EDITHA VORGANG, BERLIN-SCHÖNEBERG: KIND UND GROS STADT
Die heutige Schule will Erziehung zum Leben. Wie
könnte sie das besser als durch Anknüpfung an
das Leben selber, als dadurch, daß alles, was Leben
bedeutet, was lebensvoll ist, Mittelpunkt und Frage
des Unterrichts wird.
Weckung der Jugend steht als Ziel über der ge-
samten Schule, Weckung zum Miterleben der unend-
lichen Fülle der Erscheinungen und Offenbarungen
des Lebens. Gerade in unserm Unterricht bieten sich
die vielfältigsten Möglichkeiten ans Leben anzuknüp-
fen, an den Alltag, an den Feiertag, an die Umgebung,
an alle großen Ereignisse der Zeit, an den Schüler
selbst. Mit der Kunsterziehung nehmen wir stärksten
Anteil an den heutigen Zielen der Menschenbildung.
Lebendiges Gestalten aus lebendigem Erleben, be-
glückendes Lösen aller schöpferischen Kräfte; dazu
möchten wir unserer Jugend helfen.
Das Thema „Großstadt" bietet eine unendliche
Fülle von lebendigsten Anregungen. Dies Wort allein
weckt Gesicht um Gesicht, es ist sprühendes- blit-
zendes, brodelndes Leben. Wer von klein auf in dem
Hexenkessel der Großstadt lebt, wer täglich und
stündlich das rasende Herz des Lebenszentrums
schlagen hört, dem muß es irgendwie Gestaltung
bringen. Auch schon das .Kind geht hierin auf und
unter. Die Stadt, die Umgebung seines kleinen Le-
bens ist sein hauptsächlicher Lebensinhalt. Es hört,
es sieht ja noch viel durstiger, viel intensiver als der
Erwachsene. Und die ungeheuren Dinge, die es da
umgeben, dringen in sein Herz, in sein Gehirn — der
kleine werdende Mensch sucht nun irgendwie damit
fertig zu werden. Zuerst werden nur einzelne, wenig
zusammenhängende Dinge im Innern des Kindes haf-
ten bleiben. Es sieht die Straßenbahn, das Auto, die
Lichtsäule, den Schutzmann usw. Später reihen sich
um diese Einzelheiten immer mehr dazu gehörige
Dinge. Um die Lichtsäule die wartenden Menschen,
um den Schutzmann Autos, Menschen, Wagen, Lärm
und Krach usw.
Dann kommt der Zeitpunkt, wo das Kind schon ein
Ganzes erfaßt, ein geschlossenes Bild: die Straßen-
ecke, der Platz, der Bahnübergang, die Untergrund-
bahnhalle, bis es in immer weiterem Erleben eine
unendliche Fülle von Eindrücken kaum noch zu fassen
vermag und nun schon mit Schwierigkeiten kämpft,
aus der Fülle das eigentlich Wesentliche herauszu-
schälen, aus einem gewaltigen Chaos von Erlebnissen
ein geschlossenes Bild zu gestalten, sich wieder zu
beschränken im Bildausdruck, nachdem es zuvor nicht
genug Reichtümer des Erlebens sammeln konnte.
Und endlich der erwachsene Schüler, das gereifte
Kind sieht nicht mehr nur die Dinge selbst, sondern
sucht das, was hinter ihnen ist, es will den Sinn des
Treibens, des Lebens erfassen. Wenn es jetzt gestal-
tet, so sucht es Symbol zu geben des Gesehenen
und Erlebten. Jetzt sieht es auch z. B. nicht nur den
Glanz, die Helle der Großstadt, es sieht die trost-
losen Dunkelheiten ebenso.
So wandelt sich Inhalt und Form des kindlichen
Sehens und Gestaltens, bis es ganz bestimmter Aus-
druck wird einer Individualität, einer werdenden
Persönlichkeit.
Ich möchte zu den einzelnen Altersstufen und Mo-
tiven noch einmal zurückgehen.
Nach meinen Beobachtungen kommt das Thema
Großstadt für die sechste Klasse noch kaum in An-
wendung. Der Gesichtskreis dieser Kleinen ist noch
zu klein, sie haben noch kein Gefühl für das „Hoch-
haus", z. B. bei ihnen sind alle Häuser gleichen Cha-
rakters; sie kennen noch nicht das „Häusermeer",
das ungeheure Gewirr der Straßen und Bahnen. Also
sie schildern vielleicht den Markt: aber es bleibt ein
Kleinstadtmarkt. Mit diesen Kleinen ist besser aus
ihrem Innern zu schöpfen, aus ihrer starken Phantasie.
Aber in der fünften Klasse, da finden sich schon
allerhand Anknüpfungen: die Litfaßsäule, die Halte-
stelle der Straßenbahn und das Leben darum; der
Signalschupo mit der weißen Hand erregt stärkstes
Interesse. Beim Arbeiten lasse ich einzelne Schüle-
rinnen vorkommen und den Schupo nachmachen mit
den verschiedenen Armhaltungen als Signal; da will
es eine immer besser wissen als die andere, es gibt
ein lebhaftes Durcheinander und es ist erstaunlich, zu
sehen, wie gut die Kinder alle Erscheinungen auf der
Straße beobachten. Eine Schülerin läuft durch die
Klasse und verteilt Extrablätter, natürlich mit dem
dazu gehörigen Krach. Eine andere bietet ihre herr-
lichen Knackwürste an — so erleben die Kinder im
Augenblick das, was sie gestalten wollen.
In der Quarta werden die Motive dann mehr räum-
lich ausgebaut: die Blumenverkäuferin auf der Straße
unter dem großen Schirm, dann aber auch schon eine
Straße der Großstadt, eine Straßenecke, ein Platz,
die Untergrundbahn usw. Die Tertia wird ihr Inter-
esse vor allem für die Lichtreklame zeigen. Hier werfe
ich einmal einfach das Thema: „Großstadt" in die
Klasse und bekomme nun von allen Seiten Zurufe wie:
Häusermeer, grelles Licht, Unruhe, Gedränge, Erre-
gung, Geschrei, Hin und Her, Getute, Reklame usw.,
bis alle Schüler in eine gewisse Erregung versetzt
sind, die nun weitere Vorstellungen schafft und dann
in der Arbeit ihre Form findet.
Bei dem Thema Lichtreklame in der Großstadt ar-
beiteten wir folgendermaßen: es wurde von den
Schülerinnen festgestellt, daß sich die Reklame an
den Hauswänden und hauptsächlich auf den Dächern
befindet. Wir erstiegen also unsern höchstgelegenen
Schulraum und sahen uns erst mal die Dächer der um-
liegenden Gebäude in ihren Formungen, ihren Über-
schneidungen und Verkürzungen an. Das war gar
nicht so leicht festzuhalten, denn eine Vorstellung
war hiervon vorher überhaupt nicht vorhanden. Dar-
auf konnten wir nun Weiterarbeiten, die Lichtreklame
aufbauen. Da waren die Schülerinnen aber ganz in
ihrem Element und mit großer Begeisterung bei der
Arbeit. Besonders Mädchen zeigen sich bei dieser
Aufgabe unglaublich erfinderisch, es tritt ihr Sinn für
Schmücken und Verschönen stark hervor.
In der Sekunda kam zu dem Thema Großstadt noch
Fabrikstadt als Ergänzung hinzu. In diesem Alter er-
schwert das Denken über die Dinge nach meinem
Beobachten sehr stark das Schaffen aus der Bildvor-
stellung. Hier hilft das Beobachten des Lebens und
seiner Wirklichkeiten allein nicht. Ich suchte die
Schülerinnen dadurch für diese besondere Aufgabe
zu wecken, indem ich ihnen Gedichte aus der mo-
dernen Literatur mit denselben und ähnlichen Themen
vorlas oder selbst lesen ließ wie z. B. aus den eiser-
nen Sonetten von Joseph Winkler: Die Stadt; von
Max Barthel: Die Stadt; das „Eisenwerk" von Lersch;
von Heim: Die Stadt; von Engelke: „Ich will hinaus."
Jetzt wurde das Außen und Innen beobachtet und
manche Schülerin versuchte Symbol zu bilden für das,
was sie bei dem Gedanken Großstadt, Fabrikstadt
erlebte. Es fanden auch phantastische Vorstellungen
von kommenden Großstädten, von Zukunftswolken-
kratzerstädten ihren Bildausdruck. Die Farbe ist auf
dieser Stufe — sehr im Einklang mit der stärkeren
Einstellung des Intellekts, meist nicht stark, nicht un-
bedingt ausdrucksnotwendig. So entstanden auch
Zeichnungen, Linolschnitte und Radierungen zu die-
sem Thema.
Mit all diesen Motiven und Möglichkeiten ist das
Thema Großstadt aber nicht zum geringsten erschöpft.
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Die heutige Schule will Erziehung zum Leben. Wie
könnte sie das besser als durch Anknüpfung an
das Leben selber, als dadurch, daß alles, was Leben
bedeutet, was lebensvoll ist, Mittelpunkt und Frage
des Unterrichts wird.
Weckung der Jugend steht als Ziel über der ge-
samten Schule, Weckung zum Miterleben der unend-
lichen Fülle der Erscheinungen und Offenbarungen
des Lebens. Gerade in unserm Unterricht bieten sich
die vielfältigsten Möglichkeiten ans Leben anzuknüp-
fen, an den Alltag, an den Feiertag, an die Umgebung,
an alle großen Ereignisse der Zeit, an den Schüler
selbst. Mit der Kunsterziehung nehmen wir stärksten
Anteil an den heutigen Zielen der Menschenbildung.
Lebendiges Gestalten aus lebendigem Erleben, be-
glückendes Lösen aller schöpferischen Kräfte; dazu
möchten wir unserer Jugend helfen.
Das Thema „Großstadt" bietet eine unendliche
Fülle von lebendigsten Anregungen. Dies Wort allein
weckt Gesicht um Gesicht, es ist sprühendes- blit-
zendes, brodelndes Leben. Wer von klein auf in dem
Hexenkessel der Großstadt lebt, wer täglich und
stündlich das rasende Herz des Lebenszentrums
schlagen hört, dem muß es irgendwie Gestaltung
bringen. Auch schon das .Kind geht hierin auf und
unter. Die Stadt, die Umgebung seines kleinen Le-
bens ist sein hauptsächlicher Lebensinhalt. Es hört,
es sieht ja noch viel durstiger, viel intensiver als der
Erwachsene. Und die ungeheuren Dinge, die es da
umgeben, dringen in sein Herz, in sein Gehirn — der
kleine werdende Mensch sucht nun irgendwie damit
fertig zu werden. Zuerst werden nur einzelne, wenig
zusammenhängende Dinge im Innern des Kindes haf-
ten bleiben. Es sieht die Straßenbahn, das Auto, die
Lichtsäule, den Schutzmann usw. Später reihen sich
um diese Einzelheiten immer mehr dazu gehörige
Dinge. Um die Lichtsäule die wartenden Menschen,
um den Schutzmann Autos, Menschen, Wagen, Lärm
und Krach usw.
Dann kommt der Zeitpunkt, wo das Kind schon ein
Ganzes erfaßt, ein geschlossenes Bild: die Straßen-
ecke, der Platz, der Bahnübergang, die Untergrund-
bahnhalle, bis es in immer weiterem Erleben eine
unendliche Fülle von Eindrücken kaum noch zu fassen
vermag und nun schon mit Schwierigkeiten kämpft,
aus der Fülle das eigentlich Wesentliche herauszu-
schälen, aus einem gewaltigen Chaos von Erlebnissen
ein geschlossenes Bild zu gestalten, sich wieder zu
beschränken im Bildausdruck, nachdem es zuvor nicht
genug Reichtümer des Erlebens sammeln konnte.
Und endlich der erwachsene Schüler, das gereifte
Kind sieht nicht mehr nur die Dinge selbst, sondern
sucht das, was hinter ihnen ist, es will den Sinn des
Treibens, des Lebens erfassen. Wenn es jetzt gestal-
tet, so sucht es Symbol zu geben des Gesehenen
und Erlebten. Jetzt sieht es auch z. B. nicht nur den
Glanz, die Helle der Großstadt, es sieht die trost-
losen Dunkelheiten ebenso.
So wandelt sich Inhalt und Form des kindlichen
Sehens und Gestaltens, bis es ganz bestimmter Aus-
druck wird einer Individualität, einer werdenden
Persönlichkeit.
Ich möchte zu den einzelnen Altersstufen und Mo-
tiven noch einmal zurückgehen.
Nach meinen Beobachtungen kommt das Thema
Großstadt für die sechste Klasse noch kaum in An-
wendung. Der Gesichtskreis dieser Kleinen ist noch
zu klein, sie haben noch kein Gefühl für das „Hoch-
haus", z. B. bei ihnen sind alle Häuser gleichen Cha-
rakters; sie kennen noch nicht das „Häusermeer",
das ungeheure Gewirr der Straßen und Bahnen. Also
sie schildern vielleicht den Markt: aber es bleibt ein
Kleinstadtmarkt. Mit diesen Kleinen ist besser aus
ihrem Innern zu schöpfen, aus ihrer starken Phantasie.
Aber in der fünften Klasse, da finden sich schon
allerhand Anknüpfungen: die Litfaßsäule, die Halte-
stelle der Straßenbahn und das Leben darum; der
Signalschupo mit der weißen Hand erregt stärkstes
Interesse. Beim Arbeiten lasse ich einzelne Schüle-
rinnen vorkommen und den Schupo nachmachen mit
den verschiedenen Armhaltungen als Signal; da will
es eine immer besser wissen als die andere, es gibt
ein lebhaftes Durcheinander und es ist erstaunlich, zu
sehen, wie gut die Kinder alle Erscheinungen auf der
Straße beobachten. Eine Schülerin läuft durch die
Klasse und verteilt Extrablätter, natürlich mit dem
dazu gehörigen Krach. Eine andere bietet ihre herr-
lichen Knackwürste an — so erleben die Kinder im
Augenblick das, was sie gestalten wollen.
In der Quarta werden die Motive dann mehr räum-
lich ausgebaut: die Blumenverkäuferin auf der Straße
unter dem großen Schirm, dann aber auch schon eine
Straße der Großstadt, eine Straßenecke, ein Platz,
die Untergrundbahn usw. Die Tertia wird ihr Inter-
esse vor allem für die Lichtreklame zeigen. Hier werfe
ich einmal einfach das Thema: „Großstadt" in die
Klasse und bekomme nun von allen Seiten Zurufe wie:
Häusermeer, grelles Licht, Unruhe, Gedränge, Erre-
gung, Geschrei, Hin und Her, Getute, Reklame usw.,
bis alle Schüler in eine gewisse Erregung versetzt
sind, die nun weitere Vorstellungen schafft und dann
in der Arbeit ihre Form findet.
Bei dem Thema Lichtreklame in der Großstadt ar-
beiteten wir folgendermaßen: es wurde von den
Schülerinnen festgestellt, daß sich die Reklame an
den Hauswänden und hauptsächlich auf den Dächern
befindet. Wir erstiegen also unsern höchstgelegenen
Schulraum und sahen uns erst mal die Dächer der um-
liegenden Gebäude in ihren Formungen, ihren Über-
schneidungen und Verkürzungen an. Das war gar
nicht so leicht festzuhalten, denn eine Vorstellung
war hiervon vorher überhaupt nicht vorhanden. Dar-
auf konnten wir nun Weiterarbeiten, die Lichtreklame
aufbauen. Da waren die Schülerinnen aber ganz in
ihrem Element und mit großer Begeisterung bei der
Arbeit. Besonders Mädchen zeigen sich bei dieser
Aufgabe unglaublich erfinderisch, es tritt ihr Sinn für
Schmücken und Verschönen stark hervor.
In der Sekunda kam zu dem Thema Großstadt noch
Fabrikstadt als Ergänzung hinzu. In diesem Alter er-
schwert das Denken über die Dinge nach meinem
Beobachten sehr stark das Schaffen aus der Bildvor-
stellung. Hier hilft das Beobachten des Lebens und
seiner Wirklichkeiten allein nicht. Ich suchte die
Schülerinnen dadurch für diese besondere Aufgabe
zu wecken, indem ich ihnen Gedichte aus der mo-
dernen Literatur mit denselben und ähnlichen Themen
vorlas oder selbst lesen ließ wie z. B. aus den eiser-
nen Sonetten von Joseph Winkler: Die Stadt; von
Max Barthel: Die Stadt; das „Eisenwerk" von Lersch;
von Heim: Die Stadt; von Engelke: „Ich will hinaus."
Jetzt wurde das Außen und Innen beobachtet und
manche Schülerin versuchte Symbol zu bilden für das,
was sie bei dem Gedanken Großstadt, Fabrikstadt
erlebte. Es fanden auch phantastische Vorstellungen
von kommenden Großstädten, von Zukunftswolken-
kratzerstädten ihren Bildausdruck. Die Farbe ist auf
dieser Stufe — sehr im Einklang mit der stärkeren
Einstellung des Intellekts, meist nicht stark, nicht un-
bedingt ausdrucksnotwendig. So entstanden auch
Zeichnungen, Linolschnitte und Radierungen zu die-
sem Thema.
Mit all diesen Motiven und Möglichkeiten ist das
Thema Großstadt aber nicht zum geringsten erschöpft.
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