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Vögelchen und legen sie gleich wieder so hübsch in ihr Nest; es ist, als hätten sie
einen geheimen Bund mit der Natur geschlossen. Solche Gaben kann man während der
Knabenzeit schon in sich pflegen.“ Und unser Meister Hans Thoma erzählt aus
seiner Knabenzeit: „Die Dorfschule mit ihren Anforderungen war mir leicht und
liess mir viel Zeit, all’ das Licht und die Farben zu sehen, welche der Wechsel
der Jahreszeiten hervorbringt. Was hatte ich für Zeit, in die Wolken zu schauen,
von den Höhen ins Tal hinunter und hinauf zu den Bergen — das alles sah ich
so deutlich lange vorher, eh’ ich daran denken konnte, solche Sachen zu malen.
Die Vorschule des Sehens dauerte bis in mein zwanzigstes Jahr; dann erst kam
ich in die Kunstakademie, und dann quälte ich mich jahrelang, Erlebtes mit
Erlerntem zu vereinigen.“ Sicher handelt es sich hier um Ausnahmen, um besonders
begnadete Menschen. Diese Erkenntnis gibt uns aber nicht das Hecht, die Hände
in den Schoss zu legen mit der Entschuldigung: dem einen ist’s gegeben, dem
andern nicht. Lehrt uns nicht jedes kleine Kind, dass die Gabe des Erlebens
beim Sehen bei jedem ohne
Unterschied einmal schon
vorhanden war, dass sie bei
vielen nur wieder versiegt ist.
Das Schlummernde muss der
Lehrer im Kunstunterricht wie¬
der wecken; wir müssen unsere
Schüler wieder Sehen lehren.
Ich meine nicht das Sehen, das
wir beim ausübenden Zeichnen
schulen, sondern das Sehen,
das innerlich erfreut.
Als ich dieses Schuljahr
mit meinen 73 Sextanern (1.
Zeichenjahr) den Zeichenunter¬
richt begann mit der Auffor¬
derung: „Zeichnet, was ihr
könnt und was euch Freude
macht“, da mussten 22 von den
73, also beinahe der dritte Teil eingestehen: Wir haben noch gar nie gezeichnet. -
Habt ihr wirklich noch gar nie etwas gezeichnet? Vielleicht einmal ein Männlein?
Vielleicht ein Haus? — ihr habt doch sicher einmal einen Farbenkasten erhalten zu
Weihnachten oder zum Geburtstag? — Stets die eine Antwort: Nein. Darauf die
Frage an die ganze Klasse: AVer von euch hat eine Farbenschachtel oder Farbstifte?
34 von 73, also nicht einmal die Hälfte. Die Zeichnungen fielen darnach aus: 49
Schüler wussten nichts anderes darzustellen als Striche, Kreuze, Fähnlein, ein Pflanzen-
blatt etc.; 11 zeichneten Häuser und nur 13 offenbarten in ihren Zeichnungen jenen
Keichtum der Kinderseele an Bildern und Phantasie, den ich bei der Mehrzahl voraus-
zusetzen glauben durfte. Arme Stadtkinder! Arm an Natur, daher arm an Sehen,
daher auch arm am Erleben! Aehnliche Beobachtungen mache ich seit fünf Jahren
mit jeder neuen Sextaklasse.*) Wie machen sich solche Schüler im Zeichenunter-
richt? Auffallend gut. Die Stadtkinder sind aufgeweckt, verständig, sie folgen
leicht den Anregungen des Lehrers. Die Forrnengebung ist bei den meisten eine
charakteristische und energische. Ist mit diesen Fortschritten im Zeichnen, mit
der Schulung im zeichnerischen Beobachten der Armut im Sehen aufgeholfen?
Nein. Hier muss der Kunstunterricht eingreifen, er beginnt mit dem Sehen—lernen.
Das Sehen—lernen.
Kinder im Alter von 9—12 Jahren haben noch kein Verständnis für die
Stimmung, für die Seele der Natur. Ihr Interesse haftet am Einzelnen. Wir
*) Ich konnte im Laufe der Jahre feststellen, dass die Kinder, die überhaupt noch nie
gezeichnet haben, vorwiegend aus einer bestimmten Berufsklasse stammen. Ich gebe darüber
auf persönliche Anfragen gern weitere Auskunft.
Abbildung 2.
Vögelchen und legen sie gleich wieder so hübsch in ihr Nest; es ist, als hätten sie
einen geheimen Bund mit der Natur geschlossen. Solche Gaben kann man während der
Knabenzeit schon in sich pflegen.“ Und unser Meister Hans Thoma erzählt aus
seiner Knabenzeit: „Die Dorfschule mit ihren Anforderungen war mir leicht und
liess mir viel Zeit, all’ das Licht und die Farben zu sehen, welche der Wechsel
der Jahreszeiten hervorbringt. Was hatte ich für Zeit, in die Wolken zu schauen,
von den Höhen ins Tal hinunter und hinauf zu den Bergen — das alles sah ich
so deutlich lange vorher, eh’ ich daran denken konnte, solche Sachen zu malen.
Die Vorschule des Sehens dauerte bis in mein zwanzigstes Jahr; dann erst kam
ich in die Kunstakademie, und dann quälte ich mich jahrelang, Erlebtes mit
Erlerntem zu vereinigen.“ Sicher handelt es sich hier um Ausnahmen, um besonders
begnadete Menschen. Diese Erkenntnis gibt uns aber nicht das Hecht, die Hände
in den Schoss zu legen mit der Entschuldigung: dem einen ist’s gegeben, dem
andern nicht. Lehrt uns nicht jedes kleine Kind, dass die Gabe des Erlebens
beim Sehen bei jedem ohne
Unterschied einmal schon
vorhanden war, dass sie bei
vielen nur wieder versiegt ist.
Das Schlummernde muss der
Lehrer im Kunstunterricht wie¬
der wecken; wir müssen unsere
Schüler wieder Sehen lehren.
Ich meine nicht das Sehen, das
wir beim ausübenden Zeichnen
schulen, sondern das Sehen,
das innerlich erfreut.
Als ich dieses Schuljahr
mit meinen 73 Sextanern (1.
Zeichenjahr) den Zeichenunter¬
richt begann mit der Auffor¬
derung: „Zeichnet, was ihr
könnt und was euch Freude
macht“, da mussten 22 von den
73, also beinahe der dritte Teil eingestehen: Wir haben noch gar nie gezeichnet. -
Habt ihr wirklich noch gar nie etwas gezeichnet? Vielleicht einmal ein Männlein?
Vielleicht ein Haus? — ihr habt doch sicher einmal einen Farbenkasten erhalten zu
Weihnachten oder zum Geburtstag? — Stets die eine Antwort: Nein. Darauf die
Frage an die ganze Klasse: AVer von euch hat eine Farbenschachtel oder Farbstifte?
34 von 73, also nicht einmal die Hälfte. Die Zeichnungen fielen darnach aus: 49
Schüler wussten nichts anderes darzustellen als Striche, Kreuze, Fähnlein, ein Pflanzen-
blatt etc.; 11 zeichneten Häuser und nur 13 offenbarten in ihren Zeichnungen jenen
Keichtum der Kinderseele an Bildern und Phantasie, den ich bei der Mehrzahl voraus-
zusetzen glauben durfte. Arme Stadtkinder! Arm an Natur, daher arm an Sehen,
daher auch arm am Erleben! Aehnliche Beobachtungen mache ich seit fünf Jahren
mit jeder neuen Sextaklasse.*) Wie machen sich solche Schüler im Zeichenunter-
richt? Auffallend gut. Die Stadtkinder sind aufgeweckt, verständig, sie folgen
leicht den Anregungen des Lehrers. Die Forrnengebung ist bei den meisten eine
charakteristische und energische. Ist mit diesen Fortschritten im Zeichnen, mit
der Schulung im zeichnerischen Beobachten der Armut im Sehen aufgeholfen?
Nein. Hier muss der Kunstunterricht eingreifen, er beginnt mit dem Sehen—lernen.
Das Sehen—lernen.
Kinder im Alter von 9—12 Jahren haben noch kein Verständnis für die
Stimmung, für die Seele der Natur. Ihr Interesse haftet am Einzelnen. Wir
*) Ich konnte im Laufe der Jahre feststellen, dass die Kinder, die überhaupt noch nie
gezeichnet haben, vorwiegend aus einer bestimmten Berufsklasse stammen. Ich gebe darüber
auf persönliche Anfragen gern weitere Auskunft.
Abbildung 2.