Es erübrigt, noch einiges über die Kunstbetrachtung in einer Gemälde-
galerie zu sagen. Der Besuch einer Kunstsammlung mit einer grossen Klasse
gehört mehr in das Gebiet der Unterhaltung als in das der Belehrung; man be-
schränke sich daher auf eine kleinere Anzahl von Schülern. Soll der Galerie-
besuch erfolgreich sein, dann muss er sich auf eine bestimmte Aufgabe konzentrieren.
Die ausschliessliche Betrachtung eines einzigen Gemäldes betrachte ich als die
letzte Aufgabe, nicht als die erste. Wie machen wir es, wenn wir eine uns noch
unbekannte Kunstsammlung oder Ausstellung besuchen. Am ersten Tage
schreiten wir durch die Säle, betrachten hier ein Gemälde dort eine Statue; wir
orientieren uns zunächst, die
Eindrücke sind zu mannigfaltig.
Für die folgenden Tage ergibt
sich als Frucht dieser Orien-
tierung der bestimmte Plan.
Einige Kunstwerke regen uns
besonders zum Mitempfinden
an, wir verlassen die Sammlung
nie, ohne sie noch einmal auf-
gesucht zu haben, und in den
letzten Tagen gilt unsere Be-
trachtung nur noch diesen Wer-
ken. Die Erinnerung an sie
wird eine bleibende sein, denn
die Betrachtung ist uns zu einem
Erlebnis geworden. Auch bei
meinen Schülern soll die erste
Galeriebesichtigung unter mei-
ner Führung eine Orientierung
sein. Dann kommt der be-
stimmte Plan; z.B.: Wir wollen
heute im Saal 12 die Land-
schaften ansehen. In unserer
Karlsruher Gemäldesammlung
besitzen wir einige vortreffliche
Landschaften von Schirmer. Die
Schüler erkennen, dass diese
Werke des älteren Malers in
der Technik und der zeich-
nerischen Auffassung stark ab-
weichen von den „Modernen“.
Eine dankbare Aufgabe ist es,
die Schüler erkennen zu lassen,
dass in der Verwirklichung des
eigen tl ich en Kunstgedan ken s
das Alte dem Neuen nicht nach-
steht. Gute Wirkung hatte
immer die vorherige Ankündigung der Aufgabe für die nächste Galeriebesichtigung; z.B.:
Wir wollen kommenden Sonntag solche Gemälde aufsuchen, auf denen wir Menschen
gross und erhaben dargestellt sehen. Zur festgesetzten Stunde traf ich meine Schüler
schon versammelt im Saal der Italiener des 16. Jahrhunderts.. Sie hatten sich
also vorher schon orientiert, einige erinnerten mich mit Recht an die Gemälde von
Feuerbach. Die nächste Besichtigung galt dann den Werken der älteren deutschen
Maler. Interessant gestaltet sich ein Galeriebesuch unter dem Gesichtspunkt der
Farbenbeobachtung. Eine vorbereitende Besprechung ist notwendig. Man macht die
Schüler aufmerksam auf die Unterschiede in der Landschaft am Morgen und am
Abend. Die Formen haben sich nicht geändert, wer ist also Träger der sich fortwährend
Schiilerarbeiten der Fachklasse für graphische Gewerbe der
Münchner Gewerbeschule (Leiter: Direktor Godron).
' Abbildung 1.