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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 34.1923

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Ritter, Heinrich: Versenkung in das Material: Meditation des Materials ist eine Kraftquelle
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https://doi.org/10.11588/diglit.10459#0379

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358

INNEN-DEKORATION

architekt leo nachtlicht —berlin

speise-zimmer in eiche. haus w.-st arg ard

VERSENKUNG IN DAS MATERIAL

meditation des materials ist eine kraftquelle

Der Kunsthandwerker, der am eigenen Leib erfahren
hat, welchen verschiedenenWiderstand die einzelnen
Hölzer der Säge, dem Hobel, dem Stemmeisen, dem
Schnitzmesser entgegensetzen, der das bildsame Linden-
holz, die glasige Buche, die zähe Eiche, den harten Nuß-
baum im ganzen Verarbeitungsprozeß durchgeschmeckt
hat, der das Furnieren, Beizen, Polieren, das Leimen,
Zwingen, Nageln selbst geübt hat, erringt damit nicht
nur technische Fähigkeiten. Vielmehr wird seine ganze
Vorstellung so durchtränkt mit guten, gewachsenen Holz-
gedanken, daß seine Phantasie ganz von selbst zum
rechten Formen und Schaffen kommt, ja daß seine
Hand schon, sich selbst überlassen, sich in guten, halt-
baren Formgedanken ausspielt, ohne daß er an ein
scharf bewußtes Spintisieren und Grübeln gehen muß.



Sich in das Material auf diese Weise versenken,
heißt Quellen der Kraft und der Eingebung aufschließen,
die dem ganzen Menschen zugute kommen, heißt eine
Verbindung mit dem Material eingehen, in der man ihm
nicht mehr als ein fremdes Wesen gegenübersteht, son-
dern mit ihm verwächst zu einem einzigen Ich, sodaß uns
das Material nicht mehr ein Widerstand, ein Objekt ist,
sondern geradezu ein Organ, ein Glied, ein Werkzeug!
Solcher Umgang mit dem Material ist etwas ganz anderes

als eine bloße Erraffung technischer Fertigkeiten, es ist
ein wirkliches Meditieren des Materials, eine echte
Versenkungs-Übung, die erstens ganz allgemein zur
Vertiefung und Veredlung des Geistes wirkt und zwei-
tens das Material zu unserem Helfer macht, daß es uns
bilden und gestalten hilft, ohne daß wir es darum bitten.

*

In jenem Lande, aus dem fast alle Wissenschaft unserer
Esoteriker stammt, in Indien, galt das Handwerk mit
seiner Versenkung in Material und Arbeitsvorgang von
alters her als eine Art geistiger Disziplin und Übung
und wurde so zur höchsten menschlichen Angelegenheit,
zur Geistes-Zucht und Vertiefung der Einsicht in enge
Beziehung gesetzt. Ein alter indischer Weisheitslehrer
sagte mit Stolz von sich: »Ich habe mich sammeln
und versenken gelernt wie ein Pfeilmacher.«

*

Das heißt, dieser alte Weise hat die vollkommene
Hingabe eines redlichen Handwerkers an sein Material
und an seine Arbeit zum Vorbild für seine geistige Ver-
tiefung genommen. Er, der Hochgebildete und Gelehrte
hat den Handwerkern nachgeeifert, um endlich sagen zu
können, daß er dessen große und entscheidende Tugend,
sich mit allen Sinnen und Kräften in eine Sache
vertiefen zu können, erreicht habe . . Heinrich ritter.
 
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