Kunst und Jugend
Deutsche Blätter für Zeichen- Kunst- und Werkunterricht
Zeitschrift des Reichsverbandes akademisch gebildeter Zeichenlehrer und Zeichenlehrerinnen
Verantwortlich für die Schriftleitung: Prof. Gustav Kolb, Stuttgart, Ameisenbergstr. 65
Druck, Expedition und Verlag: Eugen Hardt G. m. b. H. Stuttgart, Langestralje 18
Für Besprechungsexemplare, Niederschriften oder andere Einsendungen irgendwelcher Art wird eine Verantwortlichkeit nur
dann übernommen, wenn sie erbeten worden sind <■ Schreibt sachlich klar und einfach l Meidet alle entbehrlichen Fremdwörter
11. Jahrgang April 1931 Heft 4
WILHELM VOSS-KIEL:
BILDMÄSSIGES ZEICHNEN BLINDER KINDER
Weite Kreise bringen den bildmäßigen Zeichnun-
gen blinder Kinder naturgemäß ein rein mensch-
liches Interesse entgegen. Der Kunsterzieher tritt dar-
über hinaus mit einer gewissen Erwartung an sie her-
an; gestatten sie doch unter Umständen wesentliche
Rückschlüsse auf das bildhafte Gestalten sehender
Kinder. Trotz der wertvollen und tiefen Einsichten, die
die jüngste Zeit gebracht hat, herrscht doch in grund-
sätzlichen Fragen eine letzte Unsicherheit. Mit einer
gewissen Ausschließlichkeit hat man beispielsweise
den Begriff der „Gesichtssinneserlebnisse" in den
Vordergrund gestellt, ohne den Anteil des Tastsinnes
am Aufbau der kindlichen „Bildsprache" grundsätzlich
in Erwägung gezogen zu haben. In der älteren ein-
schlägigen. Literatur ist davon nur gelegentlich die
Rede; erst in neuerer Zeit wird er von Forschern aus
verschiedenen Lagern, so von Heinrich Schäfer für
die ägyptische Flachkunst, von Gustav Kolb für die
Kinderzeichnung, von Paul Metz von der Jaenschen
Schule u. a. stark in den Vordergrund gerückt. Durch
den von mir durchgeführten Versuch, blinde Kinder
bildmäßig zeichnen zu lassen, wird die Frage erneut
gestellt und noch einmal zu überprüfen sein.
An dem Versuch, der sich jetzt über reichlich vier
Jahre erstreckt, waren die acht Kinder meiner Klasse
beleiligt. Zu Beginn desselben waren sie 9 bis 12
Jahre alt;
3 von ihnen sind Geburtsblinde ohne Sehrest, bzw.
ist er so gering, daß Gegenstände nicht bemerkt
werden.
2 Kinder sind völlig erblindet, und zwar im 6. und
9. Lebensjahr.
3 könnte man als Halbblinde bezeichnen; sie sind
von Geburt an blind, verfügen aber über einen
verhältnismäßig sehr guten Sehrest.
Das Zeichenverfahren ist äußerst einfach. Auf ein
Zeichenkissen, einem mit feinem Holzmehl gefüllten
und mit Tuch überspannten flachen Kasten, legen die
Kinder einen Zeichenbogen. Stecknadeln, die bis zum
Kopf eingeführt werden können, bezeichnen die nö-
ligen Hilfspunkte. Mit einem Stift werden freihändig
oder unter Benutzung eines Messingslineals Punkt-
foihen in den Bogen eingedrückt. Auf seiner Unter-
solle entstehen saubere, für den tastenden Finger
äußerst charakteristische Linien. Die durchschnittliche
Leistung der einzelnen Kinder beträgt etwa 16 bis
33 cm in der Minute. Frei von allen lehrplanmäßigen
Bindungen haben die Kinder die Jahre hindurch rein
vorstellungsmäßig mit großer Hingabe und Liebe ge-
zeichnet. So entstanden Menschen, Tiere, Bäume, Häu-
ser, schmucklose, einfache Bilder zu Märchen, Ge-
schichten, Gedichten und den Begebenheiten des
täglichen Lebens. Die Aufgaben wuchsen in der Regel
zwanglos aus der Gesamtarbeit heraus, wurden ihnen
aber auch oft von mir aus bestimmten psycholo-
gischen Erwägungen heraus gestellt. Das Interesse
wendet sich naturgemäß in erster Linie den Leistungen
der drei Geburtsblinden zu; aber auch die der übri-
gen Gruppen sind aufschlußreich und bieten zudem
die Möglichkeit, aus ihnen mit einiger Sicherheit die
Einwirkung des Zeichenverfahrens festzustellen.
Wer zum ersten Mal die reichlich 3000 Bilder der
Kinder vor sich hat, wird über die vielen Seltsam-
keiten erstaunt sein; nicht immei wird es ihm möglich
sein, ihre an sich so einfache und klare Bildsprache
zu entziffern. Oft wird er zu den Zeichnungen der
Halbblinden und Erblindeten greifen, um von ihnen
aus die Bilder der Blindgeborenen zu enträtseln. Ihr
Gestalten hat andere Voraussetzungen und ist an an-
dere Bedingungen gebunden. In den weiteren Aus-
führungen werde ich einige unser Problem beson-
ders berührende Tatsachen ihres Wahrnehmungs- und
Vorstellungslebens behandeln und daran anschließend
ganz kurz auf die Besonderheiten ihrer bildmäßigen
Zeichnungen selbst eingehen.
I.
Der Blindgeborene lebt in einer Welt ohne Licht
und Farbe. Einschneidender ist aber der Umstand, daß
er die Dinge und Gegenstände der äußeren Erfahrung
erst hat, wenn er sie unmittelbar berührt; sie sind ihm
nicht wie dem Sehenden „abstandartig" gegeben. c’
muß sie dabei in ihren Einzelheiten abtasten, die Hana
also in Bewegung setzen. Tasten und Bewegung sind
unaufhebbar im Tastakt aneinandergekoppeit. Wenn
die Bewegung aufhört, versinkt die Wirklichkeit für
ihn, selbst bei unmittelbarer Berührung in ein sche-
menhaftes Nichts. Hieraus und aus anderen Tatsachen
haben Psychologen wie Plattner, Hagen, Goldstein
und Gelb, Katz und Wittmann den Schluß gezogen,
daß dem Blinden grundsätzlich jedes Raumerlebnis
abzusprechen sei. Beim Abtasten eines Gegenstandes
habe er nur einen Wechsel der verschiedensten Ein-
101
Deutsche Blätter für Zeichen- Kunst- und Werkunterricht
Zeitschrift des Reichsverbandes akademisch gebildeter Zeichenlehrer und Zeichenlehrerinnen
Verantwortlich für die Schriftleitung: Prof. Gustav Kolb, Stuttgart, Ameisenbergstr. 65
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Für Besprechungsexemplare, Niederschriften oder andere Einsendungen irgendwelcher Art wird eine Verantwortlichkeit nur
dann übernommen, wenn sie erbeten worden sind <■ Schreibt sachlich klar und einfach l Meidet alle entbehrlichen Fremdwörter
11. Jahrgang April 1931 Heft 4
WILHELM VOSS-KIEL:
BILDMÄSSIGES ZEICHNEN BLINDER KINDER
Weite Kreise bringen den bildmäßigen Zeichnun-
gen blinder Kinder naturgemäß ein rein mensch-
liches Interesse entgegen. Der Kunsterzieher tritt dar-
über hinaus mit einer gewissen Erwartung an sie her-
an; gestatten sie doch unter Umständen wesentliche
Rückschlüsse auf das bildhafte Gestalten sehender
Kinder. Trotz der wertvollen und tiefen Einsichten, die
die jüngste Zeit gebracht hat, herrscht doch in grund-
sätzlichen Fragen eine letzte Unsicherheit. Mit einer
gewissen Ausschließlichkeit hat man beispielsweise
den Begriff der „Gesichtssinneserlebnisse" in den
Vordergrund gestellt, ohne den Anteil des Tastsinnes
am Aufbau der kindlichen „Bildsprache" grundsätzlich
in Erwägung gezogen zu haben. In der älteren ein-
schlägigen. Literatur ist davon nur gelegentlich die
Rede; erst in neuerer Zeit wird er von Forschern aus
verschiedenen Lagern, so von Heinrich Schäfer für
die ägyptische Flachkunst, von Gustav Kolb für die
Kinderzeichnung, von Paul Metz von der Jaenschen
Schule u. a. stark in den Vordergrund gerückt. Durch
den von mir durchgeführten Versuch, blinde Kinder
bildmäßig zeichnen zu lassen, wird die Frage erneut
gestellt und noch einmal zu überprüfen sein.
An dem Versuch, der sich jetzt über reichlich vier
Jahre erstreckt, waren die acht Kinder meiner Klasse
beleiligt. Zu Beginn desselben waren sie 9 bis 12
Jahre alt;
3 von ihnen sind Geburtsblinde ohne Sehrest, bzw.
ist er so gering, daß Gegenstände nicht bemerkt
werden.
2 Kinder sind völlig erblindet, und zwar im 6. und
9. Lebensjahr.
3 könnte man als Halbblinde bezeichnen; sie sind
von Geburt an blind, verfügen aber über einen
verhältnismäßig sehr guten Sehrest.
Das Zeichenverfahren ist äußerst einfach. Auf ein
Zeichenkissen, einem mit feinem Holzmehl gefüllten
und mit Tuch überspannten flachen Kasten, legen die
Kinder einen Zeichenbogen. Stecknadeln, die bis zum
Kopf eingeführt werden können, bezeichnen die nö-
ligen Hilfspunkte. Mit einem Stift werden freihändig
oder unter Benutzung eines Messingslineals Punkt-
foihen in den Bogen eingedrückt. Auf seiner Unter-
solle entstehen saubere, für den tastenden Finger
äußerst charakteristische Linien. Die durchschnittliche
Leistung der einzelnen Kinder beträgt etwa 16 bis
33 cm in der Minute. Frei von allen lehrplanmäßigen
Bindungen haben die Kinder die Jahre hindurch rein
vorstellungsmäßig mit großer Hingabe und Liebe ge-
zeichnet. So entstanden Menschen, Tiere, Bäume, Häu-
ser, schmucklose, einfache Bilder zu Märchen, Ge-
schichten, Gedichten und den Begebenheiten des
täglichen Lebens. Die Aufgaben wuchsen in der Regel
zwanglos aus der Gesamtarbeit heraus, wurden ihnen
aber auch oft von mir aus bestimmten psycholo-
gischen Erwägungen heraus gestellt. Das Interesse
wendet sich naturgemäß in erster Linie den Leistungen
der drei Geburtsblinden zu; aber auch die der übri-
gen Gruppen sind aufschlußreich und bieten zudem
die Möglichkeit, aus ihnen mit einiger Sicherheit die
Einwirkung des Zeichenverfahrens festzustellen.
Wer zum ersten Mal die reichlich 3000 Bilder der
Kinder vor sich hat, wird über die vielen Seltsam-
keiten erstaunt sein; nicht immei wird es ihm möglich
sein, ihre an sich so einfache und klare Bildsprache
zu entziffern. Oft wird er zu den Zeichnungen der
Halbblinden und Erblindeten greifen, um von ihnen
aus die Bilder der Blindgeborenen zu enträtseln. Ihr
Gestalten hat andere Voraussetzungen und ist an an-
dere Bedingungen gebunden. In den weiteren Aus-
führungen werde ich einige unser Problem beson-
ders berührende Tatsachen ihres Wahrnehmungs- und
Vorstellungslebens behandeln und daran anschließend
ganz kurz auf die Besonderheiten ihrer bildmäßigen
Zeichnungen selbst eingehen.
I.
Der Blindgeborene lebt in einer Welt ohne Licht
und Farbe. Einschneidender ist aber der Umstand, daß
er die Dinge und Gegenstände der äußeren Erfahrung
erst hat, wenn er sie unmittelbar berührt; sie sind ihm
nicht wie dem Sehenden „abstandartig" gegeben. c’
muß sie dabei in ihren Einzelheiten abtasten, die Hana
also in Bewegung setzen. Tasten und Bewegung sind
unaufhebbar im Tastakt aneinandergekoppeit. Wenn
die Bewegung aufhört, versinkt die Wirklichkeit für
ihn, selbst bei unmittelbarer Berührung in ein sche-
menhaftes Nichts. Hieraus und aus anderen Tatsachen
haben Psychologen wie Plattner, Hagen, Goldstein
und Gelb, Katz und Wittmann den Schluß gezogen,
daß dem Blinden grundsätzlich jedes Raumerlebnis
abzusprechen sei. Beim Abtasten eines Gegenstandes
habe er nur einen Wechsel der verschiedensten Ein-
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