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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 11.1931

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Heft 10 (Oktober 1931)
DOI Artikel:
Leberecht, Franz: Der Ausdrucks- und Stimmungsgehalt der Schrift
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https://doi.org/10.11588/diglit.28010#0268

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FRANZ LEBERECHT, BERLIN-PANKOW:
DER AUSDRUCKS- UND STIMMUNGSGEHALT DER SCHRIFT

Wenn wir Geschäftsdrucksachen und Zeitschriften
durchblättern, von Plakaten und Warenanprei-
sungen zum Aufmerken veranlaßt werden, Denkmals-
und Hausinschriften auf uns wirken lassen, so sind
wir überrascht von der Verschiedenheit der Eindrücke,
die diese Schriften auf uns ausüben, ehe wir noch
von dem Inhalte Kenntnis genommen haben. Das un-
befangene Auge schreibt diese Eindrücke den ver-
schiedenen Formen zu und beurteilt sie nach der
dekorativen Wirkung auf der Schriftfläche. Natürlich
wirkt eine kräftige Schrift anders als eine zarte, eine
reiche anders als eine einfache, eine große anders
als eine kleine. Auch innerhalb jeder Schriftart be-
stehen Verschiedenheiten: gerade und runde Formen
wechseln ab; jeder Buchstabe hat eine andere Form
als seine Nachbarn. Daneben aber besteht die Tat-
sache, daß jede Schriftart in sich eine geschlossene
Wirkung ausübt. Diese Einheitlichkeit, die sich gegen
die Vielseitigkeit behauptet, kann also nicht allein
durch die äußere Form herbeigeführt worden sein.
Wir finden hier ein Goethesches Wort bestätigt, daß
die Form den Menschen ein Geheimnis bleibe. Es
müssen also noch andere Einflüsse am Werke gewe-
sen sein, die jeder Schrift eine ihr eigentümliche
Gesamterscheinung gegeben haben. Wir kommen
diesem Rätsel auf die Spur, wenn wir uns vergegen-
wärtigen, daß die maßgebenden Formen der Schrif-
ten nicht erst heute geschaffen, sondern uns historisch
überliefert worden sind; sie haben besondere typische
Qualitäten, Art- und Zeiteigenschaften, in die Ge-
genwart mitgebracht. Wie jede Einzelpersönlichkeit
einen unverfälschten Ausdruck in ihrer Handschrift
findet, so muß auch das Kollektiv-Individuum, das
Volk eines bestimmten Zeitalters, seine besondere
Wesensart in der jeweiligen Schrift offenbaren, ganz
gleich, ob es sich um die Monumentalschrift der Grie-
chen oder um die Round Hand der Engländer handelt.
Die geistigen Strömungen in einem Volke, der Zeit-
geschmack, der Kunstsinn, aber auch Werkstoff und
Werkzeug haben an dem Zustandekommen jeder
Schrift mitgewirkt und ihr jenen Wesenszug verliehen,
der in unsere Gegenwart hineinstrahlt, und den wir
uns aus der optisch wirkenden Form allein nicht er-
klären können.
Es hat noch nie eine Zeit gegeben, in der die
Schriften der Vergangenheit so nachhaltig auf eine
Generation eingewirkt haben, wie die gegen-
wärtige. Sie hat die großen Werte erkannt, die in
diesen Schriften liegen, und sie nicht nur von dem
Standpunkte der Wissenschaft, sondern auch von dem
der Kunst ausgenutzt. Schriftkünstler und Kunstlehrer
von heute müssen sich mit den Schriften der Vergan-
genheit auseinandersetzen. Sie werden sich nicht
damit begnügen, sie nur nachzuahmen, sondern sie
zu Schriften von Gegenwartswert weiter bilden; aber
sie werden dazu erst imstande sein, wenn sie den
seelischen Gehalt der Tradition ausgeschöpft haben.
Wir stehen bewundernd vor den griechischen Mo-
numentalschriften, deren künstlerisches Ebenmaß noch
von keiner anderen Schrift übertroffen worden ist.
Die Römer brauchten nur diese Buchstaben ihrer
Sprache anzupassen, ohne genötigt zu sein, aus eige-
nem Können Künstlerisches hinzuzufügen. Beiden Völ-
kern erschien diese Schrift zur letzten Vollendung
eines Architekturwerkes unerläßlich. Der Brauch ihrer
Anwendung auf Denkmäler und Gedächtnistafeln zur
Erinnerung an verdienstvolle Männer und ihre Taten,
aber auch an geliebte und verehrte Hingeschiedene
ist bis zur Gegenwart beibehalten worden. Nur leise
hat sich die antike Form durch die Zeiten abgewan-

delt; aber ihr ehrfurchtgebietender Eindruck ist ge-
blieben, gleichviel, ob unsere Schriftkünstler sie als
sinnvolle Kundgebung oder als letzte künstlerische
Notwendigkeit wirken lassen wollen.
Es konnte nicht ausbleiben, daß eine spätere Zeit,
in der Kunst und Wissenschaft zu neuem Leben er-
wachten, sich für die römische Kapitalschrift begei-
sterte. Die Renaissancemenschen, die sich der Antike
wieder zuwandten und ihre Werke bewundernd und
doch kritisch ihrer Zeit einordneten, suchten in aner-
kannten Gesetzen der Form den Schlüssel zu ihrer
Schönheit zu entdecken. Für die römische Schrift
fanden ihn Leonardo, Pacioli und ihte Anhänger in
der Divina proportione, dem goldenen Schnitt, und
stellten damit ihre Form einheitlich und endgültig fest.
Die für schnelles Lesen und Schreiben notwendigen
Kleinbuchstaben übernahm man aus den karolin-
gischen Handschriften des frühen Mittelalters. Man
glaubte damit die Schrift der alten Römer wieder-
gefunden zu haben und nannte sie Littera antiqua
horum ternporum. Es ist unsere Antiqua. Nicolaus
Jenson, als Buchdrucker von 1470 bis 1476 in Venedig
wirkend, gab ihr die klassische typographische Form,
in der sie, durch zahlreiche Nachschnitte nur wenig
verändert, dem Buchdruck bis zur Gegenwart diente.
Eine wissenschaftliche Literatur hat ihre Form ver-
geistigt, die schöne Literatur der außerdeutschen
Länder sie (nach dem Urteil Colonnas) zu einer „ex-
quisiten" Schrift erhoben. Wie überzeugend die Anti-
qua auch religiösen Stoffen zu einem würdigen
Ausdruck verhelfen kann, beweist die Doves-Bibel
von Cobden-Sanderson, der seine Antiqua als
ideale Nachbildung der Jensontype entworfen und
von allen Mängeln der früheren Technik befreit hatte,
und der sie einer späteren trivialen Anwendung da-
durch entzog, daß er seine herrlichen Typen von der
Hammersmith-Brücke in die Themse warf.
Wie stehen unsere deutschen Schriftkünstler zur
Antiqua? Als im Jahre 1900 der Franzose Eugene Gras-
set eine neue Antiqua entworfen hatte, äußerte sich
der Harlemer Schriftgießer Enschede dazu: „Die Anti-
qua ist romanischen Ursprungs und in Frankreich ent-
wickelt; sie steht dem germanischen Geist zu fern,
als daß es deutschen Künstlern jemals gelingen
könnte, ihr neue, lebenskräftige Formen zu geben;
nur ein Franzose kann diese Antiqua zu weiterer Ent-
wicklung bringen." Die deutschen Schriftkünstler ha-
ben durch ihre Schriftschöpfungen diese vorschnelle
Kritik Lügen gestraft. Sie haben eine Fülle von
Antiquaschriften geschaffen, in denen die ursprüng-
liche Wesensart fortwirkt, aber durch persönliche
Züge bereichert wird, die jedoch mehr den formalen
als den Stimmungsgehalt beeinflussen. Die Behrens-
Antiqua versinnbildlicht in ihrem strengen Aufbau den
architektonischen Gegensatz von Stütze und Last. Der
formgebende und formwandelnde Federzug hat Groß-
und Kleinbuchstaben zu einer stilistischen Einheit ver-
schmolzen, die geeignet ist, erkannte Wahrheit nach-
drücklich zu verkünden. Die Ehmcke-Antiqua besitzt
den Formenadel der historischen Renaissanceschrift;
sie paßt sich deutschen Texten an, indem sie den
Eigentümlichkeiten deutscher Rechtschreibung gerecht
wird. Ihr lichtes Schriftbild verleiht der Darstellung
durchsichtige Klarheit. Die „schönfüßige" Tiemann-
Mediäval deutet durch ihren Namen an, daß sie unter
dem Einfluß ältester Typen entstanden ist; dennoch ver-
tritt sie einen neuzeitlichen Schönheitstyp der Schrift,
der das Lesen zu einem künstlerischen Genuß erhebt
und einen wertvollen Inhalt durch äußere Anmut ver-
schönt. Aus der Zahl typographisch bedeutender Anti-

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