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Bund Deutscher Kunsterzieher [Editor]
Kunst und Jugend — N.F. 11.1931

DOI issue:
Heft 4 (April 1931)
DOI article:
Voß, Wilhelm: Bildmässiges Zeichnen blinder Kinder
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.28010#0107

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drücke, wie Gelenk-, Muskel-, Spannungs-, Tast-, Wider-
stands-, Wärme- und Kälteempfindungen; aber ein
spezifisch räumliches Erlebnis sei nicht damit verbun-
den. Der Blinde erlebe diese Einzelempfindungen
wohl als eine in sich geordnete Einheit; aber die Be-
zeichnung „Körper" in unserem Sinne sei durchaus
irreführend, weil eben jede räumliche Bestimmtheit
fehle. Derartige Ansichten müssen als unwissenschaft-
lich und abwegig zurückgewiesen werden. Der Blind-
geborene selber steht ihnen verständnislos gegen-
über. Von diesen Forschern ist übersehen worden,
daß das seelische Erleben grundverschieden ist, je
nachdem die Tasteindrücke auf den eigenen Körper
oder auf den Gegenstand selbst bezogen werden.
Im ersteren Falle löst es sich in eine ungeordnete,
zusammenhangslose Vielheit aller möglichen Empfin-
dungen auf; im anderen Falle dagegen ist der Gegen-
stand selbst als eine von den Modifikationen des Ichs
unabhängige und unvermittelte, in sich ruhende Wirk-
lichkeit gegeben. In keinem anderen seelischen Tat-
bestand tritt dieser Gegensatz von „innen" und
„außen" greifbarer in die Erscheinung als hier. Die
jeweilige Einstellung ist entscheidend, ob der gleiche
Tastvorgang als eine auseinanderfallende, ichbezo-
gene Vielheit oder als eine vom Ich unabhängige
seiende Einheit erlebt wird. Das Gegenstandserlebnis
läßt sich auch nicht, wie jene Psychologen es tun,
aus den Empfindungen aufbauen. Sie stehen nicht im
Verhältnis von Ursache und Wirkung oder der Teile
zum Ganzen zueinander. Es läßt sich lediglich fest-
stellen, daß sie die in irgend einer, aber nicht näher
erkennbaren Hinsicht einander entsprechenden Seiten
eines einheitlichen Prozesses sind. Von den Empfin-
dungen aus läßt sich aber nichts Entscheidendes über
das Raumerlebnis selbst ausmachen.
Eine zweite Eigentümlichkeit liegt in dem anders-
artigen zeitlichen Aufbau seiner Wahrnehmungen be-
gründet. Beim Abtasten eines Gegenstandes, etwa
einer Tischplatte, streicht er in einem Nacheinander
der Bewegungen über die Fläche hin und her und
wendet sich dann den Begrenzungslinien im beson-
deren zu. Auf diese Weise lernt er sie ihrer Ober-
flächenbeschaffenheit und ihrer Form nach kennen.
Dabei befindet er sich in einer dem Sehenden ganz
ungewöhnlichen Wahrnehmungssituation. Nur die Stelle,
die er berührt, ist ihm sinnlich-anschaulich gegeben;
denn die bereits getastete Strecke ist nicht mehr, und
die vor ihm liegende hat er noch nicht. Es ist das
große Geheimnis, wie sich im Wahrnehmungsakt des
Blindgeborenen Vergangenes, Gegenwärtiges und
Kommendes in einer von ihm vorweggenommenen, von
ihm bereits gesetzten inneren Gestalt widerspruchslos
zusammenfindet. Wahrnehmungsmäßige und rein vor-
stellungsmäßige Inhalte sind bei ihm also in ganz an-
derer Weise am Aufbau der Gestalt beteiligt als beim
Sehenden. Selbstverständlich lösen die Tastbewegun-
gen, also Wahrnehmungsvorgänge, das Gestalterleb-
nis unmittelbar aus. Die Gestalt selbst aber wird von
ihm nach ihrer allgemeinen Struktur vor aller Erfah-
rung, nach ihrer Besonderheit durch die Erfahrung in-
nerlich, rein vorstellungsmäßig gesetzt. Wichtig für
ihn sind dann noch die räumlichen und zeitlichen Ord-
nungszusammenhänge, in die er hineingestellt ist. Der
Blindgeborene befindet sich beim Tasten an einem
ganz bestimmten Ort zu einer ganz bestimmten Zeit;
Eindiücke anderer Sinne unterstützen ihn, so daß er
in vielen Fällen den zu betastenden Gegenstand vor-
stellungsmäßig vorwegnehmen kann.
Der Übergang von der eigentlichen Wahrnehmung
zur reinen Vorstellung vollzieht sich beim Blindgebo-
renen in vielen Fällen fast unmerklich. Er löst die ta-
stenden Hände von dem Gegenstände und ist dann
in der Vorstellung mit ihm allein. Wie er ihn aber hat,
und was er eigentlich hat, wird niemals zu sagen sein.
Innere Gestalterlebnisse lassen sich nicht in ein Be-

griffsschema einzwängen, und es ist nicht so wesent-
lich, ob man von inneren Gestalterlebnissen oder von
Vorstellungen, Phantasmen,' inneren Bildern usw.
spricht. Nur das läßt sich sagen, daß der Blindgebo-
rene die Gesamtvorstellung eines Gegenstandes in
den Einzelheiten und als Ganzes niemals in einem
Zeitpunkte, also gleichzeitig haben kann. Sie ruht viel-
mehr in seiner Hand, wie eine Melodie im Ohr. Nur
dann wird sie wieder lebendig, wenn sie innerlich
nachgesungen, innerlich gehört wird. Es ist aber un-
möglich, sie in einem Augenblick in der Vorstellung
als Ganzes zu fassen. Es ist keine Melodie, wenn alle
Töne, aus denen sie aufgebaut ist, gleichzeitig ange-
schlagen werden. Diese Zeitgebundenheit besteht in
ähnlicher Weise auch für das Vorstellungsleben des
Blinden. Er muß sich die Vorstellung in einem Nach-
einander innerlich aufbauen. Selbstverständlich trifft
das nur für den Vorstellungsablauf selbst zu. Der Ge-
genstand an sich hat eine im Wechsel der Zeit ru-
hende Wirklichkeit im Unterschied etwa von einer
Melodie. Auch eine andere Tatsache mag Erwähnung
finden. Beim Nacherleben einer Melodie ist der Ab-
lauf zeitlich gebunden. Sie läßt sich nicht von hinten
nach vorne singen. Bel den Vorstellungen räumlicher
Art fällt diese Einschränkung fort. Das eine ist klar
geworden, daß die Vorstellungen Blinder ganz anders
sind als die des Gesichtssinnes. Der Blinde muß sich
ihnen in aktiverer Welse zuwenden. Sie stellen sich
nicht fertig vor ihn hin, sondern setzen eine nach-
tastende, innerlich nachschaffende, selbsttätige Hin-
gabe voraus.
Schon aus rein zeitlichen Gründen wird der Blinde
einen größeren Gegenstand in der Regel in seinen
Einzelheiten weder abtasten noch sich ihn zusammen-
hängend in allen Einzelheiten vorstellen Er hat niemals
das Ganze in unserem Sinne, sondern nur die einzel-
nen Teile, etwa die Hand einer Person, den Kopf der
Puppe, die Platte eines Tisches usw. Dieses völlige
Fürsichhaben der Teile kennt der Sehende nicht. Er
mag seine Aufmerksamkeit noch so sehr elnengen;
das Ganze ist ihm stets mitgegeben. Für den Aufbau
der Wirklichkeit ist dieser Umstand von weitreichen-
der Bedeutung. Der Blinde hat in der Regel nur die
Teile, die ihm die Ganzheit verbürgen, Aus ihnen baut
er sich den Gegenstand auf. Er ist für ihn vorzugs-
weise eine aus Teilen bestehende, also gegliederte,
organische Einheit. Wesentlich für diese Einstellung
des Blindgeborenen ist das Erlebnis seines eigenen
Körpers, den die tastende Hand als ein Zusammen-
sein von Teilen, das eigene Bewußtsein aber als sinn-
volle Einheit hat. So wie sich selbst begreift er die
Wirklichkeit überhaupt. Die Einstellung auf das Form-
gemäße tritt demgegenüber sehr in den Hintergrund.
Diese Grundeinstellung wirkt sich auch stark in seinen
Zeichnungen aus. Er nimmt die Teile und setzt daraus
das Ganze zusammen. Wegen der großen Tragweite
dieses Tatbestandes bringe ich aus meinen Unter-
suchungen über das Vorstellungsleben Blindgebore-
ner einige Niederschriften, die dieses Sichverlieren
an die Teile und das Alleinsein mit ihnen deutlich er-
kennen lassen:
H. P.: „Wenn von einem Hunde gesprochen wird,
sind meistens die Ohren deutlich in meiner Hand.
Alles andere ist nicht da. Es ist dann so, daß ich nur
die Ohren in der Hand habe und damit Weggehen
könnte. Es ist weiter nichts an den Ohren dran."
H. P.: „Wenn ich eine Kuh auf einer Weide laufen
höre, habe ich ihre vier Beine in meiner Hand. Sie
liegen dann alle nebeneinander. Die Beine haben an
der Hacke eine Kuppe aus Horn. Die Füße liegen an
der Spitze der Finger. Nur der Daumen bleibt frei."
W. B.: „Wenn ich an mein Elternhaus denke, habe
ich in jeder Hand einen Eckstein, und zwar den einen
von der rechten und den anderen von der linken Seite
des Hauses. Die beiden Steine haben ihre natürliche

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