Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutsche Gesellschaft für Christliche Kunst [Hrsg.]
Die christliche Kunst: Monatsschrift für alle Gebiete der christlichen Kunst u. der Kunstwissenschaft sowie für das gesamte Kunstleben — 21.1924/​1925

DOI Artikel:
Hoffmann, Richard: Kirchenneubauten von Architekt Richard Steidle, München
DOI Artikel:
Bauer, Curt: Das Antlitz Michelangelos
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.53139#0314

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
DAS ANTLITZ MICHELANGELOS

276
Material ist der ortsübliche rote Sandstein
in Verbindung mit verputztem Ziegelmauer-
werk gedacht.
Als dritten Kirchenplan, hervorgegangen
aus der Hand des Architekten Richard
S t e i d 1 e, führen wir noch den Wettbewerbs-
entwurf für Ludwigshafen vor. Dieses
Projekt beruht hauptsächlich auf städte-
baulichen Erwägungen. Die Kirche ist nach
den Untersuchungen von Camillo Sitte als

Abschluß einesTiefenplätzes angeordnet. Der
Kirche gegenüber erhebt sich die große Bau-
masse der vielfenstrigen Rheinschule. Zu
diesem Bauwerk muß die Kirche unbedingt
in monumentale Wirkung gebracht werden.
Es hat daher unser Architekt die Haupt-
fassade als mächtige Mauerfläche ohne Glie-
derung und Fensteröffnungen komponiert.
Dieser Entwurf Steidles ist im Preisgericht
durch Ankauf ausgezeichnet worden.

DAS ANTLITZ MICHELANGELOS
Von CURT BAUER

T7twa 400 Jahre sind bereits verflossen, als
Michelangelos Jüngstes Gericht, das Al-
tarbild der Sixtinischen Kapelle, die Welt
mit einem unerhörten Staunen erfüllte. Es
wurde am Vorabend des Allerheiligenfestes
1541 enthüllt, und der Papst selbst zele-
brierte das Hochamt. Die Anwesenden er-
schauerten vor der Wucht, die von der
Fülle der vor dem Weltgerichte erbebenden
Gestalten ausging, und Vasari hielt es für
ein Ding der Unmöglichkeit, dies furchtbare
Gemälde zu beschreiben. Drei Jahrzehnte
war es her, da einst der Schöpfer dieses
Werkes an der gleichen Stelle dem Papste
Julius II. anläßlich der Enthüllung der Six-
tinadecke gegenübergestanden hatte. Schon
damals symbolisierte er sein Antlitz in der
Gestalt des Propheten Jeremias. Nun waren
inzwischen unzählige neue Leiden über ihn
gekommen. Noch immer schleppte sich der
Prozeß des Juliusgrabes hin. Die Päpste
zerrten ihn aus einem Lager ins andere.
Seine Neider und Feinde verfolgten ihn mit
ihren Verleumdungen und suchten ihn als
gemeinen Betrüger hinzustellen. Jetzt aber
war der Augenblick gekommen, wo alle per-
sönlichen Ränkespiele ihn nicht mehr er-
reichen konnten. Rom staunte und mit ihm
die Welt. Michelangelos Namen stand über
allen anderen. In zahllosen Sonetten be-
sungen, schien er den Ruhm der römischen
Cäsaren, wie es in einem Gedicht heißt,
überstrahlen zu wollen. Der einzige jedoch,
der an dieser Begeisterung keinen Anteil
nahm, war Michelangelo selbst. Er war und
blieb einsam und sann über die Tragik sei-
nes Lebensschicksals nach. Die an stete
Todesgedanken streifende Gemütsverfas-
sung, in der er sich während der Arbeit
am Jüngsten Gericht befand, wird kraß durch
einen kleinen Zwischenfall beleuchtet. Durch
einen Sturz vom Gerüst nämlich, kurz vor
Beendigung des Gemäldes, hatte er sich

eine ziemlich starke Verletzung des Beines
zugezogen. Anstatt aber einen Arzt zu Rate
zu ziehen, verschloß er sich in sein Haus,
wo er niemand hereinließ und in der Ein-
samkeit sterben wollte. Keinem ist es bis-
her eingefallen, in der Riesenschöpfung des
Jüngsten Gerichtes einen Widerschein der
damaligen Gemütsverfassung dessen zu su-
chen, der es erzeugte. Vierhundert Jahre
hindurch haben Künstler, Gelehrte und Men-
schen der verschiedensten Berufe jede Ge-
stalt dieses Gemäldes am Original und an
Photographien, mit Feldstechern, Spiegeln
und dem bloßen Auge betrachtet und stu-
diert. Da kam im Jahre 1923 der italie-
nische Professor der Anatomie Francesco
La Cava auf den Gedanken, ebenfalls ana-
tomische Studien an diesem gewaltigen Ge-
mälde zu machen. Er betrachtete es, wie
schon unzählige andere vor ihm, als ihn
plötzlich ein geheimnisvoller Schauer durch-
fuhr : Aus einem Faltenbündel, ziemlich im
Mittelpunkt des Gemäldes, blickte ihm das
schmerzverzerrte Antlitz Michelangelos ent-
gegen! Kein Zweifel konnte darüber be-
stehen bleiben. Michelangelo hatte sein eige-
nes Porträt in die Haut gemalt, die der
lebendig geschundene hl. Bartholomäus in
seiner linken Hand hält. Die symbolische
Bedeutung, die Michelangelo dem Bildnis
geben wollte, ist unverkennbar. Er wollte
sich der Nachwelt als den von seinen Zeit-
genossen lebendig Geschundenen darstellen;
eine ungeheure Anklage, mit der sich der
größte Genius der Renaissance, Gerechtig-
keit heischend, an die späteren Geschlechter
wandte. Denn daß es solange unbemerkt
bleiben konnte, hat der Künstler selbst offen-
bar sehr geschickt einzurichten gewußt. Es
ist ein Antlitz, das einerseits einen unbän-
digen Zorn und andrerseits unüberwindliche
Furcht ausdrückt, das Bestreben, sich zu
rächen und gleichzeitig zu verbergen.
 
Annotationen