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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 11.1931

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Fritz, Ernst: Dem "Westfalenheft" zum Geleit!
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Merwart, Fritz: Zierers absolute Tiefenanschauung und ihre Bedeutung für die Kunsterziehung
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https://doi.org/10.11588/diglit.28010#0064

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F.MERWART:
ZIERERS ABSOLUTE TI EFEN ANSCH AUU NG UND IHRE BEDEUTUNG FÜR
D|E KUNSTERZIEHUNG

Nicht deswegen fühle ich mich zur Abfassung die-
ser Zellen gedrängt, weil ich etwa glaubte,
schon vollständig in die Tiefenanschauung eingedrun-
en zu sein. Dazu gehört lange Übung und Erkennt-
nisarbeit vor Originalwerken. Sie ist kein Rezept,
das man sich durch Lesen eines Buches oder Anhören
eines Vortrages verschaffen könnte. Aber sie hat mich
vom ersten Augenblick an, als ich von ihr hörte, inner-
lich gepackt und seitdem nicht wieder losgelassen,
weü sie sowohl unserer Erziehungsarbeit als auch un-
serer persönlichen künstlerischen Tätigkeit einen neuen
tieferen Sinn geben muß. Auch habe ich bereits auf
der Ausstellung in Breslau Pfingsten 1930 mit einer
kleinen Arbeitsgemeinschaft den Versuch gemacht,
das Augenmerk der Kollegen auf die neue Sache zu
lenken und fühle mich verpflichtet,, von dem Stand
der Dinge zu berichten. Die völlige Erarbeitung der
Tiefenanschauung" wird immer der persönlichen
Fühlungnahme überlassen bleiben müssen. Und so ist
es kein Wunder, daß sie bisher hauptsächlich an den
Orten Boden gewonnen hat, wo Dr. Zierer seine Lehre
selbst vertreten hat, in Stockholm und zuletzt in Ber-
lin, Hier sind bereits eine Menge Leute, darunter auch
eine Anzahl aus unserem engeren Berufskreise, ein-
geführt worden. Die Anschauung etwa durch die
Tagespresse der Allgemeinheit zugänglich zu machen,
ist selbstverständlich unmöglich. Und so müssen
die Anfänge im Vergleich zu der ungeheuren Be-
deutung der Sache naturgemäß bescheiden erschei-
nen. Da sie aber nicht mehr und nichts weniger
als eine völlige Umstellung auf dem gesamten Ge-
biete der Kunstkritik, der Kunstwertung, der Kunst-
erziehung verursachen wird, müssen wir uns irgend-
wie mit ihr abfinden, mögen wir sie nun annehmen
oder auch ablehnen.
Letzten Endes mündet diese Kunstanschauung ab-
seits alles Artistischen in eine Weltanschauung. Dar-
aus geht schon hervor, daß es sich hier nicht — wie
manche aus gewissen Zusammenhängen geschlossen
haben — um eine Maltheorie handelt, etwa die Wal-
ter-Kurausche Malweise und ihre theoretische Begrün-
dung. Wohl ist Zierers Name den Kollegen erst durch
die Kunstmonographie über Walter-Kurau bekannt ge-
worden. Aber gerade die Art, wie in diesem Buche
das Werk einer künstlerisch hervorragenden — wenn
auch in der breiten Öffentlichkeit weniger bekannten
- Persönlichkeit behandelt ist, zeugt davon, daß es
sich hierbei nur um eine praktische Anwendung der
lehre Zierers, sozusagen um eine Demonstration mit
dem Hilfsmittel eines Buches über einen einzelnen
Künstler handelt.
Was versteht nun Dr. Zierer unter der absoluten
Tiefenanschauung? Jeder, der versucht hat, künstle-
rische Erkenntnisse in Worte zu fassen, wird gemerkt
haben, daß uns bei diesen Dingen das Wort immer
wieder entgleitet, leicht einen falschen Schein an-
nimmt und zu Mißverständnissen Anlaß gibt; ganz be-
sonders das geschriebene Wort. Aber wir sind
ja vorläufig auf dieses Hilfsmittel angewiesen. Das
Wort absolut deutet an, daß hier endlich Schluß
gemacht wird mit dem heute schon beängstigenden
Tempo der Umwertung der Kunstwerte, mit der Un-
sicherheit, ja eingestandenen Unfähigkeit selbst der
Kritiker und Kunstwissenschaftler, ein Kunstwerk ob-
jektiv zu werten. Das Rennen nach dem Sensationel-
len, um jeden Preis Neuen auch in der Kunst drückt
ja dem heutigen Kampf ums Dasein seinen besonderen
Stempel auf. Hand in Hand mit dem immer stärker

hervortretenden Gebaren der Mode auch im Kunst-
betrieb geht das Anbeten von Götzen, der Persön-
lichkeitskult im Sinne der Filmstars, namenlose Über-
schätzung der Prominenten — seien es nun solche
der Jetztzeit oder solche einer gerade auf dem Schät-
zungshöhepunkt angelangten früheren Entwickelungs-
periode.
Das Publikum, soweit es überhaupt noch Interesse
an Kunst hat, hält sich an Namen und glaubt dadurch
jeder weiteren Mühe der eigenen Beurteilung über-
hoben zu sein. Die Künstler selbst wissen auch keinen
Ausweg aus den Schwierigkeiten (siehe die Debatten
über Kritik in „Kunst und Wirtschaft", dem Organ des
Reichsverbandes Bild. Künstler). Die wirtschaftlich so-
wieso schon katastrophale Lage wird durch die ein-
seitig kapitalistische Verteilung der für Kunst aufge-
wandten Summen nur noch schlimmer für die Allge-
meinheit der Künstler. Schließlich wird das Durch-
schnittspublikum nur noch mechanische Reproduk-
tionen von sog. „Meisterwerken" kaufen. Daß auch
die Erziehung bisher wenig Besserung hat schaffen
können, müssen wir leider zugeben, stehn wir doch
selbst unter dem Einfluß der bezeichneten Anschau-
ungen. Freilich bemühen wir uns alle bereits längere
Zeit um Schaffung einer festen Grundlage, um einen
künstlerischen Maßstab, der uns in der Auswahl und
Behandlung der kunstpraktischen Übungen leiten und
durch Erziehung der „gestaltenden" Kräfte der Schü-
ler diesem auch eine Mitgabe fürs Leben werden soll.
Nur darüber, was eigentlich „Gestaltung" im künst-
lerischen Sinne ist, gehen die Meinungen weit aus-
einander. Das erscheint selbstverständlich, so lange
wir nicht einig sind, ob es überhaupt objektive Maß-
stäbe gibt und welcher Art diese sind. Darüber ist
kein Zweifel, daß der Drang zum Absoluten zu-
nimmt, er ist sozusagen „zeitgemäß". (Das ist aber
auch das einzige Zeitgemäße, Zeitbedingte an der
Tiefenanschauung; denn was sie selbst als Erkenntnis
zutage fördert, ist zeitlos und unabhängig von Ent-
wickelung und Mode.) Dieser Tage schrieb mir einei
meiner früheren Schüler (nebenbei gesagt einer, der
im Zeichenunterricht trotz allen Fleißes nur wenig zu-
wege brachte, aber bei allen künstlerischen Proble-
men stark interessiert war) aus Paris (wo er Sprachen
studiert), daß er Stammgast im Louvre sei und dabei
merkwürdige Entdeckungen gemacht habe, z. B. an
den Bildern von Renoir. Er erkenne den hohen künst-
lerischen Wert dieser Werke an, möge sie aber trotz-
dem persönlich nicht, glaube also, daß es eine ob-
jektive Wertung in der Kunst gebe — abseits des rein
persönlichen Geschmackes. In der kleinen Einführung
zu Paula Modersohn in einem Bande der „jungen
Kunst" sagt C. E. Uphoff: „Der Kunstgenießende und
sogar der Kunstgelehrte pflegt heute in vielen Fällen
an Werken, die namenlos sind oder deren Urheber
noch unbekannt sind, achtlos vorbei zu gehen, dem
Menschen gilt zuerst das Interesse und dann erst der
Kunst . . ." Man könnte die Zahl der ähnlich gerich-
teten Meinungsäußerungen noch beliebig vermehren.
Aber wie gelangt man nun zu einem absoluten
Wertmaßstab? Daß auch mit irgendwelchen ma-
thematisch ausgerechneten Kompositionsgerüsten, Flä-
chenaufteilung und dergleichen, in dieser Hinsicht
nichts anzufangen ist, haben wir alle gemerkt. Das
sind alles Angelegenheiten der „Physiognomie", wie
Zierer es nennt, der Oberfläche des Kunstwerkes. Wir
müssen die innere Bindung, die innere Beziehung der
Farbwerte und Zeichnungselemente erkennen lernen

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