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führen, ohne jedes Verständnis für deren wahren Wert, der sich nur dem offen-
bart, der mitempfinden kann. Wer dies nicht kann, der ist selbst mit einer weit-
gehenden technischen Ausbildung nicht im Vorteil gegenüber dem, der vom künst-
lerischen Ausüben nichts versteht. Man könnte einwenden: Nur durch Ausüben
gelangt man zum richtigen Mitempfinden, nur wer auf jedes Wort der Künstler-
sprache hören kann, steht ganz unter ihrem Eindruck. Ich will einen hervorragen-
den badischen Künstler darauf antworten lassen : „Wir Maler betrachten Gemälde
gern durch die Brille des Könnens, alle Feinheiten der technischen Darstellung
wissen wir voll zu würdigen, und wenn wir über ein Bild sprechen, dann heben
wir meistens Einzelheiten hervor, z. B.: „Der Ton steht gut“, oder „die Luft passt
nicht“ usw. Ich weiss wohl, dass das nicht die rechte Art ist, Gemälde zu be-
trachten, man sollte sich der Gesamtstimmung unterwerfen und das Bild geniessen,
nicht kritisieren. Aber bei uns Künstlern spricht eben das Interesse am Hand-
werk mit.“ Auf dem Mitempfindenkönnen beruht die Fähigkeit, Kunst zu geniessen.
Der Kunstunterricht muss die
Weckung dieser Fähigkeit als
sein Ziel stets im Auge behalten.
Auch das Ausüben muss unter
diesen Gesichtspunkt gestellt
werden, wenn es nicht bloss zu
einem Interesse am Handwerk-
lichen der Kunst führen soll.
Wir Zeichenlehrer müssen uns
hüten. Fanatiker zu werden ; das
sind wir, wenn wir glauben, dass
nur ein guter Zeichenunterricht
das Verständnis für die Kunst
erschliesse. Es gibt wirklich sehr
viele Menschen, die zu einem
gutenUrteil über Kunst gekommen
sind ohne jede Belehrung über
künstlerisches Ausüben. Wir
sollten darnach forschen, auf
welchem Wege diese zu dem gewünschten Ziele gelangt sind, und mit den gewonnenen
Erfahrungen unsern Kunstunterricht bereichern. Ich kenne einen älteren Herrn, der
das Betrachten von Kunstwerken für die Bildung seines inneren Menschen für ebenso
wichtig hält wie das Lesen von guten Büchern. Er hat nie Zeichnen gelernt; sein Ver-
ständnis für die Kunst ist abgeklärt und tief. Diesen Herrn fragte ich einst: „Wie sind
Sie zu dieser Fähigkeit, Kunst zu geniessen und zu verstehen, gekommen ?;‘ „Durch
zwei Lehrmeister: Der eine ist die Natur; dass ich sie recht sehen und an dem
Gesehenen mich erfreuen kann, das danke ich meinem Vater. Der andere Lehrmeister
wurde mir ein kurzes Wort, das ich als Student einmal hörte: „Beim Betrachten von
Gemälden soll man nicht mit einem fertigen Urteil: das gefällt mir, oder das gefällt
mir nicht, an sie herantreten, sondern mit dem Wunsche, den Künstler verstehen zu
lernen.“ Der erste Lehrmeister war die Natur: „Ich habe in ihr recht sehen und
an dem Gesehenen mich erfreuen gelernt.“ Das richtige Sehen muss zu einem
inneren Erleben führen. Können unsere Schüler zu einem solchen Sehen erzogen
werden? Sind sie während ihres schulpflichtigen Alters reif zu solchem Erleben
in der Natur? Der Däne Olfert Bicard, der 14 Jahre seines Lebens dem
Zusammenleben mit der Jugend Kopenhagens gewidmet hat und so gewissermassen
Vertrauter ihrer Empfindungen geworden ist, schreibt in seinem berühmten Werke
„Jugendkraft“: „Manche Jünglinge haben die Gabe, ihre Augen so zu gebrauchen,
dass sie immer etwas erleben, wenn sie nur so vor sich hinsehen. Ja, sie scheinen
sogar ihre eigene geschickte, schonende Weise im Umgang mit der Natur zu haben
und es ist, als ob die Natur das wüsste: ein Marienkäferchen kriecht ihnen zutrau-
lich am Arm auf und ab; sie finden die niedlichsten warmen, kleinen jungen
Abbildung 1.
führen, ohne jedes Verständnis für deren wahren Wert, der sich nur dem offen-
bart, der mitempfinden kann. Wer dies nicht kann, der ist selbst mit einer weit-
gehenden technischen Ausbildung nicht im Vorteil gegenüber dem, der vom künst-
lerischen Ausüben nichts versteht. Man könnte einwenden: Nur durch Ausüben
gelangt man zum richtigen Mitempfinden, nur wer auf jedes Wort der Künstler-
sprache hören kann, steht ganz unter ihrem Eindruck. Ich will einen hervorragen-
den badischen Künstler darauf antworten lassen : „Wir Maler betrachten Gemälde
gern durch die Brille des Könnens, alle Feinheiten der technischen Darstellung
wissen wir voll zu würdigen, und wenn wir über ein Bild sprechen, dann heben
wir meistens Einzelheiten hervor, z. B.: „Der Ton steht gut“, oder „die Luft passt
nicht“ usw. Ich weiss wohl, dass das nicht die rechte Art ist, Gemälde zu be-
trachten, man sollte sich der Gesamtstimmung unterwerfen und das Bild geniessen,
nicht kritisieren. Aber bei uns Künstlern spricht eben das Interesse am Hand-
werk mit.“ Auf dem Mitempfindenkönnen beruht die Fähigkeit, Kunst zu geniessen.
Der Kunstunterricht muss die
Weckung dieser Fähigkeit als
sein Ziel stets im Auge behalten.
Auch das Ausüben muss unter
diesen Gesichtspunkt gestellt
werden, wenn es nicht bloss zu
einem Interesse am Handwerk-
lichen der Kunst führen soll.
Wir Zeichenlehrer müssen uns
hüten. Fanatiker zu werden ; das
sind wir, wenn wir glauben, dass
nur ein guter Zeichenunterricht
das Verständnis für die Kunst
erschliesse. Es gibt wirklich sehr
viele Menschen, die zu einem
gutenUrteil über Kunst gekommen
sind ohne jede Belehrung über
künstlerisches Ausüben. Wir
sollten darnach forschen, auf
welchem Wege diese zu dem gewünschten Ziele gelangt sind, und mit den gewonnenen
Erfahrungen unsern Kunstunterricht bereichern. Ich kenne einen älteren Herrn, der
das Betrachten von Kunstwerken für die Bildung seines inneren Menschen für ebenso
wichtig hält wie das Lesen von guten Büchern. Er hat nie Zeichnen gelernt; sein Ver-
ständnis für die Kunst ist abgeklärt und tief. Diesen Herrn fragte ich einst: „Wie sind
Sie zu dieser Fähigkeit, Kunst zu geniessen und zu verstehen, gekommen ?;‘ „Durch
zwei Lehrmeister: Der eine ist die Natur; dass ich sie recht sehen und an dem
Gesehenen mich erfreuen kann, das danke ich meinem Vater. Der andere Lehrmeister
wurde mir ein kurzes Wort, das ich als Student einmal hörte: „Beim Betrachten von
Gemälden soll man nicht mit einem fertigen Urteil: das gefällt mir, oder das gefällt
mir nicht, an sie herantreten, sondern mit dem Wunsche, den Künstler verstehen zu
lernen.“ Der erste Lehrmeister war die Natur: „Ich habe in ihr recht sehen und
an dem Gesehenen mich erfreuen gelernt.“ Das richtige Sehen muss zu einem
inneren Erleben führen. Können unsere Schüler zu einem solchen Sehen erzogen
werden? Sind sie während ihres schulpflichtigen Alters reif zu solchem Erleben
in der Natur? Der Däne Olfert Bicard, der 14 Jahre seines Lebens dem
Zusammenleben mit der Jugend Kopenhagens gewidmet hat und so gewissermassen
Vertrauter ihrer Empfindungen geworden ist, schreibt in seinem berühmten Werke
„Jugendkraft“: „Manche Jünglinge haben die Gabe, ihre Augen so zu gebrauchen,
dass sie immer etwas erleben, wenn sie nur so vor sich hinsehen. Ja, sie scheinen
sogar ihre eigene geschickte, schonende Weise im Umgang mit der Natur zu haben
und es ist, als ob die Natur das wüsste: ein Marienkäferchen kriecht ihnen zutrau-
lich am Arm auf und ab; sie finden die niedlichsten warmen, kleinen jungen
Abbildung 1.