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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 34.1923

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Lang, Hugo: Von der optimalen Form: Gesetz und Freiheit in der Gestaltung
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https://doi.org/10.11588/diglit.10459#0245

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VON DER OPTIMALEN FORM

gesetz und freiheit in der gestaltung

Es gibt für jedes Ding«, sagt der Biotechniker Raoul
H. France, — »sei das nun eine Sache oder ein Ge-
danke, gesetzmäßig nur eine Form, die allein dem
We s e n des Dinges entspricht und die, wenn sie geändert
wird, nicht den Ruhezustand, sondern Prozesse auslöst.
Diese Prozesse wirken zwangsläufig, — nämlich gesetz-
mäßig durch immer wieder einsetzende Zerstörung der
Form, bis wieder die »optimale«, die essentielle Ruhe-
form erreicht ist, in der Form und Wesen wieder eins
sind . . Jede Form ändert sich, keine ist dauernd, bis sie
nicht die optimale Form ist, die dann stets dem Wesen
der Dinge entspricht. Ununterbrochen werden so durch
eine automatische Welt-Selektion die Formen »ausge-
lesen«, und alles Unvollkommene ruht solange nicht, bis
es nach seiner Art vollkommen wird. Alle Änderungen
vollziehen sich aber auch im Rahmen des Gesetzes vom
»kleinsten Kraftmaß«, das, auf die Prozesse angewendet,
auch »Ökonomie-Gesetz« heißen kann. Der kürzeste
Weg, auf dem ein Prozeß sein Ende erreicht, ist sein
Naturgesetz; der kleinste Widerstand, den ein Ding gegen
die Herstellung seiner dauernden Ruheform leistet, wird
erreicht, wenn es seine optimale Form, seine »Funktions-
Form« in mathematischem Sinn annimmt........

In der Natur sind alle Formen erstarrte Prozesse,
ist jede Gestaltung, an der wir uns ergötzen, eine »Not-
wendigkeit« . . Ein bestimmtes, in hundert Variationen
wechselndes Spannungs-System äußert sich als »Kristall-
form«. Wo immer Spannung und Druck die gleichen
Aufgaben zu erfüllen hat, entsteht die gleiche Kristall-
form . . Der von Menschenhand geformte Holzklotz oder
der Baustein oder das Glasstück entfaltet so lange nicht
die einem Würfel oder Prisma innewohnenden Eigen-
schaften, bis wir ihm nicht die Würfel- oder Prismen-
Form geben. Zwangsmäßig schaffen wir die Natur nach,
um unseren Werken die Eigenschaften der Natur zu
verleihen . . Alles, was »ziehen« soll, muß bandförmig
sein: das »Band« ist die optimale technische Form des
Zuges. Alles, was sich »stützen« will, muß sich auf einen
»Stab« stützen. Alles, was »bohren«, durch etwas dringen
soll, muß die Form der »Schraube« haben . . Kristall-
form, Kugel, Fläche, Stab und Band, Schraube und Kegel:
das sind die grundlegenden technischen Formen der
ganzen Welt. Die Natur hat nichts anderes hervorge-
bracht, und der Menschengeist mag schaffen, was er will,
er kommt immer nur zu Kombinationen und Variationen

dieser sieben elementaren Grundformen.........

Da steht ein Haus vor meinen Augen, eine der schönen
alten Giebelbauten des angehenden Mittelalters. Ich lege
meinen Maßstab an, und was ist es?: ein Würfel, auf
dem das Dach als »Prisma« sitzt. Die Dachwand sind
»Flächen«; in den Voluten des Giebels kehren die
Schneckenlinien der »Schraube« wieder, an der Fenster-
umrahmung liegen »Stäbe«, die Einfahrts-Halle stützen
Säulen d. h. runde Stäbe, den Dachreiter bekrönt eine
»Kugel«, — vom Größten bis ins Kleinste ist an diesem
schönen alten Bau nichts, was nicht aus den sieben tech-
nischen Grundformen abzuleiten wäre . . Auf meinem
Arbeitstisch blickt jeden Tag ein Strauß frischer Feld-
blumen zu mir herüber. Hart-Heu, Knautien, die Cam-
panula derWiesen, Hornklee und Flockenblumen. Sinnend
analysiere ich ihre Formen: »Flächen« sind Blatt und

Blumenblatt, in der Krone der Glockenblume sind die
Rundung der »Kugel«, die Formen des »Kegel«-Mante's
mit »Flächen« zusammengefügt. Wie in einem Rokoko-
Ornament kehrt die Muschellinie und die Schraubenfläche
wieder, die ja beide Abkömmlinge der »Spirale« sind;
die Stengel sind Stäbe, — alle Grundformen sind zwar
umgeprägt in sinnvolles Leben, aufs höchste verwickelt
und abgewandelt, aber nach einer Viertelstunde Schauen
und Denken habe ich noch immer nichts anderes gefunden,
als die sieben elementaren Formbestandteile der Welt. .

Ich trete vor einer modernen Dampfmaschine, eine
Lokomotive: an jedes Maschinen-Element lege ich mein
Maß der sieben technischen Formen an und jedes löst
sich auf: in Scheiben, Stangen, Schraubenflächen, Kristall-
formen, Kegel, Kugelflächen. Es gibt keine Form derTech-
nik, die nicht aus den Formen der Natur ableitbar wäre. .

Da überkommt mich langsam die Erschütterung vor
der Größe der Einsicht, was hier eigentlich vorliegt!
So groß können also Gesetze sein, daß sie alles Leben
auf eine Formel bringen! . Alles, was man anrührt, wird
Asche in der Flamme dieses Gedankens . . Alle Formen,
sogar die des Menschenleibes selbst, die jeder künstle-
rischen Gestaltung lösen sich auf in dieser Flamme, sie zer-
gehen in die magische Formel der sieben Welt-Elemente«.

*

Diese Gedankengänge bedürfen eines Nachwortes, da
sie geeignet sind, nicht nur anregend, sondern auch ver-
wirrend zu wirken. Sie bergen Wahres und Falsches,
sie zeigen in seltsam eindringlicher Weise das Erlebnis
des durch Teil-Wissen geblendeten Menschengeistes, der
in einseitig - rationalistischer Blick - Richtung nur das
elementare »Gesetz« und nicht die geistige »Freiheit«
erkennt, dem wohl »Wissen« aber nicht »Weisheit«
zuteil wurde; sie bergen ihre Negation in sich selbst . .

Wohl entspricht die optimale Form dem »Wesen«
der Dinge, — aber das Wesen des Menschen, das Wesen
des Kunstwerks ist unendlich und irrational, also bleibt
auch seine »optimale Form« immer und ewig unendlich
und unmeßbar, nie läßt sich das Leben »auf eine Formel«
bringen, nie der »Organismus« zergliedern wie der
»Mechanismus«, immer wird eine solche rationale Ana-
lyse nicht mit der erkannten, sondern mit der zerstörten
Form enden . . France selbst erlebt, wie alles »Asche«
wird in der Flamme seines »Wissens«! Es geht ihm, — der
in der holden Blume nur noch und nichts anderes als seine
»sieben Form-Elemente« sieht, — wie dem kleinen Kay
aus H. C. Andersens tiefsinnigem Märchen »Die Schnee-
königin«, der vom Spiegelsplitter dämonisch geblendet
in der trostlosen Eiswüste statt des »Vaterunsers« nur
noch das »große Einmal-Eins« herunterbeten kann. . .

Der schöpferische Mensch aber, der Mensch, der
sich nicht mit dem »Wissen« begnügt, das doch immer
»Stückwerk« bleibt, sondern sich als schaffendes Glied
der ewigen Schöpferkraft fühlt, sucht und verehrt nicht
nur die ewige »Wiederkehr des Gleichen«, sondern auch
das »ewig Neue« des ewig unergründlichen Lebens, —
nicht nur das elementare »Gesetz«, das alles Chaotische
bindet, sondern auch die unendliche »Freiheit des In-
dividuellen«, das sich im Strom des unerschöpflichen
Lebens immer von neuem sinnvoll als Sinnbild der höch-
sten schöpferischen Wesenheit manifestiert. hugo lang.
 
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