Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 6.1931

DOI Artikel:
Rundschau
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.13708#0405

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
raumes als eine Notwendigkeit selbst bei viel kleinerem
Raumprogramm empfinden: neben dem eigentlichen
Wohnraum muß ein Raum gegeben sein, in den man
sich zurückziehen kann, um zu lesen, zu schreiben, in
dem absolute Ruhe herrscht, so daß das Bedürfnis
eines Bewohners nach Konzentration und Stille nicht
gleich alle übrigen Mitbewohner zum Schweigen und
Stillsitzen verurteilt. Oder sollten in diesem Haus, das
„nicht für eine ,sparsame', irgendwie eingeschränkte
Lebensführung" bestimmt ist, die Schlafräume als Behelf
neben dem großen Wohnraum dienen müssen?

Aber besteht nicht, abgesehen von solchen praktischen
Notwendigkeiten, neben dem Bedürfnis des modernen
Menschen nach solchen weiten, gegen den Freiraum ge-
öffneten Räumen, deren „Rhythmus seine Lösung erst im
Einswerden mit dem Allraum der Natur findet" (Riezler),
ein ebenso starkes Bedürfnis nach Räumen, die voll-
kommene Abschließung gestatten, in die nicht die Natur
hereinflutet, sondern die sich deutlich von ihr distanzieren
und dadurch eine geistige Konzentration geben, die ein
derart geöffneter Raum nie geben wird. Eine Diffe-
renzierung des Wohngeschosses in einen „offenen"
Wohnraum und einen „geschlossenen" Arbeitsraum ist
also ebenso praktisches, wie psychisches Bedürfnis, das
im Haus Tugendhat zugunsten reicherer Artikulation des
Gesamtraumes vernachlässigt ist.

Man wird schließlich noch fragen müssen, ob die Ab-
trennung der reizvoll als Halbrund formierten Speise-
nische in ihrer halboffenen Form genügt, ob nicht eine
wenigstens zeitweise völlige Schließung dieses Raum-
teiles ermöglicht werden müßte, um nicht dem gesamten
Wohnraum die Speisedünste mitzuteilen, aber auch um
das Decken und Abräumen des Speisetisches ohne
Störung vornehmen zu können.

Der Wohnraum, wie ihn Mies im Hause Tugendhat
formiert hat, ist, um mit Josef Frank zu reden, ein künst-
liches Atelier, ein Raum, der die unabsichtlichen Reize
eines großen verwinkelten, von Ständern durchstellten,
lichtdurchflossenen Atelierraums absichtlich verwirklicht,
ebenso wie die notgedrungene Primitivität des Wohnens
im Atelierraum in dem ununterteilten Einheitsraum. Ein
solches Wohnen ist reizend in einem „Haus für zwei",
wo aber die Familie größer ist und Dienerschaft hinzu-
tritt, gibt diese Form notwendig zu Störungen Anlaß.
Riezler betont, daß in diesem „Haus des echten Luxus"
das, „was noch vor kurzer Zeit als unentbehrlich im
Sinn einer luxuriösen Lebensführung galt", die „Flucht
von Gesellschaftsräumen", als überflüssig erachtet wurde.
Aber ist das Wohnen in diesem Einheitsraum nicht eben-
so ein Paradewohnen wie in der Flucht der alten Gesell-
schaftsräume, mit starrer Fixierung aller Funktionen im
Raum, mit einem gemaserten Paradeschreibtisch, der sich
allenfalls benutzen läßt, wenn alles entflohen ist, mit
einer so stilvollen Einheitlichkeit des Mobiliars, daß man
nicht wagen dürfte, irgendein altes oder neues Stück in
diese „fertigen" Räume hereinzutragen, mit Wänden, die
kein Bild zu hängen gestatten, weil die Zeichnung des
Marmors, die Maserung der Hölzer an die Stelle der
Kunst getreten ist.

Man wird Riezler zustimmen, daß man sich in diesen
Räumen dem Eindruck „einer besonderen Geistigkeit sehr
hohen Grades" nicht entziehen kann, wird aber zugleich
fragen, ob die Bewohner die großartige Pathetik dieser
Räume dauernd ertragen werden, ohne innerlich zu
rebellieren. Ist dieser herrlich reine, aber zugleich in
seiner Strenge und inneren Monumentalität als ständige
Umgebung unerträgliche Stil des Hauses Tugendhat nicht
im eigentlichsten Sinn ein Repräsentationsstil, für Emp-

fangsräume wie bei dem Pavillon von Barcelona und für
jede gleichartige Aufgabe geeignet, für alle mehr oder
weniger unpersönlichen Räume, seien es nun Repräsen-
tationsräume öffentlicher Ämter, seien es die noch immer
meist von den Dekorateuren bestrittenen Gesellschafts-
räume der Hotels, seien es Empfangsräume von Privat-
leuten — nicht aber für die Wohnräume, ohne die Be-
wohner zu einem Ausstellungswohnen zu zwingen, das
ihr persönliches Leben erdrückt. Man sollte Mies Auf-
gaben stellen, die seine „für die höchsten Aufgaben
der Baukunst" gerüstete Kraft an der richtigen Stelle ein-
setzen, dort, wo dem Geist ein Haus zu bauen ist, nicht,
wo die Notdurft des Wohnens, Schlafens, Essens eine
stillere, gedämpftere Sprache verlangt. B.

Die Frage, ob man in dem „Haus Tugendhat" wohnen
könne, müßte eigentlich von den Bewohnern beantwortet
werden. Aber auch ohne diese Antwort zu kennen, darf
man annehmen, daß das Haus zwar ganz nach den
Intentionen des Architekten, aber doch nicht ohne stän-
dige Fühlungnahme mit dem Bauherrn entstanden ist.
Schließlich ist es ja ein Auftrag und kein Ausstellungs-
haus, das nur als Manifest des Architekten zu gelten
hätte. Allerdings ist es auch als Auftrag so etwas wie
ein Manifest, — auch der Bauherr wollte, indem er
gerade diesem Architekten bei dem Auftrag freie Hand
ließ, offenbar für die neue Wohnform manifestieren.
Hierbei versteht es sich von selbst, daß die Idee ganz
rein und ohne Kompromisse verwirklicht wird.

Es ist nur die Frage, ob diese Reinheit der Idee wirk-
lich, wie die Kritik behauptet, die „Bewohnbarkeit" des
Hauses wesentlich beeinträchtigt. In der Hauptsache
richtet sich die Kritik gegen das Fehlen abgeschlossener
Räume neben dem großen Wohnraum. Wofür wird der
große Raum beansprucht? Unter Tags ist der Herr des
Hauses an seiner Arbeitsstätte, die Kinder sind in der
Schule oder in ihren Zimmern, der Wohnraum steht also
der Frau des Hauses uneingeschränkt zur Verfügung.
Abends oder Sonntags läßt er sich durch die Vorhänge
so teilen, daß man gut in der Bibliothek lesen, am
Schreibtisch schreiben und in dem anderen Raumteil sich
ruhig unterhalten kann, ohne sich mehr zu stören, als in
zwei ineinandergehenden Zimmern einer üblichen Woh-
nung. Besteht wirklich für ein Glied der Familie einmal
das Bedürfnis, allein zu sein oder sich zu einer Be-
sprechung zurückzuziehen, so steht nichts im Wege, daß
dazu auch einmal das Schlafzimmer, in dem ja außer
dem Bett heute nichts mehr an seine eigentliche Be-
stimmung erinnert, benutzt wird. Das wird aber immer
die Ausnahme sein, — im allgemeinen ist ja gerade das
der Sinn des „neuen Wohnens", daß außerhalb der
Berufsarbeit kein solches Bedürfnis nach individueller Ab-
sonderung, d. h. nach Betonung der „Persönlichkeit" mehr
besteht. — Was aber das Fehlen eines eigenen Speise-
zimmers anlangt, so ist dem übelstand der Speisen-
gerüche mit den Mitteln einer modernen Ventilation sehr
leicht abzuhelfen (noch wichtiger ist übrigens hierfür die
in unserem Falle sehr sorgfältig durchgeführte Ab-
trennung der Küche).

Eine andere Frage ist die, ob die Bewohner imstande
sind, die „großartige Pathetik" dieser Räume auf die
Dauer zu ertragen, ob sie nicht zu einem „Ausstellungs-
wohnen" gezwungen sind, das ihr persönliches Leben
erdrückt. Nun ist es ja eine bekannte Tatsache, daß die
Menschheit in den letzten Jahrzehnten in den Wohnungen
das unglaublichste Pathos ertragen hat, — einfach des-
halb, weil ein Pathos, das man immer um sich hat, als

393
 
Annotationen