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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 11.1931

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Heft 1 (Januar 1931)
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Weismantel, Leo: Eine Rede vor der Festversammlung auf der Jahrestagung des Reichsverbandes deutscher Kunsterzieher in Breslau/ Pfingsten 1930
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https://doi.org/10.11588/diglit.28010#0010

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chen, wenn wir das Wort „sokratische Lehrweise" im
Munde führen: der Lehrer muß dem Kinde eine Auf-
gabe stellen, in deren Lösung es selbst die ihm not-
wendige Erkenntnis vorfindet. Wie das in der reinen
Schulpraxis sich auswirkt, sei in einem Beispiel erör-
tert:* nebeneinander auf einer Schulbank der unter-
sten Grundschulklasse sitzen zwei sechsjährige Kna-
ben, nennen wir sie Peter und Paul. Sie malen Bild-
chen und der Lehrer, der in unserem Sinne Kunst-
erzieher ist, nimmt nun die Bilder entgegen, die die
beiden Kinder gezeichnet haben. Es ist jedesmal eine
Landschaft und in jedem Bild kommen Bäume vor.
Peter, der, mit Britsch zu sprechen, bereits die Stufe
der Richtungsveränderlichkeit und die des endlosen
Übergangs der Glieder aus dem Ganzen erreicht hat,
zeichnet einen Baum, der aus der Erde kommt in end-
losem Übergang, dessen Stamm sich in endlosem
Übergang aufteilt in Äste, dessen Äste in endlosem
Übergang in Zweige und Blätter eingehen, also ein
von unten aus der Erde gewachsenes einheitliches
Gebilde, dessen Glieder eines aus dem anderen
sprießen. Daneben sitzt Paul. Seine Bäume sind nur so
ein blockartiges Etwas, was senkrecht steht und dar-
über ein rundes Etwas. Wir Erwachsene kämen viel-
leicht, wenn wir dies Gebilde nicht In einem Land-
schaftsbild sähen, ebensogut wie auf einen Baum auf
die Vorstellung eines Felsen kommen, auf dem eine
etwas unregelmäßige Kugel liegt. Das ist nun Pauls
Baum. Wie primitiv im Vergleich zum Baum Peters.
Die unterste Stufe der Richtungsunterscheidung nach
Britsch und beide Kinder gleich alt, auf derselben
Schulbank und in derselben Schulstundel Soll nun der
Lehrer Pauls Baum mit roter Tinte korrigieren oder
soll er ihm sagen: „dein Baum ist nichts, das ist ein
Geschmier, — schau einmal, wie schön Peter einen
Baum gemacht hat und nun mache es ihm nach"l
Paul, dieser arme Paul hat sich tolle Mühe gegeben.
Er war so eifrig beim Zeichnen, daß Ihm der Mund
offen stand und zuweilen die Zunge heraushing. Fast
hätte der Lehrer das Geiferlätzchen geholt. In Wahr-
heit ist Pauls Baum dort, wo Paul ist, im Stadium sei-
nes eigenen inneren Wachstums und der Lehrer kann
seinem Baum ebenso wenig angesichts von Peters
schon so reich entfaltetem Baum einen Vorwurf ma-
chen, wie der Gärtner im März der Rose den Vor-
wurf machen kann: „schau einmal das Veilchen an,
das blüht schon, schäme dich du Rose, du blühst noch
nichtl Denn jedem kommt die Blüte, aber jedem zu
der ihm von den Sternen gesetzten Stunde. Und so
lobt denn der Lehrer auch Pauls Baum und auch sein
Baum ist „schön", und ein Gebilde aus des Schöpfers
Hand. Doch nun sehen wir, was geschieht. Peters
Baum bleibt nun ein ganzes Jahr bis in die Mitte des
zweiten Schuljahres unverändert, immer der gleiche.
Aber Pauls Baum, dieser Stumpen von einem Baum,
fängt seltsam an sich zu verändern. In jedem Bild ist
Pauls Baum irgendwie noch derselbe und doch schon
ein anderer. Das runde Etwas der Krone auf dem
Stumpf des Stammes erhält nach vier Wochen auf ein-
mal Zacken rundum. Dann wächst die Krone einmal
hoch aus und wird seitwärts gezackt, als wolle Paul
eine Pappel zeichnen. Dann sinkt die Krone wieder
zusammen, bleibt aber rundum gezackt, aber in die-
sen runden Ball hinein legt Paul auf einmal Quer-
linien, die Äste. Sie liegen bunt aufeinander, gleich
Streichhölzern, die aus einer Schachtel gefallen sind.
Und wieder ein Vierteljahr später strebt der Stamm
seines Baumes etwas schlanker in die Höhe, weniger
ungelenk und die Krone wieder gezackt und wieder
liegen die Balken der Äste quer und an den Ästen
sitzen zum ersten Mal kleine Zweige mit kleinen Blätt-
chen. So verändert sich Pauls Baum durch eineinhalb
Jahre, und er gewinnt einen Zug um den anderen als
’ Das Lehrbeispiel isl entnommen der Sdiulpraxis des Hamburger
Lehrers O. Wommolsdorff.

neue Erkenntnis dazu. Sein Bild wird reicher und rei-
cher. Aber die Einzelerkenntnis: Stamm, Äste, Zweige,
Blätter, das Gezackte des Rundes, all das liegt noch
unverbunden in dieser Form, die aus nur addierten,
aufeinander gehäuften Teilformen besteht. Da, nach
eineinhalb Jahren, stellt der Lehrer Paul eine neue
Aufgabe. Die Knaben hatten im Wald ein Indianer-
spiel gespielt und sollten nun ein Bild schaffen dieses
Indianerspiels. Da flüstert der Lehrer Paul ins Ohr:
Heute Paul, wenn du einen Wald machst, mach du
einmal einen Baum, auf den die Indianer auch krab-
beln können. Und sieh da, Paul machte an diesem
Tage nun das Bild eines Baumes. Er zeichnete von
unten den Stamm, dann stockte er. Nun soll einer auf
diesen Baum krabbeln. Dann erst zaghaft, dann sicher
läßt er aus dem Stamm die Äste, aus den Ästen die
Zweige quellen. Er zeichnet nach anderthalb Jahren
einen Baum, dessen Glieder in endlosem Übergang
auseinander hervorgehen und erreicht so dieselbe
Stufe seiner Bildgestaltung, die Peter schon vor ein-
einhalb Jahren hatte. Eineinhalb Jahre waren die bei-
den neben einander gesessen. Der Lehrer hat gedul-
dig das Wachstum des einen verfolgt und zur rechten
Stunde durch Stellung einer neuen Aufgabe, die die
Lösung brachte, dem nach oben bohrenden Gestal-
tungswillen Pauls zum Durchbruch verholten. Dieser
kleine schulische Vorgang Ist für mich von allgemei-
ner Gültigkeit für die Forderungen, die wir an den
stellen müssen, den wir Kunsterzieher nennen.
Gewiß können Aufgaben eines technischen Zeich-
nens von außen her mit der Zeit gestellt werden. Es
sei noch nicht einmal gesagt, daß das nicht geschehen
soll — es mag geschehen, wo alltägliche Bedürfnisse
des Lebens das nahe legen, aber es sollen solche
schulische Kenntnisvermittlungen nicht verwechselt
werden mit einem Akt der Bildung, mit einem Aufbruch
von Erkenntnis, wie er hier soeben beschrieben wurde.
Und keinesfalls soll Kenntnisvermittlung als Ersatz gel-
ten für dieses aus den Kindern zu lösende Wachstum.
Es war ein Verbrechen, einem Kinde von sechs Jahren
es abzuverlangen, daß es 50 Pfund stemmt, wir sperr-
ten, und zwar mit Recht einen solchen Lehrer, der
beim Turnen dies versuchte und so unsere Kinder zu
Krüppeln machte, ins Zuchthaus, — aber das Gleiche
liegt vor, wenn Erkenntnisaufgaben, für die die Natur
etwa das 14. oder 25. oder gar erst 40. Jahr des Le-
bens ansetzt, von uns angesetzt werden für ein
9. Schuljahr oder für Untersekunda. Wir stehen hier
zugleich vor der Frage, ob denn diese Wachstums-
kräfte, die wir die schöpferischen Kräfte nennen,
nicht im Menschen erlöschen mit dem Alter der Puber-
tät. Es wird solches behauptet und man glaubt dies
durch Erfahrungen des Lebens begründen zu können.
Diese Auffassung ist irrig. Niemals hört der Quell des
Lebens auf zu fließen. Diese schöpferischen Kräfte
dringen auch über die Jahre, die wir die Jahre der
Pubertät nennen, hinüber in Frauen- und Mannestum
bis ins Greisenalter. Aber sie tun dies nur dann, wenn
jedem Alter von der Schule her und der Bildungs-
betreuung her jene Aufgaben gestellt worden sind,
die die Schöpfung selbst als organische Aufgaben für
dieses Seelen- und Geisteswachstum festgelegt hat.
Setzen wir aber Aufgaben von außen mit solcher Un-
vernunft und solcher Schwere, daß das eigene Wachs-
tum des menschlichen Geistes und der menschlichen
Seele erwürgt wird, dann sollen wir uns nicht wun-
dern, wenn die Kraftquelle versiegt. Dann sollen wir
uns anklagen, wir sind seine Mörder. Darum gibt es
kein größeres Verbrechen gegen den Geist als durch
Thesen und Dogmen a priori zu behaupten, dies oder
jenes sei möglich oder nicht. In verhängnisvollster
Weise wird Begabung sowohl dem einzelnen wie
ganzen Lebensaltern abgesprochen nur deshalb, weil
sie sich öffentlich nicht zeigt. Wo sie sich nichtöffent-
lich zeigt, haben wir zunächst keineswegs ihr Dasein

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