ZUM NACHDENKEN
Von der Seligkeit des Schauens.
Jedermann kennt den eigentümlichen Erhabenheits-
schauer, den ein Blick in die klare Sternennacht des
winterlichen Himmels gewährt. Hat er nun aber gründ-
lich gelernt, die Sterne gruppenweise nach überliefer-
ten Figuren zusammenzufassen, hier den Aldebaran,
dort die Krone, den Wagen, die Leier, die Schlange,
Orion, Kassiopeia zu sehen, so ist auch im Maße sei-
ner Bekanntschaft mit ihm sein nächtliches Weltall
ärmer, näher und flacher gewordenl Zwar hat er an-
deres dafür eingetauscht. Nachdem wir nun einmal
fragende Wesen wurden, Wesen voller Neubegierde
und mit dem unbezwinglichen Hange zum Deuten,
Bestimmen und Rätsellösen, so befriedigt und sättigt
unseren Erkenntniswillen und weitet unser Besitz-
gefühl jeder Augenblick des Findens, und so lockt
und reizt hin und wieder zu immer neuen Entdecker-
fahrten jede Grenze unseres Begriffenhabens. Dieses
aber ist das widersprüchliche Schicksal alles Besitz-
ergreifens oder vielmehr der Tat überhaupt, daß die
Vollbringung steigert, indes das Vollbrachte in Fesseln
schlägtl Und was wir uns selber durch die Findung
bereichert wähnen, weil wir im Finden die Lust des
Obsiegens über ein Hindernis des Bewußtseins kosten,
um eben dasselbe beraubten wir die Wirklichkeit
und verengten wir die Unendlichkeit des Erlebens,
dem jeder neue Fund ein neues Gesetz vorschreibt,
eine neue Schranke zieht, ein neues unwiderrufliches
Soll eingeübt! Die Lust des Eroberns ist eine Lust am
Ich, um den Preis einer gleichgewogenen Verarmung
dieser feil: jede Befriedigung des „Willens zur Macht"
wird gebüßt mit einem Verlust am Vermögen zur Se-
ligkeit! Dem sophokleischen Preislied antwortet mit
drohender Eindringlichkeit der Klageruf Hyperions:
„Ich . . . habe gründlich mich unterscheiden gelernt
von dem, was mich umgibt, bin nun vereinzelt in der
schönen Welt, bin so ausgeworfen aus dem Garten,
der Natur, wo ich wuchs und blühte, und vertrockne
an der Mittagsonne. Ein Gott ist der Mensch, wenn er
träumt, ein Bettler wenn er nachdenkt."
nachdem jener zum erstenmal mit dem Lol seine Tiefe
maß. Die Wolken hören auf, stürmende Dämonenscha-
ren zu sein, wenn ich bekannt geworden mit dem
Gesetz der Ausscheidung des Wasserdampfes, der
tot. wie er ist, dem wiederum regelhaftschwankenden
Luftdruck folgt.
+ + +
Inzwischen, da auch vom „Gebildeten" wenigstens
der scharfe Gebirgsgrat seiner Künste und Dichtun-
gen zum mythischen Bewußtsein hinüberführt, sei uns
ein letztes Beispiel aus diesem Bereich verstattet.
Man wage es, den Farbeneinklang des reichsten Ge-
mäldes, die Schönheitslinie der lebendigsten Statue,
das Baugefüge des raumbezwingendsten Domes, den
musikalischen „Gedanken", die wogendsten Sympho-
nien, das rhythmische „Gesetz" der entrückendsten
Dichtung zu studieren, und man wird alsbald ihr
Geheimnis entwichen und sich selbst um den inner-
sten Zauber betrogen sehen, mit dem das Werk den
verstandlos Liebenden umspannt und gefangen
hielt. Einem Zeitalter zum Trotz, dessen oberster Gei-
stesdünkel ein unfruchtbares Kennertum und eine blut-
lose „Ästhetik" ist und dessen Künstler größtenteils
nunmehr ausübende Kenner sind, sei es gesagt, daß
der Kenner sich zum Begeisterten verhält wie der
Schneidermeister der Braut zum Bräutigam!
Goethe, der aus einem großen Dichter fast ein
großer Kenner, überdies aber ein wirklicher Weiser
wurde, und darum aus Eigenerfahrung Bescheid weiß,
hat es irgendwo (dem Sinne nach) ausgesprochen,
man müsse sich hüten, kennermäßig in eine Materie
eindringen zu wollen, für die man mit dem Herzen
empfänglich sei, gerade die „Wissenschaft" beraube
uns der Vertrautheit mit ihrem Gegenstände, weil sie,
so dürfen wir hinzufügen, sein Bild zerfasert und uns
am Ende nichts als eine Handvoll Tatsachen über-
läßt. Wie mancher erlahmte nicht auf halbem Wege
zur Meisterschaft, weil er stecken blieb in „Problemen
der Technik"; und welcher jugendliche Schwärmer für
Blumen, Tiere oder Sterne hätte nicht längst die Bil-
der seiner Liebe verloren, nachdem ihn sein irrender
+ + +
Der kennzeichnende Zug des bewußtlos Beglük-
kenden ist alterlose Ursprünglichkeit, ewige Quell-
natur, Ferne, mit der wir verschmelzen, ohne ihr anzu-
nahen, Vertrautheit, die dennoch Fremdheit bleibt,
ungeteilte und unaufleilbaro Fülle, Der Verstand aboi
mißt und zahlt, biingl feinstes inublaslbarc und gleich-
wohl gesonderte Nähe, entschleiert die Fremdheit und
macht uns „bekannt" mit ihr, verdrängt mit der „Ord-
nung". Die Fülle, entschöpft dem Meere der Bilder,
die unentmischbare Starrheit der Gegenstände, gibt
uns für das Geborene leblose Dinge, an denen die
Zeit zum zernagenden Zahne und das Geschehen zum
Maelstrom der Zerstörung wird, kurz, er entwirklicht
die Welt und läßt einen Mechanismus zurück, den Be-
tätigungsspielraum des Tatverlangens, der, wie er
zwingt und fordert, auch seinerseits wieder bezwing-
bar ist, dahingegen erlebbar nui als Schranke des
Lebens, für jeden ohne weiteres überzeugende Bei-
spiele böten sich zu Hunderten dar. Die labyrinthische
Verworrenheit eines üppigen Parkes, wo mir auf
Schritt und Tritt neue Wunder erblühen schienen, ist
schon auf dem Wege der Entzauberung, sobald ich
entdecken mußte, daß alle querenden Pfade radial
auf denselben Mittelpunkt laufen. Kaum daß ich be-
gann, mich zu „orientieren", so will mir bereits das
Geheimnis entgleiten, welches der Herznerv der lö-
senden Macht des Bildes war! Der schreckhaft lok-
kende Brunnen, der das Kind mit dem Auge der Un-
etgründlichkeit anblickt, hat plötzlich ein Alltags-
gesicht, das fürder keine ahnenden Schauer weckt,
An alle Lesemitglieder von
„KUNST UND JUGEND"
Das Abonnement für 1930 belrägl 16 RM. Ich bille
um Überweisung auf mein Postscheckkonto: Erfurt
20025, akad. Zeichenlehrer M. Stöckel, Weifjenfels.
An die Herren Kollegen in
Österreich
und der Tschechoslowakei I
Der Beitrag für 1930 befragt RM. 8.—■
Die österreichischen Kollegen bille ich durch den
Wiener Bankverein, Wien, Schollengasse 6 und
die Kollegen in der Tschechoslowakei durch die
Kollegen in der Tschechoslowakei durch die Böh-
mische Industriebank Prag einzahlen zu wollen.
Jede Einzahlung ist mit folgendem Vermerk zu
versehen: Für Rechnung der Kommerz- und Privaf-
Bank Berlin zu Gunsten der Filiale Weifjenfels-
Saale für Rechnung des Reichsverbands akad. geb.
Zeichenlehrer. M A RTI N STÖ C K E L
33
Von der Seligkeit des Schauens.
Jedermann kennt den eigentümlichen Erhabenheits-
schauer, den ein Blick in die klare Sternennacht des
winterlichen Himmels gewährt. Hat er nun aber gründ-
lich gelernt, die Sterne gruppenweise nach überliefer-
ten Figuren zusammenzufassen, hier den Aldebaran,
dort die Krone, den Wagen, die Leier, die Schlange,
Orion, Kassiopeia zu sehen, so ist auch im Maße sei-
ner Bekanntschaft mit ihm sein nächtliches Weltall
ärmer, näher und flacher gewordenl Zwar hat er an-
deres dafür eingetauscht. Nachdem wir nun einmal
fragende Wesen wurden, Wesen voller Neubegierde
und mit dem unbezwinglichen Hange zum Deuten,
Bestimmen und Rätsellösen, so befriedigt und sättigt
unseren Erkenntniswillen und weitet unser Besitz-
gefühl jeder Augenblick des Findens, und so lockt
und reizt hin und wieder zu immer neuen Entdecker-
fahrten jede Grenze unseres Begriffenhabens. Dieses
aber ist das widersprüchliche Schicksal alles Besitz-
ergreifens oder vielmehr der Tat überhaupt, daß die
Vollbringung steigert, indes das Vollbrachte in Fesseln
schlägtl Und was wir uns selber durch die Findung
bereichert wähnen, weil wir im Finden die Lust des
Obsiegens über ein Hindernis des Bewußtseins kosten,
um eben dasselbe beraubten wir die Wirklichkeit
und verengten wir die Unendlichkeit des Erlebens,
dem jeder neue Fund ein neues Gesetz vorschreibt,
eine neue Schranke zieht, ein neues unwiderrufliches
Soll eingeübt! Die Lust des Eroberns ist eine Lust am
Ich, um den Preis einer gleichgewogenen Verarmung
dieser feil: jede Befriedigung des „Willens zur Macht"
wird gebüßt mit einem Verlust am Vermögen zur Se-
ligkeit! Dem sophokleischen Preislied antwortet mit
drohender Eindringlichkeit der Klageruf Hyperions:
„Ich . . . habe gründlich mich unterscheiden gelernt
von dem, was mich umgibt, bin nun vereinzelt in der
schönen Welt, bin so ausgeworfen aus dem Garten,
der Natur, wo ich wuchs und blühte, und vertrockne
an der Mittagsonne. Ein Gott ist der Mensch, wenn er
träumt, ein Bettler wenn er nachdenkt."
nachdem jener zum erstenmal mit dem Lol seine Tiefe
maß. Die Wolken hören auf, stürmende Dämonenscha-
ren zu sein, wenn ich bekannt geworden mit dem
Gesetz der Ausscheidung des Wasserdampfes, der
tot. wie er ist, dem wiederum regelhaftschwankenden
Luftdruck folgt.
+ + +
Inzwischen, da auch vom „Gebildeten" wenigstens
der scharfe Gebirgsgrat seiner Künste und Dichtun-
gen zum mythischen Bewußtsein hinüberführt, sei uns
ein letztes Beispiel aus diesem Bereich verstattet.
Man wage es, den Farbeneinklang des reichsten Ge-
mäldes, die Schönheitslinie der lebendigsten Statue,
das Baugefüge des raumbezwingendsten Domes, den
musikalischen „Gedanken", die wogendsten Sympho-
nien, das rhythmische „Gesetz" der entrückendsten
Dichtung zu studieren, und man wird alsbald ihr
Geheimnis entwichen und sich selbst um den inner-
sten Zauber betrogen sehen, mit dem das Werk den
verstandlos Liebenden umspannt und gefangen
hielt. Einem Zeitalter zum Trotz, dessen oberster Gei-
stesdünkel ein unfruchtbares Kennertum und eine blut-
lose „Ästhetik" ist und dessen Künstler größtenteils
nunmehr ausübende Kenner sind, sei es gesagt, daß
der Kenner sich zum Begeisterten verhält wie der
Schneidermeister der Braut zum Bräutigam!
Goethe, der aus einem großen Dichter fast ein
großer Kenner, überdies aber ein wirklicher Weiser
wurde, und darum aus Eigenerfahrung Bescheid weiß,
hat es irgendwo (dem Sinne nach) ausgesprochen,
man müsse sich hüten, kennermäßig in eine Materie
eindringen zu wollen, für die man mit dem Herzen
empfänglich sei, gerade die „Wissenschaft" beraube
uns der Vertrautheit mit ihrem Gegenstände, weil sie,
so dürfen wir hinzufügen, sein Bild zerfasert und uns
am Ende nichts als eine Handvoll Tatsachen über-
läßt. Wie mancher erlahmte nicht auf halbem Wege
zur Meisterschaft, weil er stecken blieb in „Problemen
der Technik"; und welcher jugendliche Schwärmer für
Blumen, Tiere oder Sterne hätte nicht längst die Bil-
der seiner Liebe verloren, nachdem ihn sein irrender
+ + +
Der kennzeichnende Zug des bewußtlos Beglük-
kenden ist alterlose Ursprünglichkeit, ewige Quell-
natur, Ferne, mit der wir verschmelzen, ohne ihr anzu-
nahen, Vertrautheit, die dennoch Fremdheit bleibt,
ungeteilte und unaufleilbaro Fülle, Der Verstand aboi
mißt und zahlt, biingl feinstes inublaslbarc und gleich-
wohl gesonderte Nähe, entschleiert die Fremdheit und
macht uns „bekannt" mit ihr, verdrängt mit der „Ord-
nung". Die Fülle, entschöpft dem Meere der Bilder,
die unentmischbare Starrheit der Gegenstände, gibt
uns für das Geborene leblose Dinge, an denen die
Zeit zum zernagenden Zahne und das Geschehen zum
Maelstrom der Zerstörung wird, kurz, er entwirklicht
die Welt und läßt einen Mechanismus zurück, den Be-
tätigungsspielraum des Tatverlangens, der, wie er
zwingt und fordert, auch seinerseits wieder bezwing-
bar ist, dahingegen erlebbar nui als Schranke des
Lebens, für jeden ohne weiteres überzeugende Bei-
spiele böten sich zu Hunderten dar. Die labyrinthische
Verworrenheit eines üppigen Parkes, wo mir auf
Schritt und Tritt neue Wunder erblühen schienen, ist
schon auf dem Wege der Entzauberung, sobald ich
entdecken mußte, daß alle querenden Pfade radial
auf denselben Mittelpunkt laufen. Kaum daß ich be-
gann, mich zu „orientieren", so will mir bereits das
Geheimnis entgleiten, welches der Herznerv der lö-
senden Macht des Bildes war! Der schreckhaft lok-
kende Brunnen, der das Kind mit dem Auge der Un-
etgründlichkeit anblickt, hat plötzlich ein Alltags-
gesicht, das fürder keine ahnenden Schauer weckt,
An alle Lesemitglieder von
„KUNST UND JUGEND"
Das Abonnement für 1930 belrägl 16 RM. Ich bille
um Überweisung auf mein Postscheckkonto: Erfurt
20025, akad. Zeichenlehrer M. Stöckel, Weifjenfels.
An die Herren Kollegen in
Österreich
und der Tschechoslowakei I
Der Beitrag für 1930 befragt RM. 8.—■
Die österreichischen Kollegen bille ich durch den
Wiener Bankverein, Wien, Schollengasse 6 und
die Kollegen in der Tschechoslowakei durch die
Kollegen in der Tschechoslowakei durch die Böh-
mische Industriebank Prag einzahlen zu wollen.
Jede Einzahlung ist mit folgendem Vermerk zu
versehen: Für Rechnung der Kommerz- und Privaf-
Bank Berlin zu Gunsten der Filiale Weifjenfels-
Saale für Rechnung des Reichsverbands akad. geb.
Zeichenlehrer. M A RTI N STÖ C K E L
33