzt hat,,zurückzuweisen;
ebenso die Annahme, daß sie eine Haupt
und Brust nach oben kehrende Nonne dar-
stellt, wie aus der »eng anliegenden Nonnen-
kappe« hervorgehe (Müller); von einer
Nonnenkappe ist aber nichts wahrzunehmen;
es sind im Gegenteile ganz deutlich die
Haarflechten des unbedeckten Hauptes zu
sehen; Müller ist eben auch hier in seinen
Wahrnehmungen durch Schmutz und Staub
irregeführt worden (Abb. 13).
Ist die Annahme Mellys richtig, so stellt
nach dem bekannten Mythus von Pyramus
und Thisbe diese Skulptur eine Warnung
vor den Täuschungen des bösen Geistes vor,
der im Sinne der romanischen Symbol-
Sprache auch hier als Löwe auftritt, und
fügt sich so harmonisch in den leitenden
Gedanken des Frieses ein.
So klingt der Kampf, den der Mensch
gegen die Versuchungen des irdischen Lebens
zu kämpfen hat, wie ein in Moll gehaltenes
Leitmotiv durch die Bilder-Symphonie des
Frieses von St. Stephan; von hier aber leiten
über den Opfertod Abels und das Relief
des Jonas (als Vorbilder des Erlösungswerkes)
verbindende Akkorde hinauf zum Tympanon,
wo sie in der Gestalt des in der Mandorla
thronenden, die Menschheit segnenden Chri-
stus in einen verheißungsvollen, befreienden
Dur-Akkord ausklingen (Abb. 14).
ABB. 14. ST. STEPHAN IN WIEN: TYMPANON
DER GROSSE GOTISCHE HOCHALTAR IN LANA BEI MERAN
UND SEINE SCHWÄBISCH-BAYERISCHEN MEISTER
Von Prof. Dr. GMINDER-CLAVELL
’C'inen neuen urkundlichen Beitrag zur
Frage nach dem Ursprung des größten
tirolischen Schreinaltars auch den Kunst-
freunden in Deutschland zu unterbreiten,
mahnten den Verfasser viele vom Kultur-
boden des Mutterlandes fast völlig abge-
schlossene deutsche Brüder jenseits der Bren-
nergrenze, deren einziger geistiger Mittel-
punkt die kleine trefflich geleitete Monats-
Schrift „Der Schiern“ ist — also seltsam
Zwischen der ersten und zweiten Säule folgt
eine männliche Halbfigur, wahrscheinlich eine
jener Darstellungen eines Propheten, die auf
romanischen Kirchen häufig zu finden sind.
NochzweiähnlicheHalbfiguren schmücken
den Fries, deren Deutung wohl versucht,
doch bisher nicht gelungen ist.
Sie schließen an eine weibliche Gestalt an,
die sich vor einem Hintergründe aus Akan-
thusblättern mit den Knien und Händen
auf den Boden stützt, dabei aber den Kopf
unnatürlich zurückgewendet hat; ein Schwert
steckt in ihrer Brust, mit dem sie sich nach
der Haltung der Hände selbst durchbohrt
haben dürfte. Dr. Melly versucht, sie mit
der Thisbe zu erklären, deren »Legende
sich wiederholt in den mittelalterlichen
Kirchen dargestellt findet, so am Dom zu
Basel«. Die von anderer Seite versuchte
Identifizierung mit einer Fleiligen ist bei
der Annahme, daß die Gestalt sich selbst in
das Schwert gestürzt hat,,zurückzuweisen;
ebenso die Annahme, daß sie eine Haupt
und Brust nach oben kehrende Nonne dar-
stellt, wie aus der »eng anliegenden Nonnen-
kappe« hervorgehe (Müller); von einer
Nonnenkappe ist aber nichts wahrzunehmen;
es sind im Gegenteile ganz deutlich die
Haarflechten des unbedeckten Hauptes zu
sehen; Müller ist eben auch hier in seinen
Wahrnehmungen durch Schmutz und Staub
irregeführt worden (Abb. 13).
Ist die Annahme Mellys richtig, so stellt
nach dem bekannten Mythus von Pyramus
und Thisbe diese Skulptur eine Warnung
vor den Täuschungen des bösen Geistes vor,
der im Sinne der romanischen Symbol-
Sprache auch hier als Löwe auftritt, und
fügt sich so harmonisch in den leitenden
Gedanken des Frieses ein.
So klingt der Kampf, den der Mensch
gegen die Versuchungen des irdischen Lebens
zu kämpfen hat, wie ein in Moll gehaltenes
Leitmotiv durch die Bilder-Symphonie des
Frieses von St. Stephan; von hier aber leiten
über den Opfertod Abels und das Relief
des Jonas (als Vorbilder des Erlösungswerkes)
verbindende Akkorde hinauf zum Tympanon,
wo sie in der Gestalt des in der Mandorla
thronenden, die Menschheit segnenden Chri-
stus in einen verheißungsvollen, befreienden
Dur-Akkord ausklingen (Abb. 14).
ABB. 14. ST. STEPHAN IN WIEN: TYMPANON
DER GROSSE GOTISCHE HOCHALTAR IN LANA BEI MERAN
UND SEINE SCHWÄBISCH-BAYERISCHEN MEISTER
Von Prof. Dr. GMINDER-CLAVELL
’C'inen neuen urkundlichen Beitrag zur
Frage nach dem Ursprung des größten
tirolischen Schreinaltars auch den Kunst-
freunden in Deutschland zu unterbreiten,
mahnten den Verfasser viele vom Kultur-
boden des Mutterlandes fast völlig abge-
schlossene deutsche Brüder jenseits der Bren-
nergrenze, deren einziger geistiger Mittel-
punkt die kleine trefflich geleitete Monats-
Schrift „Der Schiern“ ist — also seltsam