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Bund Deutscher Kunsterzieher [Editor]
Kunst und Jugend — N.F. 11.1931

DOI issue:
Heft 12 (Dezember 1931)
DOI article:
Zierer, Ernst: Kunsterziehung auf zeitbewußter und auf zeitloser Grundlage
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https://doi.org/10.11588/diglit.28010#0315

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Kunst und Jugend
Deutsche Bläffer für Zeichen- Kunst- und Werkunterricht
Zeitschrift des Reichsverbandes akademisch gebildeter Zeichenlehrer und Zeichenlehrerinnen

Verantwortlich für die Schriftleitung: Prof. Gustav Kolb, Stuttgart, Ameisenbergsfr. 65
Druck, Expedition und Verlag: Eugen Hardt G. m. b. H. Stuttgart, Langestrafje 18
Für Besprechungsexemplare, Niederschriften oder andere Einsendungen irgendwelcher Art wird eine Verantwgrtlichkeit nur
dann übernommen, wenn sie erbeten worden sind ♦ Schreibt sachlich klar und einfach I Meidet alle entbehrlichen Fremdwörter

11. Jahrgang Dezember 1931 Heft 12

DR. ERNST ZIERER, BERLIN-TEMPELHOF:
KUNSTERZIEHUNG auf zeitbewußter und auf zeitloser Grundlage

Noch niemals hat sich das Problem der Kunsterzie-
hung so aufdringlich und auffällig in die Öffentlich-
keit gestellt, wie gerade heute. Hatte sich die Frage der
Kunsterziehung noch bis vor kurzem gewissermaßen
in abgelegenen Winkeln der geistigen Interessen ver-
borgen gehalten, so ertönt sie heute nicht nur in die-
sen Verstecken der Spezialisten, aus welchen ein
Widerhall niemals an das Ohr des großen, allgemein
interessierten Publikums gelangt. Vielmehr hat sich in
unserer Gegenwart die Frage der Kunsterziehung mit
einer ungemein reichhaltigen Vielstimmigkeit erhoben,
mit der Wucht eines Chores, der sich nicht nur aus
allgemein bildenden Schulen, aus Kunstschulen und
Kunstakademien zusammensetzt, sondern auch aus
den zahllos vielen Menschen, die abseits ihres Beru-
fes eine belebende Beziehung zur Kunst suchen. Hun-
derttausende, die früher gar nicht von Kunst sprachen
oder sich mit der Betrachtung von Kunstwerken nur
genießerisch zufrieden gaben, stehen heute mit einer
Aktivität da, die den Fachmann in eine peinliche Ver-
legenheit brachte. Die Masse scheint aus einem Schlaf
geweckt zu sein, der seine jahrtausendlange Dauer
nun mit einem Schlage rächen möchte. Was ist
geschehen?
Es ist mehr geschehen als ein flüchtiger Blick ver-
raten kann. Man ist kritisch geworden. Es ist mehr
geschehen als diese Behauptung auszudrücken ver-
mag. Man ist kritisch gegen die Fachleute, die
sich mit Kunst beschäftigen. Wohlgemerkt: man ist
nicht etwa kritischer gegen die Kunst geworden, im
Gegenteil, heute ist das Kunstinteresse geringer denn
je, man hat sich vielmehr angreifend gegen die Hüter
und Verwalter der Kunst gerichtet. Was aber dieser
Angelegenheit erst den tiefen Ernst verleiht: die
Auflehnung gegen die Fachleute hängt innig zusammen
mit der Interesselosigkeit an der Kunst, und diese
Interesselosigkeit ist eine natürliche Folge der kriti-
schen Empörung — und nicht etwa umgekehrt.
Man wild nun fragen: wie hängt denn aber diese
Tatsache, einerseits die Interesselosigkeit an der
Kunst, andererseits der Angriff auf die Fachleute,
zusammen mit der Frage der Kunsterziehung und
ihrer schiefen Lage? Man wird sagen: wir sind wohl
orientiert über die mißliche Lage der Kunstkritik.
Wir haben wohl in den letzten Jahren mitangesehen,
wie die Kunstkritik zugrundeging, weil sie keinen

Widerstand zu leisten vermochte gegen die zahllosen
Beschuldigungen. Wir wissen auch, daß diese Beschul-
digungen berechtigt sind, denn kein Mensch zweifelt
mehr daran, daß die Kritik ohnmächtig der Kunst
gegenüberstehe und zwar deshalb, weil sie nicht
imstande ist, bleibende, unantastbare Kunsturteile zu
fällen. Wir wissen, daß der Kritiker, genau so wie
jeder sogenannte Laie, Kunstwerke nicht anders wer-
tet als nur mit dem zeitbedingten Geschmack und
daß derartige Geschmacksurteile, einander wider-
sprechen, weil sie individuell und zeitlich bedingt
sind. Keinem Kritiker gebührt der Vorzug seines Wert-
urteiles, solange er dieses durch seine individuellen
Neigungen rechtfertigt. Kein Geschmacksurteil ist
bedeutungsvoller als das andere. Daher sei nicht ein-
zusehen, worauf die besondere Fähigkeit des Kritikers
beruhen solle, wenn eine Beziehung zur Kunst nicht
anderer Natur ist, als die Beziehung aller Nicht-Fach-
leute zur Kunst. Wir sehen nicht ein, warum dann das
Publikum unter der Bevormundung der öffentlichen
Kritik stehen müsse. Von einer Wissenschaft verlangen
wir unantastbare Feststellungen, gleichgültig ob in
bezug auf Inhalte oder auf Werte. Die Kunstwissen-
schaft jedoch beweist von sich,, durch ihre Theorien
und Werturteile, das Gegenteil. Die gesamte Kunst-
literatur und die Tageskritik bezeugen dies.
Ja aber — so wird man nun sagen — diese pein-
lichen Enthüllungen betreffen doch die Kritik und nicht
die Kunsterziehung. Wenn auch die Kunsterziehung
nicht minder von Kampf und Sorge erfüllt sei, so sei
doch dieser Streit der Pädagogen lokalisiert geblie-
ben, er herrsche nur in Fachkreisen und berühre nicht
die unmittelbaren und täglichen Interessen der Öffent-
lichkeit.
Glaubt man wirklich, daß zwischen Kunstkritik und
Kunsterziehung ein Unterschied bestehe? Sind nicht
vielmehr Kunstkritik und Kunsterziehung dasselbe?
Sind denn nicht die berechtigten Vorwürfe gegen
die Kunstkritik gleichzeitig und nicht minder berech-
tigte Vorwürfe gegen die Kunsterziehung? Was ist
denn die Aufgabe der öffentlichen Kunstkritik? Sie
wirkt doch erzieherisch auf die Menschen und ver-
sucht ihnen die Kunst nicht nur zugänglich zu machen,
sondern auch ihre Erkenntniskraft und Werterkenntnis
auf dem Wege der Erziehung zu stärken. Die Kritik
kann nicht anders als nur erzieherisch wirken und

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