Nach welchen Gesichtspunkten sind die Arbeiten
unserer Schiller im bildhaften Gestalten zu beurteilen?
Entnommen dem Werk „Bildhaftes Gestalten als Aufgabe
der Volksarziehung, naturgemäßer Weg im Unterricht" von
Gustav Kolb, 2., verbesserte und erweiterte Auflage.
(Holland & Josenhans Verlag, Stuttgart.)
„Zunächst müssen wir uns vergegenwärtigen: Alles
gründliche Werten erfordert ein Nachschaffen, d. h.
der Wertende muß den Vorgang, dem ein Werk sein
Dasein verdankt, innerlich wiederholen. Das gilt grund-
säztlich für die Beurteilung von Kunstwerken. Und es
gilt sinngemäß auch für die Beurteilung der Arbeiten
unserer Schüler.
Vorweg müssen wir zwei von einander wesensver-
schiedene Gebiete unserer Arbeit unterscheiden: das
Darstellen einerseits, das Gestalten anderer-
seits. Ihrer wesensverschiedenen Entstehung entspricht
auch eine wesensverschiedene Beurteilung.
Der Maßstab zur Beurteilung einer Dar-
stellung (z. B. der sachlichen Zeichnung eines Kä-
fers, einer Pflanze, einer Werkform) richtet sich nach
den uns allen bekannten Normen der „Richtigkeit" im
Sinne der Naturtatsachen, als da sind: die tatsächliche
Richtung von Linien, die tatsächlichen Größenverhält-
nisse von Linien, Flächen und Körpern, die Wachstums-
und Bildungsgesetze in der Natur und dazu noch, so-
fern perspektivisch gezeichnet wird, die perspektivi-
schen Gesetze.
Nach diesen Normen hat sich der Schüler beim Zeich-
nen zu richten. Nach ihnen ist folglich auch seine Ar-
beit zunächst zu beurteilen. (Die Gefühlswerte, die
nebenbei in die sachliche Darstellung eingehen kön-
nen und sollen, lassen wir hier unberücksichtigt; aber
mit Kunst haben sie nichts zu tun.) Nicht so eindeutig
und einfach ist die Beurteilung der Gestal-
tungen. Ebensowenig solche Arbeiten nach den
genannten Normen bewußt entstehen, ebensowenig
kann ihr gestalterisches Wesen — also ihr Lebens-
gehalt — mit begrifflichen Mitteln in diesem Sinne
erfaßt, erklärt, gewertet werden. Dieses geheimnis-
volle Wesen erschließt sich vielmehr nur den seelisch-
geistigen „Kräften" in uns, die die Gestaltung bewir-
ken. Wir stellen fest: Sofern die Gestaltung aus der
einheitlichen Innenschau, aus der Bildphantasie des
Schaffenden fließt und der rhythmische Ablauf des
Gestaltungsvorganges sich ungestört vollzieht, wird
sie zwangsläufig jene äußere Einheitlichkeit gewinnen,
in der wir den eigentlichen Gestaltungswert erkennen.
Somit kann es für uns kein Zweifel sein: um dem
Geheimnis der Gestaltung auf die Spur zu kommen,
müssen wir zunächst dem seelisch-geistigen Phantasie-
gehalt und dem rhythmischen Ausdrucksgehalt nach-
gehen.
Wir müssen aber vorweg erkennen: bei dieser Wer-
tung scheidet der Verstand aus: Gefühl ist hier
a 11 e s I
Wer nun aber meinen sollte, alles sei dabei ins Be-
lieben des einzelnen gestellt, es handle sich nur um
eine subjektive Gefühlswertung — und über den
Geschmack lasse sich nicht streiten —, der wäre im
Irrtum. Die Anschauungswerte, um die es hier geht,
sind vielmehr ebenfalls objektive Werte.*
Ob eine Gestaltung z. B. reich oder arm an Erfindung
ist, ob sie tief oder flach, ursprünglich, eigenartig oder
banal ist. Das kann objektiv festgestellt werden. Und
'Wer nicht davon überzeugt wäre, daß es eine objektive Gefühls- l
werlung (wie eine objektive Tatsachenwertung) gäbe, möge bedenken: |
Wir müssen die Gefühle, die aus unserem Innern stammen und darum j
rein subjektiv sind — man nennt sie Eigengefühle — unterscheiden f
von den Gefühlen, die wir von außen empfangen. Es ist Selbsttäuschung,
«in die Subjektivität solcher Gegenstandsgetühle zu glauben, die
uns von der ansdiaulichen Beschaffenheit des äußeren Eindruckes ge-
nidczu aufgezwungen sind. (Siehe dazu Ludwig Klages: „Der Geist als
Widersacher der Seele" 1929, „Handschrift und Charakter" 1923 sowie
..Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft'1 (alle 3 Werke erschienen
im Verlag Joh. Ambrosius Barth, Leipzig).
Leute mit geschultem Wertgefühl werden dabei nicht
wesentlich auseinandergehen.
Dann sind auch die kosmisch-rhythmischen Gestal-
tungsprinzipien, die sich im Schaffenden (durchdrun-
gen von seinem Eigenrhythmus) auswirken, ein Sach-
verhalt, dessen Bilder klar vor unseren Augen stehen.
Das Erfassen und Deuten dieses Sachverhaltes ist
darum ebenfalls nicht der Willkür des einzelnen unter-
worfen, sondern sachlich, überpersönlich bedingt.
Freilich läßt auch er sich nicht begrifflich fassen, son-
dern eben auch nur schauend erfühlen.
Somit handelt es sich bei der Beurteilung des Ge-
staltungswertes der Arbeiten unserer Schüler um eine
objektive Gefühlswertung. Es gilt hier, nicht nur
unser leibliches Anschauungsvermögen, sondern mehr
noch unser seelisches Schauvermögen für diese Sach-
verhalte zu schulen. Dieses Vermögen ist bei solchen,
die in ihrer Jugend nur den alten unkünstlerischen
Zeichenunterricht genossen haben, freilich noch wenig
entwickelt. Folglich stehen viele Lehrer vor einer neuen
Aufgabe.
Zunächst gilt es, die Fehlerquellen, die Täu-
schungsquelle zu kennen, die uns hier am sachlichen
Werten behindern. Obwohl das rhythmische Gestal-
tungselement uns allen eingeboren ist, so haben doch
Erziehung und Gewöhnung fast nur unser zweckgerich-
tetes Tatsachenbewußtsein entwickelt und uns den
Zugang zum Wesen der bildnerischen Gestaltung ver-S-
schlossen. Darum sind wir so rasch bei der Hand, auchjä
die aus der inneren Vorstellung geflossenen bildne-
rischen Gestaltungen des Kindes mit demselben Maß-
stabe zu messen wie die nach unmittelbarer Anschau-
ung entstandenen sachlichen Darstellungen, d. h. sie
unter dem Gesichtspunkt der Richtigkeit im Sinne der
Naturtatsachen zu beurteilen. Diese Fehlerquelle gilt
es zuvörderst auszuschalten.
Zunächst wollen wir die zu wertende Arbeit, etwa
eine Zeichnung als Ganzes betrachten. Wir fragen:
Gewährt sie den Eindruck eines „gewachsenen" ein- -
heitlichen Gebildes, das so als Ganzes in sich
beschlossen, „erfüllt" ist, daß man weder etwas hin-
zufügen noch etwas wegnehmen könnte, ohne den
Bildorganismus zu zerstören?
Ferner: hat man das Gefühl, daß sie aus einem Guß
ist; oder ist der rhythmische Fluß der Linien irgendwo
gehemmt, gestört, unterbrochen?
Diese Fragen sind zunächst entscheidend für die
Wertung. - .
Dann müssen wir die rhythmische Verhält-
nismäßigkeit des zu wertenden Gebildes ins
Auge fassen. Unser Blick wird von den Hauptmassen^
zu den Gliedern wandern. Wir fragen: Stehen die haupt-
sächlichsten Formgebilde unter sich und in ihrer Ge-
sammelt zu der Bildfläche in einem wohlabgewogenen
Verhältnis?
Ferner: Sind die einzelnen Bildforinen klar angeord-
net, so daß das Auge nicht beunruhigt wird? Heben
sie sich klar, eindeutig von einander und von ihrem
Hintergrund ab? Ist ein gleichgewichtiger Wechsel
vorhanden zwischen den einzelnen in sich geschlos-
senen Formgebilden und den leeren Hintergrundflä-j
chen? Diese Gesichtspunkte sind sehr wichtig. Von
ihnen hängt die harmonische Ruhe, das wohltuende
Ebenmaß der Gestaltung ab.
Somit ist alles Gestalten eigentlich auch ein Ordnen
und Klären, aber niemals ein mechanisches, mit Re-
geln zu bestimmendes. Im Gegenteil — wir nehmen
das immer wieder an den Arbeiten unserer Schüler
wahr —: Der größte Feind der rhythmischen Durchsee-
lung ist gerade die Verstandes- und willensmäßige
Regelung. Je weniger eine Arbeit von innen heraus
ausdruckshaft fließt, je mehr sie nur bewußt, absicht-
lich gewollt, „gemacht" ist, um so weniger rhythmi-
schen Lebensgehalt wird sie haben, um so unkünst-
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unserer Schiller im bildhaften Gestalten zu beurteilen?
Entnommen dem Werk „Bildhaftes Gestalten als Aufgabe
der Volksarziehung, naturgemäßer Weg im Unterricht" von
Gustav Kolb, 2., verbesserte und erweiterte Auflage.
(Holland & Josenhans Verlag, Stuttgart.)
„Zunächst müssen wir uns vergegenwärtigen: Alles
gründliche Werten erfordert ein Nachschaffen, d. h.
der Wertende muß den Vorgang, dem ein Werk sein
Dasein verdankt, innerlich wiederholen. Das gilt grund-
säztlich für die Beurteilung von Kunstwerken. Und es
gilt sinngemäß auch für die Beurteilung der Arbeiten
unserer Schüler.
Vorweg müssen wir zwei von einander wesensver-
schiedene Gebiete unserer Arbeit unterscheiden: das
Darstellen einerseits, das Gestalten anderer-
seits. Ihrer wesensverschiedenen Entstehung entspricht
auch eine wesensverschiedene Beurteilung.
Der Maßstab zur Beurteilung einer Dar-
stellung (z. B. der sachlichen Zeichnung eines Kä-
fers, einer Pflanze, einer Werkform) richtet sich nach
den uns allen bekannten Normen der „Richtigkeit" im
Sinne der Naturtatsachen, als da sind: die tatsächliche
Richtung von Linien, die tatsächlichen Größenverhält-
nisse von Linien, Flächen und Körpern, die Wachstums-
und Bildungsgesetze in der Natur und dazu noch, so-
fern perspektivisch gezeichnet wird, die perspektivi-
schen Gesetze.
Nach diesen Normen hat sich der Schüler beim Zeich-
nen zu richten. Nach ihnen ist folglich auch seine Ar-
beit zunächst zu beurteilen. (Die Gefühlswerte, die
nebenbei in die sachliche Darstellung eingehen kön-
nen und sollen, lassen wir hier unberücksichtigt; aber
mit Kunst haben sie nichts zu tun.) Nicht so eindeutig
und einfach ist die Beurteilung der Gestal-
tungen. Ebensowenig solche Arbeiten nach den
genannten Normen bewußt entstehen, ebensowenig
kann ihr gestalterisches Wesen — also ihr Lebens-
gehalt — mit begrifflichen Mitteln in diesem Sinne
erfaßt, erklärt, gewertet werden. Dieses geheimnis-
volle Wesen erschließt sich vielmehr nur den seelisch-
geistigen „Kräften" in uns, die die Gestaltung bewir-
ken. Wir stellen fest: Sofern die Gestaltung aus der
einheitlichen Innenschau, aus der Bildphantasie des
Schaffenden fließt und der rhythmische Ablauf des
Gestaltungsvorganges sich ungestört vollzieht, wird
sie zwangsläufig jene äußere Einheitlichkeit gewinnen,
in der wir den eigentlichen Gestaltungswert erkennen.
Somit kann es für uns kein Zweifel sein: um dem
Geheimnis der Gestaltung auf die Spur zu kommen,
müssen wir zunächst dem seelisch-geistigen Phantasie-
gehalt und dem rhythmischen Ausdrucksgehalt nach-
gehen.
Wir müssen aber vorweg erkennen: bei dieser Wer-
tung scheidet der Verstand aus: Gefühl ist hier
a 11 e s I
Wer nun aber meinen sollte, alles sei dabei ins Be-
lieben des einzelnen gestellt, es handle sich nur um
eine subjektive Gefühlswertung — und über den
Geschmack lasse sich nicht streiten —, der wäre im
Irrtum. Die Anschauungswerte, um die es hier geht,
sind vielmehr ebenfalls objektive Werte.*
Ob eine Gestaltung z. B. reich oder arm an Erfindung
ist, ob sie tief oder flach, ursprünglich, eigenartig oder
banal ist. Das kann objektiv festgestellt werden. Und
'Wer nicht davon überzeugt wäre, daß es eine objektive Gefühls- l
werlung (wie eine objektive Tatsachenwertung) gäbe, möge bedenken: |
Wir müssen die Gefühle, die aus unserem Innern stammen und darum j
rein subjektiv sind — man nennt sie Eigengefühle — unterscheiden f
von den Gefühlen, die wir von außen empfangen. Es ist Selbsttäuschung,
«in die Subjektivität solcher Gegenstandsgetühle zu glauben, die
uns von der ansdiaulichen Beschaffenheit des äußeren Eindruckes ge-
nidczu aufgezwungen sind. (Siehe dazu Ludwig Klages: „Der Geist als
Widersacher der Seele" 1929, „Handschrift und Charakter" 1923 sowie
..Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft'1 (alle 3 Werke erschienen
im Verlag Joh. Ambrosius Barth, Leipzig).
Leute mit geschultem Wertgefühl werden dabei nicht
wesentlich auseinandergehen.
Dann sind auch die kosmisch-rhythmischen Gestal-
tungsprinzipien, die sich im Schaffenden (durchdrun-
gen von seinem Eigenrhythmus) auswirken, ein Sach-
verhalt, dessen Bilder klar vor unseren Augen stehen.
Das Erfassen und Deuten dieses Sachverhaltes ist
darum ebenfalls nicht der Willkür des einzelnen unter-
worfen, sondern sachlich, überpersönlich bedingt.
Freilich läßt auch er sich nicht begrifflich fassen, son-
dern eben auch nur schauend erfühlen.
Somit handelt es sich bei der Beurteilung des Ge-
staltungswertes der Arbeiten unserer Schüler um eine
objektive Gefühlswertung. Es gilt hier, nicht nur
unser leibliches Anschauungsvermögen, sondern mehr
noch unser seelisches Schauvermögen für diese Sach-
verhalte zu schulen. Dieses Vermögen ist bei solchen,
die in ihrer Jugend nur den alten unkünstlerischen
Zeichenunterricht genossen haben, freilich noch wenig
entwickelt. Folglich stehen viele Lehrer vor einer neuen
Aufgabe.
Zunächst gilt es, die Fehlerquellen, die Täu-
schungsquelle zu kennen, die uns hier am sachlichen
Werten behindern. Obwohl das rhythmische Gestal-
tungselement uns allen eingeboren ist, so haben doch
Erziehung und Gewöhnung fast nur unser zweckgerich-
tetes Tatsachenbewußtsein entwickelt und uns den
Zugang zum Wesen der bildnerischen Gestaltung ver-S-
schlossen. Darum sind wir so rasch bei der Hand, auchjä
die aus der inneren Vorstellung geflossenen bildne-
rischen Gestaltungen des Kindes mit demselben Maß-
stabe zu messen wie die nach unmittelbarer Anschau-
ung entstandenen sachlichen Darstellungen, d. h. sie
unter dem Gesichtspunkt der Richtigkeit im Sinne der
Naturtatsachen zu beurteilen. Diese Fehlerquelle gilt
es zuvörderst auszuschalten.
Zunächst wollen wir die zu wertende Arbeit, etwa
eine Zeichnung als Ganzes betrachten. Wir fragen:
Gewährt sie den Eindruck eines „gewachsenen" ein- -
heitlichen Gebildes, das so als Ganzes in sich
beschlossen, „erfüllt" ist, daß man weder etwas hin-
zufügen noch etwas wegnehmen könnte, ohne den
Bildorganismus zu zerstören?
Ferner: hat man das Gefühl, daß sie aus einem Guß
ist; oder ist der rhythmische Fluß der Linien irgendwo
gehemmt, gestört, unterbrochen?
Diese Fragen sind zunächst entscheidend für die
Wertung. - .
Dann müssen wir die rhythmische Verhält-
nismäßigkeit des zu wertenden Gebildes ins
Auge fassen. Unser Blick wird von den Hauptmassen^
zu den Gliedern wandern. Wir fragen: Stehen die haupt-
sächlichsten Formgebilde unter sich und in ihrer Ge-
sammelt zu der Bildfläche in einem wohlabgewogenen
Verhältnis?
Ferner: Sind die einzelnen Bildforinen klar angeord-
net, so daß das Auge nicht beunruhigt wird? Heben
sie sich klar, eindeutig von einander und von ihrem
Hintergrund ab? Ist ein gleichgewichtiger Wechsel
vorhanden zwischen den einzelnen in sich geschlos-
senen Formgebilden und den leeren Hintergrundflä-j
chen? Diese Gesichtspunkte sind sehr wichtig. Von
ihnen hängt die harmonische Ruhe, das wohltuende
Ebenmaß der Gestaltung ab.
Somit ist alles Gestalten eigentlich auch ein Ordnen
und Klären, aber niemals ein mechanisches, mit Re-
geln zu bestimmendes. Im Gegenteil — wir nehmen
das immer wieder an den Arbeiten unserer Schüler
wahr —: Der größte Feind der rhythmischen Durchsee-
lung ist gerade die Verstandes- und willensmäßige
Regelung. Je weniger eine Arbeit von innen heraus
ausdruckshaft fließt, je mehr sie nur bewußt, absicht-
lich gewollt, „gemacht" ist, um so weniger rhythmi-
schen Lebensgehalt wird sie haben, um so unkünst-
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