HANS HERRMANN-BAMBERG:
VON DER NATÜRLICHEN WÜRDE UNSERES FACHES
Wer nicht irgendwie an dem eigenen Wesen des
Künstlerischen teil hat, in ihm selbst lebt, der kann
nicht das mindeste aussagen, was dieses Wesen und
damit die Kunst betrifft; denn hier gibt es kein Wis-
sen, d. h. keinen Besitz konventioneller Zeichen, die
auf das Vorhandensein bestimmter, unmittelbar nicht
bekannter Werte und Verhältnisse hinweisen.
Das ist nicht auf allen geistigen Gebieten so.
Wenn jemand weiß, daß er bei einer Gleichung ein
Glied mit umgekehrtem Vorzeichen auf die andere
Seite setzen kann, so ist er imstande, die Gleichung
zu lösen. Er braucht gar kein Verhältnis zu den
wesentlichen mathematischen Dingen zu haben und
kann dennoch gewisser Früchte teilhaft werden, wenn
er sein Wissen als Mittel zum Zweck benutzt.
Natürlich wird die Gleichung und jedes mathema-
tische Verhältnis für den wirklichen Mathematiker
einen anderen, eben wesensbestimmten Anblick bie-
ten und er kann mit gutem Recht behaupten, das was
e r betreibe, sei erst Mathematik; aber dennoch bleibt
jene merkwürdige Tatsache bestehen, die irgendwie
auf den Unterschied zwischen Wissen und Können
hindeutet.
Es scheint auf allen Gebieten des geistigen Aus-
drucks zwei Möglichkeiten der Lehre zu geben: Ein-
mal, Wissen beizubringen von Wesenheiten, die un-
mittelbar gar nicht erlebt werden, und dann anzu-
leiten zum Erleben dieser Wesenheiten selber.
Darin eben, ob ein Zweig des Unterrichts mehr oder
minder Wesenspflege einer durch die Struktur des
Geistes gegebenen Ausdrucksmöglichkeit ist, also die
schöpferischen Grundkräfte zum Gegenstand hat, liegt
auch der Grad seiner natürlichen Würde begründet.
Und daraus könnte auch seine Stellung in der ge-
gebenen Rangordnung der Fächer abgeleitet werden,
nicht aus seiner größeren oder geringeren Nützlich-
keit für das zufällige Leben. Es ist eben irrig, zu glau-
ELISABETH K E L L E R M A N N - ITZ E H O E I.H.:
ben, daß deswegen, weil das „tägliche Leben" ge-
wisse Forderungen an den Erwachsenen stellt, die
Schule nun die Aufgabe hätte, möglichst rasch und
vielseitig auf dem bequemsten und bei der geringen
Differenzierung jugendlicher Geisteshaltung meist
allein gangbaren Weg zu dem materiell feststehenden
Bildungsziel zu führen.
Aus dieser Meinung aber und dem geistesengen
Standpunkt der meisten Erwachsenen ist die Lern-
schule entstanden, die trotz aller gegenteiligen Ver-
sicherungen heute noch besteht. Sie ist in ihren Vor-
aussetzungen anfechtbar, da sie gewissen geistigen
Gegebenheiten, die durch keine wirklichen oder ver-
meintlichen „Anforderungen des täglichen Lebens"
aufgehoben werden können, nicht Rechnung trägt.
Freilich sind auch dann, wenn der Weg zur Vermitt-
lung von Wissen über nicht selbst Erlebtes und
Geformtes beschritten wird, gewisse Früchte zu er-
warten. Sie ähneln aber denen, die der Formelmathe-
matiker einheimst: Erfolg, aber nicht bereichertes gei-
stiges Sein. Durch den Reiz des Gelingens findet
diese Art des Unterrichts auch einen gewissen
Anklang bei den Kindern und auch durch den natür-
lichen Trieb, der immer sucht und annimmt, was ihm
von erfahrener Hand geboten wird. Aber die Folgen
einer solchen Erziehung sind verderblich, sicher au'ch
für das „praktische Leben", denn der Geist wird sei-
nem eigenen Wesen entfremdet.
Der Einwand, daß der Mensch erst in höherem Alter
der Wesenserlebnisse fähig sei, ist falsch. Ein Hin-
weis auf die ganz natürliche stufenweise Differen-
zierung der geistigen Form, die Britsch zuerst in
seiner „Theorie der bildenden Kunst" aufgezeigt hat,
möge genügen.
Das möchten wir gegen unbegründete Überheblich-
keit von philologischer Seite sagen, denn wir haben
in dieser Hinsicht ein besseres Gewissen, als sie.
UNSER WANDBEHANG
Eines Morgens in jenem geheimnisvollen Augen-
blick zwischen Schlaf und Aufwachen fiel mir ganz
klar ein, welche letzte Arbeit ich meinen 15 Ober-
primanerinnen als Weihnachts- und Winterfreude an-
tragen würde. Wie eine kostbare Miniatur schwebte
mir die Arbeit vor, schimmernd und schön.
Aus dem Nachlaß meines im Kriege gefallenen Bru-
ders besitze ich eine große blaue Decke, einen
Türvorhang, es ist derber Leinenstoff. Den nahm ich
mit in den Zeichensaal und setzte mich erst mal still
dazu, samt meiner Idee —. Wenn so eine Oberprima
von der Sexta an Frühling, Sommer, Herbst und Win-
ter immer wieder mit einem erlebt hat, gewinnt sie
eine gewisse Witterung für das Seelenwetter ihrer
schwergeprüften Mitreisenden und so etwas wie ein
geduldiger Glanz erschien denn auch auf allen Ge-
sichtern als ich zunächst — nichts sagte. „Die Sprache
ist ein großer Überfluß" steht im „Hyperion".
Schließlich packte ich aus, — nicht sehr ordentlich,
nur sehr froh — und nicht nur, weil Advent vor der
Türe stand. Ich meinte, wir wollten es wagen, eine
Symbolisierung der Idee des Christentums auf dor
blauen Decke — erscheinen zu lassen, — aus Flicken!
Ist unsere Sprache nicht auch nur ein Flickwerk?
ein armes Stammeln? der Herrlichkeit der Natur
gegenüber? Und gibt es nicht trotzdem Gedichte,
Lieder, Gesänge, die länger „da" sind als wir? weil
die Ewigkeit in ihnen wohnt in bescheidener Gedan-
kenhülle. —
Das Äußere der Arbeit war so gedacht, daß jede
Schülerin ein quadratisches (30X30) Aufnähbild als
Aufgabe übernahm, der Entwurf wurde gemalt, wenn
nötig als „Muster" ausgeschnitten und so sollte sich
dann Bild an Bild fügen in abgewogener Farbigkeit,
immer drei nebeneinander und fünf untereinander.
Nun, in dieser ersten Stunde, begann sofort ein
heißer Kampf, galt es doch, sich zu entschließen für
den Bildinhalt dieser 15 Quadrate, dessen tiefere oder
vielmehr höhere Bedeutung von allem Anfang an als
etwas Kostbares von uns allen empfunden wurde.
So ergab es sich einstimmig, daß im Mittelpunkt das
Christkind sein, nein, strahlen müsse, alles andere
könne nur Hinweis oder Neben- und Nachklang sein.
Bald kamen wir darauf, daß lauter figürliche Bilder
unruhig wirken würden, daß dagegen schlichte Sym-
bole neben dem Figürlichen ausgleichend sein dürf-
ten. Eine Schülerin schrieb zunächst einmal von sich
aus an die Tafel, welche Szenen, Sinnbilder und Ge-
danken in Frage kämen. Wir 15 Übrigen saßen längst
nicht mehr auf den Plätzen, wir redeten plötzlich wie
„mit Zungen", irgendetwas hatte alle erfaßt und ob-
gleich nur weiße Runen an der Wand zu sehen waren,
glaube ich fest, daß es in uns allen prächtig wetter-
leuchtete. Es war ein Fest und die Mauersteine der
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VON DER NATÜRLICHEN WÜRDE UNSERES FACHES
Wer nicht irgendwie an dem eigenen Wesen des
Künstlerischen teil hat, in ihm selbst lebt, der kann
nicht das mindeste aussagen, was dieses Wesen und
damit die Kunst betrifft; denn hier gibt es kein Wis-
sen, d. h. keinen Besitz konventioneller Zeichen, die
auf das Vorhandensein bestimmter, unmittelbar nicht
bekannter Werte und Verhältnisse hinweisen.
Das ist nicht auf allen geistigen Gebieten so.
Wenn jemand weiß, daß er bei einer Gleichung ein
Glied mit umgekehrtem Vorzeichen auf die andere
Seite setzen kann, so ist er imstande, die Gleichung
zu lösen. Er braucht gar kein Verhältnis zu den
wesentlichen mathematischen Dingen zu haben und
kann dennoch gewisser Früchte teilhaft werden, wenn
er sein Wissen als Mittel zum Zweck benutzt.
Natürlich wird die Gleichung und jedes mathema-
tische Verhältnis für den wirklichen Mathematiker
einen anderen, eben wesensbestimmten Anblick bie-
ten und er kann mit gutem Recht behaupten, das was
e r betreibe, sei erst Mathematik; aber dennoch bleibt
jene merkwürdige Tatsache bestehen, die irgendwie
auf den Unterschied zwischen Wissen und Können
hindeutet.
Es scheint auf allen Gebieten des geistigen Aus-
drucks zwei Möglichkeiten der Lehre zu geben: Ein-
mal, Wissen beizubringen von Wesenheiten, die un-
mittelbar gar nicht erlebt werden, und dann anzu-
leiten zum Erleben dieser Wesenheiten selber.
Darin eben, ob ein Zweig des Unterrichts mehr oder
minder Wesenspflege einer durch die Struktur des
Geistes gegebenen Ausdrucksmöglichkeit ist, also die
schöpferischen Grundkräfte zum Gegenstand hat, liegt
auch der Grad seiner natürlichen Würde begründet.
Und daraus könnte auch seine Stellung in der ge-
gebenen Rangordnung der Fächer abgeleitet werden,
nicht aus seiner größeren oder geringeren Nützlich-
keit für das zufällige Leben. Es ist eben irrig, zu glau-
ELISABETH K E L L E R M A N N - ITZ E H O E I.H.:
ben, daß deswegen, weil das „tägliche Leben" ge-
wisse Forderungen an den Erwachsenen stellt, die
Schule nun die Aufgabe hätte, möglichst rasch und
vielseitig auf dem bequemsten und bei der geringen
Differenzierung jugendlicher Geisteshaltung meist
allein gangbaren Weg zu dem materiell feststehenden
Bildungsziel zu führen.
Aus dieser Meinung aber und dem geistesengen
Standpunkt der meisten Erwachsenen ist die Lern-
schule entstanden, die trotz aller gegenteiligen Ver-
sicherungen heute noch besteht. Sie ist in ihren Vor-
aussetzungen anfechtbar, da sie gewissen geistigen
Gegebenheiten, die durch keine wirklichen oder ver-
meintlichen „Anforderungen des täglichen Lebens"
aufgehoben werden können, nicht Rechnung trägt.
Freilich sind auch dann, wenn der Weg zur Vermitt-
lung von Wissen über nicht selbst Erlebtes und
Geformtes beschritten wird, gewisse Früchte zu er-
warten. Sie ähneln aber denen, die der Formelmathe-
matiker einheimst: Erfolg, aber nicht bereichertes gei-
stiges Sein. Durch den Reiz des Gelingens findet
diese Art des Unterrichts auch einen gewissen
Anklang bei den Kindern und auch durch den natür-
lichen Trieb, der immer sucht und annimmt, was ihm
von erfahrener Hand geboten wird. Aber die Folgen
einer solchen Erziehung sind verderblich, sicher au'ch
für das „praktische Leben", denn der Geist wird sei-
nem eigenen Wesen entfremdet.
Der Einwand, daß der Mensch erst in höherem Alter
der Wesenserlebnisse fähig sei, ist falsch. Ein Hin-
weis auf die ganz natürliche stufenweise Differen-
zierung der geistigen Form, die Britsch zuerst in
seiner „Theorie der bildenden Kunst" aufgezeigt hat,
möge genügen.
Das möchten wir gegen unbegründete Überheblich-
keit von philologischer Seite sagen, denn wir haben
in dieser Hinsicht ein besseres Gewissen, als sie.
UNSER WANDBEHANG
Eines Morgens in jenem geheimnisvollen Augen-
blick zwischen Schlaf und Aufwachen fiel mir ganz
klar ein, welche letzte Arbeit ich meinen 15 Ober-
primanerinnen als Weihnachts- und Winterfreude an-
tragen würde. Wie eine kostbare Miniatur schwebte
mir die Arbeit vor, schimmernd und schön.
Aus dem Nachlaß meines im Kriege gefallenen Bru-
ders besitze ich eine große blaue Decke, einen
Türvorhang, es ist derber Leinenstoff. Den nahm ich
mit in den Zeichensaal und setzte mich erst mal still
dazu, samt meiner Idee —. Wenn so eine Oberprima
von der Sexta an Frühling, Sommer, Herbst und Win-
ter immer wieder mit einem erlebt hat, gewinnt sie
eine gewisse Witterung für das Seelenwetter ihrer
schwergeprüften Mitreisenden und so etwas wie ein
geduldiger Glanz erschien denn auch auf allen Ge-
sichtern als ich zunächst — nichts sagte. „Die Sprache
ist ein großer Überfluß" steht im „Hyperion".
Schließlich packte ich aus, — nicht sehr ordentlich,
nur sehr froh — und nicht nur, weil Advent vor der
Türe stand. Ich meinte, wir wollten es wagen, eine
Symbolisierung der Idee des Christentums auf dor
blauen Decke — erscheinen zu lassen, — aus Flicken!
Ist unsere Sprache nicht auch nur ein Flickwerk?
ein armes Stammeln? der Herrlichkeit der Natur
gegenüber? Und gibt es nicht trotzdem Gedichte,
Lieder, Gesänge, die länger „da" sind als wir? weil
die Ewigkeit in ihnen wohnt in bescheidener Gedan-
kenhülle. —
Das Äußere der Arbeit war so gedacht, daß jede
Schülerin ein quadratisches (30X30) Aufnähbild als
Aufgabe übernahm, der Entwurf wurde gemalt, wenn
nötig als „Muster" ausgeschnitten und so sollte sich
dann Bild an Bild fügen in abgewogener Farbigkeit,
immer drei nebeneinander und fünf untereinander.
Nun, in dieser ersten Stunde, begann sofort ein
heißer Kampf, galt es doch, sich zu entschließen für
den Bildinhalt dieser 15 Quadrate, dessen tiefere oder
vielmehr höhere Bedeutung von allem Anfang an als
etwas Kostbares von uns allen empfunden wurde.
So ergab es sich einstimmig, daß im Mittelpunkt das
Christkind sein, nein, strahlen müsse, alles andere
könne nur Hinweis oder Neben- und Nachklang sein.
Bald kamen wir darauf, daß lauter figürliche Bilder
unruhig wirken würden, daß dagegen schlichte Sym-
bole neben dem Figürlichen ausgleichend sein dürf-
ten. Eine Schülerin schrieb zunächst einmal von sich
aus an die Tafel, welche Szenen, Sinnbilder und Ge-
danken in Frage kämen. Wir 15 Übrigen saßen längst
nicht mehr auf den Plätzen, wir redeten plötzlich wie
„mit Zungen", irgendetwas hatte alle erfaßt und ob-
gleich nur weiße Runen an der Wand zu sehen waren,
glaube ich fest, daß es in uns allen prächtig wetter-
leuchtete. Es war ein Fest und die Mauersteine der
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