Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 11.1931

DOI Heft:
Heft 9 (September 1931)
DOI Artikel:
Herrmann, Hans: Darstellendes und gestaltendes Zeichnen, 2
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.28010#0250

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
STUDIENASSESSOR HANS HERRMANN-BAMBERG;
DARSTELLENDES UND GESTALTENDES ZEICHNEN

II.
ER Großteil naturwisseinschaftlicher
Geistesbesitzes wird in der Form von Ge-
sichtsinneserlebnissen und -Vorstellungen
durch das Auge vermittelt und unterliegt nach dieser
Seite der allmählichen Entfaltung vom Primitiven zum
Differenzierteren, die Gustaf Britsch aufgedeckt hat.
Es sollte einen Naturkundelehrer gar nicht erstau-
nen, wenn ein kleiner Junge die Flügel eines Vogels
„starr und steif" zeichnet oder die Kralle gar nur als
richtungsunterschiedenen Teil an den Fuß anfügt. Er
müßte das verstehen und dürfte unter keinen Umstän-
ständen den Vorstellungszusammenhang des Kindes,
der ja doch auf natürlich geistige Art gewachsen ist,
mißachten und versuchen ihn „richtigzustellen". Die
Behauptung, eine primitive Zeichnung von naturwis-
senschaftlichen Dingen, sei falsch, würde auch den
Tatsachen widersprechen, denn ohne Zweifel ist die
Vorstellung von einer Kralle als einem ausgedehnten
Etwas am Ende eines langgestreckten Körperteils rich-
tig. Genau so richtig, wie alle folgenden aus dieser
entwickelten differenzierteren Vorstellungen. Nicht die
Gültigkeit der Vorstellungen ändert sich im Lauf
der Zeit, nur ihre Entwicklungsstufe, die Reichhal-
tigkeit und für den Beurteiler handelt es sich
darum, den Sinngehalt einer kindlichen Zeichnung
und der darin niedergelegten Erkenntnis richtig zu
deuten, ihn nicht übergenau zu bestimmen und nur
das herauszulesen, was gemeint war.
Damit soll keineswegs einer gewollten Einfachheit
das Wort geredet werden. Der Vorstellungsbesitz ist
lebendig und in fortwährender Entwicklung begriffen,
die Zeichnung aus dem Vorstellungszusammenhang
wird, wenn man sie äußerlich betrachtet, mit zuneh-
mender Entwicklung immer „richtiger".
Wer nun allein die Tatsache der meßbaren Überein-
stimmung einer Zeichnung mit der Wirklichkeit wahr-
zunehmen und zu schätzen versteht, der kann wohl
die Frage stellen, warum man dem Kind, das am Ende
doch zur „richtigen" und wissenschaftlich „einwand-
freien" Zeichnung komme, den Umweg über alle Vor-
stufen nicht erspare. Dem müßte man antworten, daß
die „richtige" Zeichnung des Abzeichners und die
auch „richtige" vorstellungsmäßige Zeichnung ent-
wickelterer Stufe, mögen sie zunächst noch so ähnlich
sehen, eigentlich gar nichts miteinander zu tun hätten;
daß diese einen bildnerischen Wert in sich
berge, der jener fehle und daß ohne allen Zweifel
auch die mit der geformten Zeichnung verknüpften
naiurwissenschaftllchen Vorstellungen'
von ganz anderer Qualität seien, als die einer geist-
losen Abzeichnung.
Der Abstecher in das Gebiet der Naturwissenschaf-
ten war nötig, weil das wissenschaftliche Interesse
für die sichtbare Welt nicht nur die Angelegenheit
eines Sonderfaches ist und sich nicht auf die Zeit der
bewußten planmäßigen Beschäftigung beschränkt.
Überall, wo der Mensch die Augen für die Natur offen
hält, treibt er Naturwissenschaft in weiterem Sinn und
gerade im Zeichenunterricht wird die wissenschaftliche
Aufmerksamkeit für die Natur erregt; beide Fächer,
die durch den Unterrichtsgebrauch so sauber getrennt
sind, greifen oft ineinander über.
Aber auch der Zwang zu voraussehender Selbstver-
teidigung hat uns zu den Betrachtungen über natur-
wissenschaftliche Richtigkeit getrieben. Die Erfahrung
lehrt, daß der Naturwissenschaftler, der seine Aufgabe
in der Übermittlung von Tatsachen sieht, leicht
geneigt ist, dem Zeichenlehrer unseres Sinns, den Vor-
wurf zu machen, er vernachlässige die Erziehung zum
236

.richtigen Sehen. Wir haben also den Spieß umgedreht
und setzen ihn und alle Leute, die an ein Pensum
von feststehenden Tatsachen glauben, ins Unrecht.*?®
Doch brauchen wir unsere Gegner nicht auf frem-
dem Boden suchen, es gibt deren genug innerhalb
unseres eigenen Faches. Alle, die dem alten perspek-
tivischen Zeichnen anhängen, der Lehre, daß durch
die bewußte Anwendung sehgesetzlicher Regeln, das
Auge gebildet werde, sind es. Ihre Behauptungen frei-
lich sind schwer zu widerlegen, weil sie unklar und
dunkel erscheinen. Das Kind soll durch die Übung im
perspektivischen Zeichnen das „bewußte räumliche
Sehen" lernen. Was ist damit gemeint? Etwa, daß der
im perspektivischen Zeichnen Geschulte mit größerer
Sicherheit sich im Raum zurechtzufinden und zu be-
wegen verstehe? Wir sind nicht so boshaft, unseren
Widerpartnern diese Ansicht zu unterstellen. Meinen
sie aber im Ernst, daß durch bewußte Betrachtung
einer Allee, der Kanten des Schulzimmers, eines Schie-
nenstrangs und durch Beachtung der daraus abge-
leiteten Regeln jener hochentwickelte Grad gesicht-
sinnesmäßiger Vorstellungen erzwungen werden könne,
der in so gewaltiger Weise in den Landschaften von,
Rembrandt oder in den Fresken von Michelangelo sich
darbietet?
Die ungeheuren Schwierigkeiten, die der Lehrer im
perspektivischen Zeichnen oft gerade mit den leben-
digsten Kindern hat, sind ein ungezwungener Beweis
dafür, daß die „unrichtige" kindliche Zeich-
nung den gegebenen Bedingungen einer gewissen
Altersstufe entspricht. Wenn man annimmt, daß die
Tätigkeit des Abzeichners, die Wiedergabe eines mit
bewußter Aufmerksamkeit betrachteten Gegenstandes
in Verhältnissen und Linienführung, durch eine be-
stimmte geistige Fähigkeit gefordert und ermöglicht
wird, dann kann man nur in ratlosem Erstaunen vorder
Tatsache stehen, daß kaum ein Schüler aus den mit
perspektivischen Übungen bedachten Klassen imstande
ist, abzuzeichnen. Jeder Lehrer wird sich an den unab-
lässigen Kampf erinnern, den er dagegen zu führen
hatte, daß die kleinen Kisten „zu lang" oder zu sehr
„von oben" gezeichnet wurden; troz der Regel und
trotz des Augenscheins! Gegen diesen bekannten
„Fehler" hat man, da die Faustregel von Fluchtpunkten
und -Linien hier versagte, das Messen und Visieren
empfohlen, aber ohne besonderen Erfolg; die anschau-
liche, hier noch primitive Vorstellung, die mit jedem
Sinneseindruck verknüpft ist, kommt dennoch zum
Durchbruch.
Man ist sehr im Irrtum, wenn man die reine kind-
liche Zeichnung für falsch erklärt und perspektivisch
richtigzustellen sucht. Sie ist ebensowenig falsch, wie
* Das ist für unseren Fall des freien gestaltenden Zeichnens gemeint.
Natürlich gibt es daneben eine rein vermessende Tätigkeit, die aber
eher der darstellenden Geometrie zuzurechnen ist und nicht, wie die
erste Art einen wesentlichen Wert in sich selber trägt, sondern einer
Aufgabe dient. Das naiv-sinnliche formende Zeichnen ist gewissermaßen
dem Menschen natürlich, er muß dabei keiner seiner Fähigkeiten
Gewalt anfun und kann dennoch, unbeschadet des bildnerischen Wertes
bis zu einem gewissen Grad wissenschaftlichen Zwecken dienen. Für
Fälle, wo die genaue Aufnahme eines sichtbaren Bestandes erforderlich
ist, hat derselbe Geist, der dieses dem Wesen nach unkünstlerische
Verlangen stellt, Apparate erfunden, die ihm unvergleichlich besser
nachzukommen vermögen, als die peinlichste zeichnerische Tätigkeit
das kann. Es ist nicht einzusehen, welche Vorteile die weniger genaue
Aufnahme durch die Hand bieten soll, zumal die Art der Tätigkeit
ihrer Bestimmung nach mechanisch ist und zur Bereicherung des Vor-
sfellungsbesitzes wie wir ihn meinen, nichts beizutragen vermag.
Die regelmäßig perspektivische Zeichnung hat nichts mit demnatür-
lidien künstlerischen Empfinden zu tun, denn ihr liegt kein anschau-
licher Vorstellungszusammenhang zugrunde; sie entsteht aus der Be-
folgung von Sätzen und Vorschriften, die keinen Zusammenhang mit
dem sinnlichen Verständnis mehr haben und deswegen führt diese
Art des Zeichnens gerade von dem Ziel weg, dem sie zu dienen
vorgibt, nämlich der Pflege der Anschauung.
 
Annotationen