FRITZ V O L K IVI A N N - B A L L E N S T E D T I. H.:
WIE KÖNNEN DIE KÜ NSTLE RISCH E N FÄCHER FÜR DIE GESAMTE
BILDUNGS- UND ERZIEHUNGSAUFGABE NUTZBAR GEMACHT WERDEN?
Die Entwicklung der künstlerischen Fächer führte in
den letzten 30 Jahren zu einer grundlegenden Neu-
orientierung. Noch um die Jahrhundertwende zeich-
nete man nach Gipsmodellen und Vorlagen, während
der Musikunterricht in einem einfachen Nachsingen
vorgesungener Lieder bestand. Durch die großen
Kunsterziehungstage in Hamburg u. a. bekehrte man
sich unter dem Einfluß des Impressionismus zum natur-
nachahmenden Gestalten. Man hoffte im Gegensatz
zu dem öden schematischen Nachzeichnen die inneren
Kräfte lebendig zu machen, das Auge zum Färb- und
Formsehen zu schulen und dadurch die Anschauungen
zu erweitern. Das naturnachahmende Gestalten wird
zum großen Teil heute noch an den Schulen geübt.
In den letzten 10 Jahren drängte die Entwicklung
unter dem Einfluß neuer Kunstrichtungen und durch
die Veränderungen des wirtschaftlichen, gesellschaft-
lichen, politischen und sozialen Lebens zu einem in-
neren Umbau der gesamten Bildungs- und Erziehungs-
tätigkeit. In den künstlerischen Fächern macht sich
das Neue zuerst bemerkbar, und zwar dadurch, daß
sich die künstlerischen Fächer von der äußeren Natur,
von dem Nachahmen ihrer Erscheinungsformen loslös-
ten. Die Kunsterzieher faßten ihre innere Verarbeitung
näher ins Auge. Man begann, sich mit dem jugend-
lichen Menschen an sich zu beschäftigen, seine Kräfte
in seiner Welt zu beobachten und nach und nach das
Hauptgewicht auf die Auseinandersetzung der inne-
ren Kräfte, der Veranlagung und der inneren Struktur
mit den äußeren Erscheinungsformen zu legen. Das
war der Übergang zu einer neuen Gestaltungsweise.
Lange schon empfand man, daß die rein intellek-
tuelle Schule Kräfte ignorierte, die bisher in der Fa-
milie und in dem ihr naheliegenden Arbeitsfeld des
Vaters Betätigung fanden. Die veränderten Verhält-
nisse, die die Kollektivarbeit, die Industriealisierung
und Normierung, und damit eine gesamte innere Um-
stellung brachten, hatten keine direkte Nahrung mehr
für die inneren Kräfte, deren Natur sich später näher
herausstellen wird. Die Jugend empfand das sehr
stark und rebellierte zunächst, weil sie sich des
eigentlichen Grundes nicht klar war, gegen die Fa-
milie (Wandervogelbewegung), dann gegen das In-
tellektuelle (Sport und Gymnastik). Die Erziehung ver-
suchte zu helfen und nacheinander gewannen die die
Entwicklung am stärksten berührenden Fächer an Wert.
Beobachtet man die Jugend, so spürt man überall
den Drang, selbst zu sein. Nicht etwa im Sinne der
Eiwachsenen, wie es manchmal aussieht, sondern man
will in eigener Welt schöpferisch, erfindend, schaffend
und aufbauend tätig sein. Man will nicht nachlernen,
sondern selbst Erfahrungen sammeln und danach le-
ben und den Erwachsenen viel mehr lieben, verehren
und anerkennen als Berater.
Die moderne Psychologie gibt der Jugend recht.
Lernen, intellektuell lernen ist Verstandestätigkeit, die
nur logische Urteile für alles Geschehen hat, die aber
nicht den ganzen Menschen empfinden und spüren
läßt sondern das nur nebenbei gestattet. In dem In-
nern ist aber ein ständiges Fließen, meist im Unter-
bewußtsein, wo die Phantasie historische und gegen-
wärtige Vorstellungen zu Gebilden formt, in dem sich
Geistiges und Gefühlsmäßiges dauernd berühren und
beeinflussen, wo aus dem Bewußtsein und aus dem
Triebhaften, aus dem Gemüt und aus der eigenen
Kraft der Vorstellung wellenförmig sich erweiternde
Vorstöße kommen, die bedingen und neu verbinden.
Dre Ergebnisse stoßen vor ins Bewußtsein oder trei-
ben im Traum ihr Spiel und je nachdem, welche Kräfte
in diesem Kräftespiel am stärksten sind, bedingen sie
die Gesamteinstellung, zunächst des bewußt werden-
den Vorstellungskomplexes, dann aber in der Folge
die Einstellung des gesamten Menschen. Daraus geht
hervor, daß Geistiges und Gefühlsmäßiges gleich-
berechtigt und gleichwirkend nebeneinanderstehen,
daß der ganze Mensch nur mit dem Ansaugen aller
Kräfte an das Neue und in der Betätigung aller Kräfte
wachsen kann, daß Brachliegenlassen irgendwelcher
Kräfte innere Störungen, also seelische Depressionen
und Verkümmerungen hervorrufen müssen.
Die Kunsterzieher waren die ersten, die dies klar
erkannten, freilich nicht unbeeinflußt durch die Kunst.
In ihrem Ringen um die Gestaltung waren einige
Künstler zu einer neuen Primitivität zurückgekehrt, um
gläubig alle inneren Regungen zu belauschen und sie
unberührt durch die gewachsene historische Geisles-
technik zu gestalten. Ich erinnere an die Namen Paul
Klee und Rousseau.
Ihre Bilder erinnern an die Kritzeleien der Kinder
auf den Straßen, an den Wänden und auf ihren Tafeln.
Man ließ Kinder nun unbeeinflußt zeichnen, sammelte
die Arbeiten (Hartlaub) und merkte allmählich darin
ein inneres Wachsen des ganzen Menschen.
Die Formen die diese Zeichnungen zeigen, sind uns
ungewohnt, wie uns das Spielen der Kinder oft seltsam
anmutet. Sie verknüpften mit den alltäglichsten Dingen
ganz andere und viel mehr Vorstellungen wie wir.
Kein Wunder, die Kinder sehen und fühlen anders,
weil, sie primär in freibeweglichen Fantasie-Vorstellun-
gen jeweils von seilen gefühlsmäßiger oder geistiger
Art, die sie in diesem Zusammenhänge irgendwie
schon einmal erlebt, innerlich erfahren haben, ver-
binden.
Daraus ergibt sich für den Kunsterzieher seine Ar-
beit. Er muß z. B. als Zeichenlehrer jeden zeichne-
rischen Eingriff vermeiden, die Schüler dauernd beob-
achten, untersuchen und geeignete Themen stellen,
die den Vorstellungsschatz und seine Assoziationen
erweitern und vermehren und neben dem Geistigen
vor allem das Gefühlsmäßige lebendig machen. Dann
aber, und das ist das Wichtigste, muß er die Themen
so stellen, daß in der Zeichnung die im Unterbewußl-
sein sich formenden Gebilde zum Ausdruck gebracht
werden, die, wie vorhin gesagt wurde, sich aus allen
Kräften des Menschen nähren und durch die Fantasie
fließend in Zusammenhang gebracht werden. Für diese
Gebilde schaffen die Schüler auf Grund ihrer Erfahrung
räumliche und zeitliche Organisationen, die wir imKunst-
unterricht Kompositionen nennen; d. h. sie bringen
diese Gebilde äquivalent der inneren Entstehung in der
Gestaltung in räumlichen und zeitlichen Zusammen-
hang. Viele Kompositionen schaffen erstens Erfahrung
über den Weg des inneren Gebildes zu der Gestal-
tung und nach und nach klare eigene und vielseitig
beleuchtete Gestaltungsarten. Kommen die fließenden
inneren Gebilde der Fantasie in der dem betreffen-
den Menschen eigenen Gestaltungsart zum Ausdruck,
so spricht man von einem Gestalten nach eigenen
rhythmischen Gesetzen.
Die Leistung des Schülers besteht also darin, daß
er seinem Alter, seinen Anlagen und seiner Erfahrung
gemäß Vorstellungen und ihre Assoziationen räumlich
und zeitlich nach in ihm gewachsenen rhythmischen
Gesetzen in Kompositionen oder anders ausgedrückt
in künstlerischen Organisationen gestaltet.
Jede Komposition ist also klarer Ausdruck des inne-
ren Arbeitsprozesses und des bis dahin Erreichten.
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WIE KÖNNEN DIE KÜ NSTLE RISCH E N FÄCHER FÜR DIE GESAMTE
BILDUNGS- UND ERZIEHUNGSAUFGABE NUTZBAR GEMACHT WERDEN?
Die Entwicklung der künstlerischen Fächer führte in
den letzten 30 Jahren zu einer grundlegenden Neu-
orientierung. Noch um die Jahrhundertwende zeich-
nete man nach Gipsmodellen und Vorlagen, während
der Musikunterricht in einem einfachen Nachsingen
vorgesungener Lieder bestand. Durch die großen
Kunsterziehungstage in Hamburg u. a. bekehrte man
sich unter dem Einfluß des Impressionismus zum natur-
nachahmenden Gestalten. Man hoffte im Gegensatz
zu dem öden schematischen Nachzeichnen die inneren
Kräfte lebendig zu machen, das Auge zum Färb- und
Formsehen zu schulen und dadurch die Anschauungen
zu erweitern. Das naturnachahmende Gestalten wird
zum großen Teil heute noch an den Schulen geübt.
In den letzten 10 Jahren drängte die Entwicklung
unter dem Einfluß neuer Kunstrichtungen und durch
die Veränderungen des wirtschaftlichen, gesellschaft-
lichen, politischen und sozialen Lebens zu einem in-
neren Umbau der gesamten Bildungs- und Erziehungs-
tätigkeit. In den künstlerischen Fächern macht sich
das Neue zuerst bemerkbar, und zwar dadurch, daß
sich die künstlerischen Fächer von der äußeren Natur,
von dem Nachahmen ihrer Erscheinungsformen loslös-
ten. Die Kunsterzieher faßten ihre innere Verarbeitung
näher ins Auge. Man begann, sich mit dem jugend-
lichen Menschen an sich zu beschäftigen, seine Kräfte
in seiner Welt zu beobachten und nach und nach das
Hauptgewicht auf die Auseinandersetzung der inne-
ren Kräfte, der Veranlagung und der inneren Struktur
mit den äußeren Erscheinungsformen zu legen. Das
war der Übergang zu einer neuen Gestaltungsweise.
Lange schon empfand man, daß die rein intellek-
tuelle Schule Kräfte ignorierte, die bisher in der Fa-
milie und in dem ihr naheliegenden Arbeitsfeld des
Vaters Betätigung fanden. Die veränderten Verhält-
nisse, die die Kollektivarbeit, die Industriealisierung
und Normierung, und damit eine gesamte innere Um-
stellung brachten, hatten keine direkte Nahrung mehr
für die inneren Kräfte, deren Natur sich später näher
herausstellen wird. Die Jugend empfand das sehr
stark und rebellierte zunächst, weil sie sich des
eigentlichen Grundes nicht klar war, gegen die Fa-
milie (Wandervogelbewegung), dann gegen das In-
tellektuelle (Sport und Gymnastik). Die Erziehung ver-
suchte zu helfen und nacheinander gewannen die die
Entwicklung am stärksten berührenden Fächer an Wert.
Beobachtet man die Jugend, so spürt man überall
den Drang, selbst zu sein. Nicht etwa im Sinne der
Eiwachsenen, wie es manchmal aussieht, sondern man
will in eigener Welt schöpferisch, erfindend, schaffend
und aufbauend tätig sein. Man will nicht nachlernen,
sondern selbst Erfahrungen sammeln und danach le-
ben und den Erwachsenen viel mehr lieben, verehren
und anerkennen als Berater.
Die moderne Psychologie gibt der Jugend recht.
Lernen, intellektuell lernen ist Verstandestätigkeit, die
nur logische Urteile für alles Geschehen hat, die aber
nicht den ganzen Menschen empfinden und spüren
läßt sondern das nur nebenbei gestattet. In dem In-
nern ist aber ein ständiges Fließen, meist im Unter-
bewußtsein, wo die Phantasie historische und gegen-
wärtige Vorstellungen zu Gebilden formt, in dem sich
Geistiges und Gefühlsmäßiges dauernd berühren und
beeinflussen, wo aus dem Bewußtsein und aus dem
Triebhaften, aus dem Gemüt und aus der eigenen
Kraft der Vorstellung wellenförmig sich erweiternde
Vorstöße kommen, die bedingen und neu verbinden.
Dre Ergebnisse stoßen vor ins Bewußtsein oder trei-
ben im Traum ihr Spiel und je nachdem, welche Kräfte
in diesem Kräftespiel am stärksten sind, bedingen sie
die Gesamteinstellung, zunächst des bewußt werden-
den Vorstellungskomplexes, dann aber in der Folge
die Einstellung des gesamten Menschen. Daraus geht
hervor, daß Geistiges und Gefühlsmäßiges gleich-
berechtigt und gleichwirkend nebeneinanderstehen,
daß der ganze Mensch nur mit dem Ansaugen aller
Kräfte an das Neue und in der Betätigung aller Kräfte
wachsen kann, daß Brachliegenlassen irgendwelcher
Kräfte innere Störungen, also seelische Depressionen
und Verkümmerungen hervorrufen müssen.
Die Kunsterzieher waren die ersten, die dies klar
erkannten, freilich nicht unbeeinflußt durch die Kunst.
In ihrem Ringen um die Gestaltung waren einige
Künstler zu einer neuen Primitivität zurückgekehrt, um
gläubig alle inneren Regungen zu belauschen und sie
unberührt durch die gewachsene historische Geisles-
technik zu gestalten. Ich erinnere an die Namen Paul
Klee und Rousseau.
Ihre Bilder erinnern an die Kritzeleien der Kinder
auf den Straßen, an den Wänden und auf ihren Tafeln.
Man ließ Kinder nun unbeeinflußt zeichnen, sammelte
die Arbeiten (Hartlaub) und merkte allmählich darin
ein inneres Wachsen des ganzen Menschen.
Die Formen die diese Zeichnungen zeigen, sind uns
ungewohnt, wie uns das Spielen der Kinder oft seltsam
anmutet. Sie verknüpften mit den alltäglichsten Dingen
ganz andere und viel mehr Vorstellungen wie wir.
Kein Wunder, die Kinder sehen und fühlen anders,
weil, sie primär in freibeweglichen Fantasie-Vorstellun-
gen jeweils von seilen gefühlsmäßiger oder geistiger
Art, die sie in diesem Zusammenhänge irgendwie
schon einmal erlebt, innerlich erfahren haben, ver-
binden.
Daraus ergibt sich für den Kunsterzieher seine Ar-
beit. Er muß z. B. als Zeichenlehrer jeden zeichne-
rischen Eingriff vermeiden, die Schüler dauernd beob-
achten, untersuchen und geeignete Themen stellen,
die den Vorstellungsschatz und seine Assoziationen
erweitern und vermehren und neben dem Geistigen
vor allem das Gefühlsmäßige lebendig machen. Dann
aber, und das ist das Wichtigste, muß er die Themen
so stellen, daß in der Zeichnung die im Unterbewußl-
sein sich formenden Gebilde zum Ausdruck gebracht
werden, die, wie vorhin gesagt wurde, sich aus allen
Kräften des Menschen nähren und durch die Fantasie
fließend in Zusammenhang gebracht werden. Für diese
Gebilde schaffen die Schüler auf Grund ihrer Erfahrung
räumliche und zeitliche Organisationen, die wir imKunst-
unterricht Kompositionen nennen; d. h. sie bringen
diese Gebilde äquivalent der inneren Entstehung in der
Gestaltung in räumlichen und zeitlichen Zusammen-
hang. Viele Kompositionen schaffen erstens Erfahrung
über den Weg des inneren Gebildes zu der Gestal-
tung und nach und nach klare eigene und vielseitig
beleuchtete Gestaltungsarten. Kommen die fließenden
inneren Gebilde der Fantasie in der dem betreffen-
den Menschen eigenen Gestaltungsart zum Ausdruck,
so spricht man von einem Gestalten nach eigenen
rhythmischen Gesetzen.
Die Leistung des Schülers besteht also darin, daß
er seinem Alter, seinen Anlagen und seiner Erfahrung
gemäß Vorstellungen und ihre Assoziationen räumlich
und zeitlich nach in ihm gewachsenen rhythmischen
Gesetzen in Kompositionen oder anders ausgedrückt
in künstlerischen Organisationen gestaltet.
Jede Komposition ist also klarer Ausdruck des inne-
ren Arbeitsprozesses und des bis dahin Erreichten.
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