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der Natur ist dem japanischen Volke mehr zum Gemeingut geworden als uns. In
den Tagebüchern meines Vaters, der 37 Jahre in China tätig war und während
dieserZeit zweimal nach Japan kam, fand ich folgende Stelle: ,, Der Japaner respektiert
das Leben der Pflanze. Nie habe ich gesehen, dass solche mutwillig abgerissen
oder verstümmelt werden. Eine vom Sturm geknickte Blüte lässt der vorübergehende
Japaner nicht ohne Hilfe; er richtet sie auf, bindet sie fest; er tröstet sie ob dem
Missgeschick wie ein liebes Kind. In ihren Gärten erbauen sie hohe Brücken, sie
führen nicht über Wasser, sie dienen nur dazu, die Blütenpracht der Bäume von
grösserer Nähe bewundern zu können. LTnsere Sitte, mehrere Blumen zu einem
Strauss zu binden, nennt der Japaner Barbarei. Er stellt einen einzigen Zweig
möglichst lang abgeschnitten in eine kleine Vase; er erfreut sich nicht nur an der
Farbe der Blüte, er will die ganze Erscheinung des Zweiges bewundern, den Blatt-
ansatz, die feine Bewegung der Stile, die Form der Blüte. Die Liebe zur Natur
ist diesem Volke zu einer Quelle der reinsten Freuden geworden. Eine Frucht
dieser Freude ist der Respekt vor dem Leben auch der kleinsten Pflanze.“ Die
Freude durch Sehen führt zum Respekt vor dem Leben — welche
Summe von Gemütsbildung durch den richtigen Gebrauch der Augen! Wir können
von den Japanern lernen.
2. Bei 13 — 14jährigen Schülern beginne ich mit der Weckung des Ver-
ständnisses für Harmonie.
Zunächst die Harmonie der Farbe. Ich fordere die Schüler auf, zu be-
obachten, wie sich z. B. das Blattgrün der Rosen ändert je nach der Farbe der
Blüte. Weiter gebe ich folgende Anregung: „Achtet auf besonders angenehm
wirkende Farbzusammenstellungen in der Natur.“ Die nächste Zeichenstunde er-
zählt ein Schüler: „Ich habe eine Kornblume gesehen vor einem Steinhaufen an
der Strasse. Das schöne Blau der Blüte ist mir noch nie so aufgefallen wie hier
gegenüber dem hellgrauen Hintergrund der Steine.“ Für Beispiele disharmonierender
Farben hat der Mensch gesorgt. Die Schüler lernen den Satz verstehen: Schön
ist, was den Eindruck des Ruhigen macht. Alles unangenehm Auffallende, besser
alles Herausfallende, stört die Harmonie der Farbe.
Es folgt die Weckung des Verständnisses für die Harmonie der Form.
Sie offenbart sich in jedem einzelnen Naturgebilde, aber nicht jede Gruppierung
derselben wirkt harmonisch. Warum erscheint jene Baumgruppe so in sich ab-
geschlossen? Warum jene andere nicht? Die Harmonie der Form beruht in der
Ueber- und Unterordnung; wo etwas zappelig, unruhig erscheint, da fehlt es hieran.
Auf dem harmonischen Zusammenwirken von Farbe und Form beruht der künst-
lerische Wert der Ornamente. Die Harmonie der Architektur liegt in den Mass-
verhältnissen, also in Ueber- und Unterordnung. Ein Spaziergang durch Strassen
mit guter Architektur ist ein grosser Genuss; auch eine Zeichenstunde kann dazu
verwendet werden.
3. Die Kunst des Sehens gipfelt darin, dass die Schönheit der Natur uns
nicht nur erfreut, sondern auch unser Gemütsleben anregt. „Beim Versenken in
die Natur muss von dem Grund unseres Seins etwas offenbar werden,“ sagt Hans
Thoma — und Arnold Böcklin: „Ich fand in der Natur mich selber, den mit sich
ringenden, an sich verzweifelnden, himmelhoch jauchzenden und zum Tode betrübten
Menschen.“
Dir lebt ein treuer Freund an jedem Ort,
In Freud und Leid spricht er das rechte Wort;
Die Sorgen schwinden, ruhig wird dein Sinn.
Wenn du ihn suchst —
All’ seine Schätze breitet er dir hin.
Er lässet sich von jedem finden
Und jedem ist er eigen ganz allein;
Nicht Geld nicht Gut kann dir ihn binden,
Doch hast du Seele, er ist dein.
der Natur ist dem japanischen Volke mehr zum Gemeingut geworden als uns. In
den Tagebüchern meines Vaters, der 37 Jahre in China tätig war und während
dieserZeit zweimal nach Japan kam, fand ich folgende Stelle: ,, Der Japaner respektiert
das Leben der Pflanze. Nie habe ich gesehen, dass solche mutwillig abgerissen
oder verstümmelt werden. Eine vom Sturm geknickte Blüte lässt der vorübergehende
Japaner nicht ohne Hilfe; er richtet sie auf, bindet sie fest; er tröstet sie ob dem
Missgeschick wie ein liebes Kind. In ihren Gärten erbauen sie hohe Brücken, sie
führen nicht über Wasser, sie dienen nur dazu, die Blütenpracht der Bäume von
grösserer Nähe bewundern zu können. LTnsere Sitte, mehrere Blumen zu einem
Strauss zu binden, nennt der Japaner Barbarei. Er stellt einen einzigen Zweig
möglichst lang abgeschnitten in eine kleine Vase; er erfreut sich nicht nur an der
Farbe der Blüte, er will die ganze Erscheinung des Zweiges bewundern, den Blatt-
ansatz, die feine Bewegung der Stile, die Form der Blüte. Die Liebe zur Natur
ist diesem Volke zu einer Quelle der reinsten Freuden geworden. Eine Frucht
dieser Freude ist der Respekt vor dem Leben auch der kleinsten Pflanze.“ Die
Freude durch Sehen führt zum Respekt vor dem Leben — welche
Summe von Gemütsbildung durch den richtigen Gebrauch der Augen! Wir können
von den Japanern lernen.
2. Bei 13 — 14jährigen Schülern beginne ich mit der Weckung des Ver-
ständnisses für Harmonie.
Zunächst die Harmonie der Farbe. Ich fordere die Schüler auf, zu be-
obachten, wie sich z. B. das Blattgrün der Rosen ändert je nach der Farbe der
Blüte. Weiter gebe ich folgende Anregung: „Achtet auf besonders angenehm
wirkende Farbzusammenstellungen in der Natur.“ Die nächste Zeichenstunde er-
zählt ein Schüler: „Ich habe eine Kornblume gesehen vor einem Steinhaufen an
der Strasse. Das schöne Blau der Blüte ist mir noch nie so aufgefallen wie hier
gegenüber dem hellgrauen Hintergrund der Steine.“ Für Beispiele disharmonierender
Farben hat der Mensch gesorgt. Die Schüler lernen den Satz verstehen: Schön
ist, was den Eindruck des Ruhigen macht. Alles unangenehm Auffallende, besser
alles Herausfallende, stört die Harmonie der Farbe.
Es folgt die Weckung des Verständnisses für die Harmonie der Form.
Sie offenbart sich in jedem einzelnen Naturgebilde, aber nicht jede Gruppierung
derselben wirkt harmonisch. Warum erscheint jene Baumgruppe so in sich ab-
geschlossen? Warum jene andere nicht? Die Harmonie der Form beruht in der
Ueber- und Unterordnung; wo etwas zappelig, unruhig erscheint, da fehlt es hieran.
Auf dem harmonischen Zusammenwirken von Farbe und Form beruht der künst-
lerische Wert der Ornamente. Die Harmonie der Architektur liegt in den Mass-
verhältnissen, also in Ueber- und Unterordnung. Ein Spaziergang durch Strassen
mit guter Architektur ist ein grosser Genuss; auch eine Zeichenstunde kann dazu
verwendet werden.
3. Die Kunst des Sehens gipfelt darin, dass die Schönheit der Natur uns
nicht nur erfreut, sondern auch unser Gemütsleben anregt. „Beim Versenken in
die Natur muss von dem Grund unseres Seins etwas offenbar werden,“ sagt Hans
Thoma — und Arnold Böcklin: „Ich fand in der Natur mich selber, den mit sich
ringenden, an sich verzweifelnden, himmelhoch jauchzenden und zum Tode betrübten
Menschen.“
Dir lebt ein treuer Freund an jedem Ort,
In Freud und Leid spricht er das rechte Wort;
Die Sorgen schwinden, ruhig wird dein Sinn.
Wenn du ihn suchst —
All’ seine Schätze breitet er dir hin.
Er lässet sich von jedem finden
Und jedem ist er eigen ganz allein;
Nicht Geld nicht Gut kann dir ihn binden,
Doch hast du Seele, er ist dein.