Nun wird Ihnen vielleicht noch eines zweifelhaft
sein. In den heutigen Schulstunden, in denen Kunst-
unterricht getrieben wird, taucht auch der Fotoappa-
rat, taucht auch das Kino, taucht auch der Rundfunk
und die Schallplatte auf. Sind das nicht Mittel der
Technik und muß ich nicht diese Mittel der Technik
nach meiner ganzen Einstellung auf das äußerste ver-
werfen? Ich bin des Glaubens, daß diese Mittel ein-
mal Mittel einer Nurtechnik sein können, dann sind
sie sinnlos und vertan. Was hilft es mir, rund um die
Erde sprechen zu können, wenn ich diese Kraft be-
nutze, Unsinn rundum zu schwätzen. Was hilft mir die
Möglichkeit, mit der Kinokamera das Leben abphoto-
graphieren zu können, wenn ich diese Kamera nur
dazu benutze, Ramschbilder des Lebens zu sammeln.
Aber ein ganz anderes ist dies: Ich halte diese neuen
Mittel des Kino, der Schallplatte, des Rundfunks usw.
für ganz große und ganz gewaltige Erkenntnisse des
menschlichen Geistes, die uns nicht gegeben sind,
daß wir mit ihnen Larifari treiben, sondern daß wir mit
ihnen vorstoßen in die neuen Räume der Welt, daß
wir auch jene neuen Räume des Lebens uns in ihrer
letzten Erhabenheit zu eigen zu machen. Ich sah vor
kurzem von einem heutigen Modemaler eine äußerst
dekorative Kreuzigung und eine ebenso blendende
Pieta, einen Menschen, der den Menschen verkündet,
er sei Gottes Sohn, ans Kreuz geschlagen und die
Mutter dieses Gottmenschen mit dem zerschlagenen
Leib ihres Sohnes im Schoß. Ich glaube, wahrhaft ein
Gegenstand, der an das Letzte rührt, was Menschen
je berührte, „ganz eigenartig," von „höchst persön-
licher eigener Auffassung" und in „fabelhafter Tech-
nik". Na ja, es war sehr „gekonnt" und irgendein
Kunstexote wird es gewiß teuer bezahlen. Aber ich
sah am gleichen Tage einen Propagandazettel eines
russischen Films, auf dem nur ein einziges Bild war:
eine vor wahnsinniger Angst schreiende Bäuerin.
WILHELM FRANTZEN-H ANNOVER:
UNSERE AUFGABE UND IHREZU
Vor einiger Zeit hörte ich von einem Amtsgenossen,
daß er seine Sextaner eine Zeitlang versuchsweise
völlig unbeeinflußt arbeiten lasse. Leider sind mir die
Ergebnisse dieses Unterrichts unbekannt geblieben.
Ich zweifle aber nicht daran, daß sie im Durchschnitt
ebenso stillos aussehen werden wie die, die ich jedes
Jahr in meiner eigenen Praxis während der Aufnahme-
prüfung für die Sexta erhalte.
Jeder Kunsterzieher soll sich Aufschluß darüber ver-
schaffen, wie die in die höhere Schule eintretenden
Grundschüler vorgebildet sind, damit er den Punkt
findet, wo er mit seiner Arbeit erfolgversprechend
einsetzen kann. Zu diesem Zwecke stellte ich in die-
sem Jahre den Jungen die Aufgabe, einen ,,Laubbaum"
zu zeichnen. Ich bat sie ausdrücklich, ihn in derselben
Weise zu gestalten, wie sie es bis dahin immer ge-
macht halten.
Das Ergebnis sah nicht anders aus, als es nach den
in den früheren Jahren voraufgegangenen Erfahrungen
zu erwarten war. Die meisten Jungen zeichneten jene
zufällig mal so, mal so ausfallenden Pfannkuchen, bes-
ser verglichen: jene üblichen Landkarten mit Buchten
und Halbinseln, in denen gekritzelte Linienzüge und
Strichelchen die Blätter vorstellen sollten, und von
denen sich hin und wieder nur zwei senkrechte Gera-
den in ihrer Bedeutung als Stamm und in ihrer der-
gestaltigen Einfachheit vorteilhaft abhoben. Die Zeich-
nungen dieser Bäume (siehe Bild 1 und 2), die doch
„ganz genau so" wie die Wirklichkeit werden sollten,
verrieten durchweg eine völlige Ratlosigkeit und
Oberflächlichkeit oder aber eine hemmungslose Frech-
heit des schaffenden Jungen. War das ein Zufall?
Warum sie schrie? Wer sie war? Ich weiß es nicht.
Aber ich könnte mir denken, daß sie etwa das Schick-
sal der Mütter von Bethlehem in jener Mordnacht mil-
gemacht hat. Ich werde im Leben dieses Gesicht nicht
vergessen. Ich werde so gewiß das Gesicht nicht ver-
gessen, das das Kino mir vermittelt hat, so gewiß es
ist, daß jene Kreuzigung und jene Pieta jenes Mode-
malers mich keinen Augenblick berührt hat. So kommt
es darauf an, ob wir diese neuen Mittel der Technik
in den Dienst eines großen Leberts stellen oder nicht.
Es ist nichts anderes, ob ich einen Bleistift in die
Hand nehme oder eine Kinokamera, denn beide, Blei-
stift und Kinokamera sind nur die Verlängerung mei-
ner Hand, die dort hin reicht, wo mein Auge sie hin
befiehlt. So verstehend leben wir nicht in einem Le-
ben der Technik, denn all das, was wir Technik nen-
nen, ist nur von außen gesehen Technik, von innen
her gesehen sind es die schöpferischen Lebensformen
unseres heutigen Geistes. So dienen uns diese heu-
tigen Mittel wie das Kino in Wahrheit zu einer heu-
tigen Weltanschauung zu kommen und die Fahnen
unserer Zeit zu entfalten. So dient das Radio neue
von uns erschlossene und eroberte Harmonien der
Welt rund um den Ball der Erde ertönen zu lassen
und von Erziehern zur Schaffung von Kunstgebilden
durch die Kunstgebilde zu Erziehern der Menschheit
zu werden. Es gilt die Menschheit zu formen, nicht
mehr den Einzelnen. Darum genügt der Bleistift nich(
mehr und für die eine Stimme nicht mehr der eine
Saal. Um aufzuzeigen, was uns an Gesichten zukommt,
bedarf es des rollenden Bandes der Kamera und der
Gestaltung, die wir auf ihm vollbringen und bedarf
es des Rednersaales der ganzen Welt, den das Radio
für eine einzige kleine Menschenstimme herbeischafft.
So wollen wir auch die neuen Mittel nicht verketzern,
sondern ihrer dankbar gedenken.
KUN FT
Neinl Denn ich stellte andere Aufgaben und machte
im Durchschnitt immer wieder dieselben Beobach-
tungen, nämlich: Mangel an einer vom Geistigen
aus einheitlich entwickelten Tektonik, Mangel an
einer vom Sinnlichen aus einheitlich durchgefühl-
ten Rhythmik, Mangel an dämonischer Un-
mittelbarkeit und damit selbstverständlich den
Mangel an formaler Qualität.
Als ich nun die sonst lebendigen Kerlchen fragte,
wer ihnen denn das so beigebracht hätte, er-
zählten sie mir mit einer Mischung von Begeisterung
und langsam erwachendem Mißtrauen von den zeich-
nerischen Fertigkeiten ihrer Eltern, Lehrer und Freunde.
Wer Humor hat, möge lachen. Wer ihn nicht hat,
möge schimpfen.
Wie ist es aber denkbar, daß ein meinetwegen nur
einigermaßen über primitive Gestaltungsstile unter-
richteter Amtsgenosse angesichts solcher Lei-
stungen auch nur den Versuch fertigbringt, die Schüler
völlig frei arbeiten zu lassenl Ist er sich nicht
klar, daß er dadurch die Schüler in ihrer unwider-
sprochen gelassenen Verkitschung noch bestärkt?
Vielleicht erweckt eine derartige Haltung den Ein-
druck, als ob der Lehrer folgerichtig nach dem Grund-
sätze „Alles vom Schüler aus" arbeiten lasse. Viel-
leicht soll sie sogar diesen Eindruck erwecken. „Den
Einsichtsvollen aber sollte es verdrießen."
Eine oberflächliche Durchsicht der ersten Unter-
richtsergebnisse müßte doch schon zu der Feststel-
lung genügen, daß die bildhafte Gestaltungskraft der
meisten Grundschüler mit geringen Ausnahmen bereits
in künstliche Bahnen gepreßt worden ist, daß bei
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sein. In den heutigen Schulstunden, in denen Kunst-
unterricht getrieben wird, taucht auch der Fotoappa-
rat, taucht auch das Kino, taucht auch der Rundfunk
und die Schallplatte auf. Sind das nicht Mittel der
Technik und muß ich nicht diese Mittel der Technik
nach meiner ganzen Einstellung auf das äußerste ver-
werfen? Ich bin des Glaubens, daß diese Mittel ein-
mal Mittel einer Nurtechnik sein können, dann sind
sie sinnlos und vertan. Was hilft es mir, rund um die
Erde sprechen zu können, wenn ich diese Kraft be-
nutze, Unsinn rundum zu schwätzen. Was hilft mir die
Möglichkeit, mit der Kinokamera das Leben abphoto-
graphieren zu können, wenn ich diese Kamera nur
dazu benutze, Ramschbilder des Lebens zu sammeln.
Aber ein ganz anderes ist dies: Ich halte diese neuen
Mittel des Kino, der Schallplatte, des Rundfunks usw.
für ganz große und ganz gewaltige Erkenntnisse des
menschlichen Geistes, die uns nicht gegeben sind,
daß wir mit ihnen Larifari treiben, sondern daß wir mit
ihnen vorstoßen in die neuen Räume der Welt, daß
wir auch jene neuen Räume des Lebens uns in ihrer
letzten Erhabenheit zu eigen zu machen. Ich sah vor
kurzem von einem heutigen Modemaler eine äußerst
dekorative Kreuzigung und eine ebenso blendende
Pieta, einen Menschen, der den Menschen verkündet,
er sei Gottes Sohn, ans Kreuz geschlagen und die
Mutter dieses Gottmenschen mit dem zerschlagenen
Leib ihres Sohnes im Schoß. Ich glaube, wahrhaft ein
Gegenstand, der an das Letzte rührt, was Menschen
je berührte, „ganz eigenartig," von „höchst persön-
licher eigener Auffassung" und in „fabelhafter Tech-
nik". Na ja, es war sehr „gekonnt" und irgendein
Kunstexote wird es gewiß teuer bezahlen. Aber ich
sah am gleichen Tage einen Propagandazettel eines
russischen Films, auf dem nur ein einziges Bild war:
eine vor wahnsinniger Angst schreiende Bäuerin.
WILHELM FRANTZEN-H ANNOVER:
UNSERE AUFGABE UND IHREZU
Vor einiger Zeit hörte ich von einem Amtsgenossen,
daß er seine Sextaner eine Zeitlang versuchsweise
völlig unbeeinflußt arbeiten lasse. Leider sind mir die
Ergebnisse dieses Unterrichts unbekannt geblieben.
Ich zweifle aber nicht daran, daß sie im Durchschnitt
ebenso stillos aussehen werden wie die, die ich jedes
Jahr in meiner eigenen Praxis während der Aufnahme-
prüfung für die Sexta erhalte.
Jeder Kunsterzieher soll sich Aufschluß darüber ver-
schaffen, wie die in die höhere Schule eintretenden
Grundschüler vorgebildet sind, damit er den Punkt
findet, wo er mit seiner Arbeit erfolgversprechend
einsetzen kann. Zu diesem Zwecke stellte ich in die-
sem Jahre den Jungen die Aufgabe, einen ,,Laubbaum"
zu zeichnen. Ich bat sie ausdrücklich, ihn in derselben
Weise zu gestalten, wie sie es bis dahin immer ge-
macht halten.
Das Ergebnis sah nicht anders aus, als es nach den
in den früheren Jahren voraufgegangenen Erfahrungen
zu erwarten war. Die meisten Jungen zeichneten jene
zufällig mal so, mal so ausfallenden Pfannkuchen, bes-
ser verglichen: jene üblichen Landkarten mit Buchten
und Halbinseln, in denen gekritzelte Linienzüge und
Strichelchen die Blätter vorstellen sollten, und von
denen sich hin und wieder nur zwei senkrechte Gera-
den in ihrer Bedeutung als Stamm und in ihrer der-
gestaltigen Einfachheit vorteilhaft abhoben. Die Zeich-
nungen dieser Bäume (siehe Bild 1 und 2), die doch
„ganz genau so" wie die Wirklichkeit werden sollten,
verrieten durchweg eine völlige Ratlosigkeit und
Oberflächlichkeit oder aber eine hemmungslose Frech-
heit des schaffenden Jungen. War das ein Zufall?
Warum sie schrie? Wer sie war? Ich weiß es nicht.
Aber ich könnte mir denken, daß sie etwa das Schick-
sal der Mütter von Bethlehem in jener Mordnacht mil-
gemacht hat. Ich werde im Leben dieses Gesicht nicht
vergessen. Ich werde so gewiß das Gesicht nicht ver-
gessen, das das Kino mir vermittelt hat, so gewiß es
ist, daß jene Kreuzigung und jene Pieta jenes Mode-
malers mich keinen Augenblick berührt hat. So kommt
es darauf an, ob wir diese neuen Mittel der Technik
in den Dienst eines großen Leberts stellen oder nicht.
Es ist nichts anderes, ob ich einen Bleistift in die
Hand nehme oder eine Kinokamera, denn beide, Blei-
stift und Kinokamera sind nur die Verlängerung mei-
ner Hand, die dort hin reicht, wo mein Auge sie hin
befiehlt. So verstehend leben wir nicht in einem Le-
ben der Technik, denn all das, was wir Technik nen-
nen, ist nur von außen gesehen Technik, von innen
her gesehen sind es die schöpferischen Lebensformen
unseres heutigen Geistes. So dienen uns diese heu-
tigen Mittel wie das Kino in Wahrheit zu einer heu-
tigen Weltanschauung zu kommen und die Fahnen
unserer Zeit zu entfalten. So dient das Radio neue
von uns erschlossene und eroberte Harmonien der
Welt rund um den Ball der Erde ertönen zu lassen
und von Erziehern zur Schaffung von Kunstgebilden
durch die Kunstgebilde zu Erziehern der Menschheit
zu werden. Es gilt die Menschheit zu formen, nicht
mehr den Einzelnen. Darum genügt der Bleistift nich(
mehr und für die eine Stimme nicht mehr der eine
Saal. Um aufzuzeigen, was uns an Gesichten zukommt,
bedarf es des rollenden Bandes der Kamera und der
Gestaltung, die wir auf ihm vollbringen und bedarf
es des Rednersaales der ganzen Welt, den das Radio
für eine einzige kleine Menschenstimme herbeischafft.
So wollen wir auch die neuen Mittel nicht verketzern,
sondern ihrer dankbar gedenken.
KUN FT
Neinl Denn ich stellte andere Aufgaben und machte
im Durchschnitt immer wieder dieselben Beobach-
tungen, nämlich: Mangel an einer vom Geistigen
aus einheitlich entwickelten Tektonik, Mangel an
einer vom Sinnlichen aus einheitlich durchgefühl-
ten Rhythmik, Mangel an dämonischer Un-
mittelbarkeit und damit selbstverständlich den
Mangel an formaler Qualität.
Als ich nun die sonst lebendigen Kerlchen fragte,
wer ihnen denn das so beigebracht hätte, er-
zählten sie mir mit einer Mischung von Begeisterung
und langsam erwachendem Mißtrauen von den zeich-
nerischen Fertigkeiten ihrer Eltern, Lehrer und Freunde.
Wer Humor hat, möge lachen. Wer ihn nicht hat,
möge schimpfen.
Wie ist es aber denkbar, daß ein meinetwegen nur
einigermaßen über primitive Gestaltungsstile unter-
richteter Amtsgenosse angesichts solcher Lei-
stungen auch nur den Versuch fertigbringt, die Schüler
völlig frei arbeiten zu lassenl Ist er sich nicht
klar, daß er dadurch die Schüler in ihrer unwider-
sprochen gelassenen Verkitschung noch bestärkt?
Vielleicht erweckt eine derartige Haltung den Ein-
druck, als ob der Lehrer folgerichtig nach dem Grund-
sätze „Alles vom Schüler aus" arbeiten lasse. Viel-
leicht soll sie sogar diesen Eindruck erwecken. „Den
Einsichtsvollen aber sollte es verdrießen."
Eine oberflächliche Durchsicht der ersten Unter-
richtsergebnisse müßte doch schon zu der Feststel-
lung genügen, daß die bildhafte Gestaltungskraft der
meisten Grundschüler mit geringen Ausnahmen bereits
in künstliche Bahnen gepreßt worden ist, daß bei
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