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Deutsche Gesellschaft für Christliche Kunst [Hrsg.]
Die christliche Kunst: Monatsschrift für alle Gebiete der christlichen Kunst u. der Kunstwissenschaft sowie für das gesamte Kunstleben — 21.1924/​1925

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Dussler, Luitpold: San Francesco in Assisi
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https://doi.org/10.11588/diglit.53139#0299

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SAN FRANCESCO IN ASSISI

II. Die Oberkirche
Von LUITPOLD DUSSLER

Zu den überraschendsten und stärksten Ein-
drücken, die der Fremde von Assisi emp-
fängt, gehört der Besuch der Oberkirche von
S. Francesco. Wohl kaum an einer zweiten
Stätte wird ihm mit solcher Eindringlichkeit
und Klarheit der Stilunterschied und die
geistige Auffassung zweier zeitlich aufein-
anderfolgenden Epochen vor Augen gestellt.
Liegt über der Unterkirche mit ihren ge-
drungenen Proportionen, der Massivität des
Mauerkerns und ihrer spärlichen Beleuch-
tung der Geist strengen Ernstes und aske-
tischer Zucht, ein Abgestorbensein von allem
Irdischen, wofür wir bestenfalls nur die
Krypten unserer romanischen Kirchen als
Parallele heranziehen können, so kennzeich-
nen die Oberkirche die stärksten gegentei-
ligen Elemente. Die freie, lichte Weiträu-
migkeit, die klare Sichtbarkeit des Baukör-
pers und seiner Struktur lösen ein Gefühl
der Erhebung aus. Ihrer Anlage nach hat
die Oberkirche keinen wesentlichen verschie-
denen Grundriß von der Unterkirche in ihrer
ursprünglichen Fassung: ein einschiffiges
Langhaus mit vier nahezu quadratischen
Gewölbefeldern, ein Querschiff mit drei qua-
dratischen Gewölben und eine fünfseitige
Apsis. Das Neue, Entscheidende aber liegt
im Aufbau der Kirche, im gotischen System,
das hier auf südlichem Boden, wenn nicht
zum erstenmal, so doch als eines der frühe-
sten Denkmäler dieses Stils zur Anwendung
kommt und für eine Reihe von Bettels-
ordenskirchen Toskanas und Umbriens vor-
bildlich wurde. Freilich ist der Charakter
dieser italienischen Gotik, trotz seiner Ab-
leitung vom klassischen Land des gotischen
Stiles, von Frankreich (in unserem Fall Bur-
gund) völlig verschieden von der nordischen
Gotik : der Wand als solcher bleibt ihr Recht
zuerkannt und sie dient nach wie vor für
die Freskenmalerei; gerade die wesentlich-
sten Elemente der nordischen Gotik, wie die
Auflösung und Negierung der Wand, das

Dynamische und Funktionelle im Aufbau,
der starke Bewegungsdrang, sind in der
italienischen Gotik auf ein Geringes redu-
ziert, weil es ihrer Auffassung von Monu-
mentalität und ihrer anthropomorphen Bau-
vorstellung widerspricht. So haben wir in
der Oberkirche von S. Francesco wohl die
Übernahme gotischer Formprinzipien, wie
die steilaufsteigenden Kreuzgewölbe, als
deren Träger schlanke Säulenbündel vor den
Pfeilern dienen, hohe, spitzbogige Fenster,
die über das Innere eine so lichte Stimmung
verbreiten, die vertikale Gliederung, aber
der bestimmende Eindruck für den Nord-
länder ist weniger das Gefühl der Verwandt-
schaft mit den heimischen Kathedralen als
die Ahnung einer inneren Zusammengehörig-
keit dieser italienischen Gotik mit der Renais-
sance. Gleichwohl spricht kaum irgendwo
in solcher Geschlossenheit der Geist des Mit-
telalters als in der Oberkirche von San Fran-
cesco, deren dekorative Ausstattung aus
umfangreichen Freskenzyklen an den Wän-
den des Langhauses, des Querschiffes und
des Chors besteht. Über die Entstehungs-
zeit dieser wichtigen Malereien ist kein
authentisches zeitgenössisches Zeugnis er-
halten, weshalb die Ansicht über die Datie-
rung und den Anteil der Künstler noch
immer zur Diskussion steht. Die Reihe der
älteren Fresken, zwischen Mitte der sieb-
ziger Jahre und dem Ausgang des 13. Jahr-
hunderts entstanden, schmücken in fortlau-
fender Folge in je zwei Zonen die Ober-
wände des Langhauses: es ist ein Kreis von
Szenen des Alten und Neuen Bundes, die je-
weils symbolisch einander gegenüberstehen;
die Folge beginnt am Querschiff und ver-
läuft in Richtung zum Hauptportal der
Kirche; auf der rechten Seite, obere Reihe:
die Erschaffung Adams, Evas Sündenfall,
die Vertreibung aus dem Paradies, der Engel
als Paradieswächter (zerstört), das Opfer
Kains (zerstört), der Brudermord (fast zer-

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