Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 11.1931

DOI Heft:
Heft 1 (Januar 1931)
DOI Artikel:
Geissler, Otto: "Waldgeister"
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.28010#0021

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext

genstück ein Erwachsenenurteil. Als ich meine erste
prachtvolle, gewaltig daherschreitende Eidechse im
Kollegium zeigte, meint einer der Herren, auf das linke,
etwas längere Vorderbein zeigend: „Aha, wenn das
Bein jetzt nach vorn kommt, ist es ebenso lang wie
das andere." Worauf also der Erwachsene wartet —
auf das physisch in Erscheinung tretende Leben —
damit er dann höchstens Zirkel und Zentimetermaß,
also den Intellekt, daran erproben kann, das hat das
Kind als Geist- und Seelenlebendiges in restlos wirk-
lichem Besitz. Auch der Erwachsene besaß es oder —
wie manche treffende Bemerkung zeigte — besitzt
es noch. Nur ist es durch seinen Intellekt verdrängt,
versunken und vergessen. Der Besitz ist noch so groß,
daß Frobenius die Zuversicht aussprechen kann:
„Wenn unsere peideumatische Vergangenheit (also
auch das noch Vorhandene) so groß ist, wie wir es
fühlen, so wird sie vielleicht gerade die Wucht besit-
zen, das unter dem verstandesgemäß verfallenden
Bewußtseinsleben hindämmernde Tiefere, sich Seh-
nende, zu Neuem Drängende, dem Tage zuzuführen."
In Wirklichkeit tritt also das Kind nur das Erbe der
Eltern an, und wenn man der alten Wahrheit nachgeht,
daß das Kind die Entwickelung der Menschheit wie-
derholt, so ist die bildhafte Symbolik seiner Sprache
nichts anderes als die Sprache der Sagen und weiter-
hin diejenige der Märchen. Im Dichter und Zeichner
ist sie noch alle Zeiten hindurch lebendig, und selbst
Goethe läßt sie in der Walpurgisnacht seines Faust
erklingen und erglühen:
„In die Traum- und Zaubersphäre . . .
„Und die Klippen, die sich bücken . . .
„Und die Wurzeln wie die Schlangen . . .
„Fels und Bäume, die Gesichter schneiden . . .
Ein weiterer Grund dafür, daß Herstellern wie Be-
trachtern diese Wurzeltiere so sympathisch und an-
regend sind, ist, daß sie ein nordisches Gefühl ver-
mitteln gegenüber einem südlichen, ein romantisches
gegenüber einem klassischen. Das Südlich-Klassische
ist Ruhe, Ordnung, Harmonie in einem wohlgefügten
Bau —das Nordisch-Romantische ist Bewegung, Strom,
Gewalt, ein den Körper, das Gefäß sprengen Wollen-
des. Der Stabträger eines Polyktet ist klarste Formung
in Gliedern, Körperteilen und Bewegung, ein fast zum
Geometrischen Getriebenes, dem nachfühlenden Er-
kennen: erdhaftes Sichgenügen — der Christuskörper
eines Grünewald ist noch nach dem Tode durchhallt
vom ungeheuren erlittenen Schmerz. Das ist ein Strö-
men und Wellenschlägen von den verschwollenen
Füßen durch die Fußgelenke, über die Waden in die
Kniekehlen, über die Schenkel in die ausgehöhlte Hüfte,
von der geblähten Brust ohne Gelenkteilung über ge-
spannte Muskelstränge hinein in die Arme, bis der
Schmerz durch gespreizte Finger — ein wunderbares
Symbol — erlöst und den Betrachter erlösend in das

All verströmt. Dort Skelett, ideales Maß, Geist, Erde
— hier Strombett des Blutes, Fühlen, Seele, All.
So ist es denn kein Geringes, das Ihnen, meine
Damen und Herren, hier gezeigt wird, kein Scherz-
haftes, kaum hier und da ein leiser Humor — sondern
es ist etwas vom Quell deutschen Lebens und Er-
lebens.
Nach 2 Seiten hin konnte sich nun der Schaffens-
drang verwirklichen: nach Naturgegebenem (Schlange,
Eidechse, Pferd, Elch, Maus) und nach Phantasiemäßi-
gem. In keinem Falle war größtmögliche Naturlreue
gewollt.
Alles Künstliche, Gekünstelte war verfemt. Alles
Hinzufügen hatte immer nur einen Sinn: Wie schaffst
Du eine klare und eindringliche Bewegung — wie
treibst Du einen Ausdruck aufs stärkste heraus? Dra-
stik und Dynamik auf der einen, Intensität auf der
anderen Seite war die Losung. Von hier aus war es
nur ein kleiner Schritt, der zur durch irgend eine Hand-
lung gebundenen Gruppe führte. Stimmungs- also
Gefühlsmüßiges und Geistiges fanden sich bei dem
unendlichen Reichtum des Naturgewachsenen bald
zusammen. Hier konnten Kampfszenen, dort Beutejagd
gegeben werden; selbst des Lebens stärkster Faktor:
die Liebe fand humorvolle Symbolik im Waldschratt
und der Wassernixe, in der Jagd zweier leichtfüßiger
Gazellen. Unendlich viel Zartes, Feines an Gestalt und
Gefühlsinhalt stand neben Derbstem, Gröbstem: Spöt-
tisches Aufblicken, suchendes Sichwenden, königliche
Haltung, haltloses Zusammensinken, Enlsetzensschieie,
gieriges Mordgebrüll — kurz die ganze reiche Skala
des Lebens war vor den staunenden Blicken der Be-
trachter aufgerollt. Und die Folie für die Gruppen war
auch nur in den seltensten Fällen das Stück Natur, das
die betreffenden Tiere umgibt. Allgemein sollte sie
in Form von aus Pappe, Papier, Leimwasser und Sand
hergesteiltem Gestein nur eine möglichst abstrakte
Begleitung, eine Unterstreichung, Verdeutlichung des
gemeinten Stimmungsgehaltes oder der Bewegung
sein. Das ist dann auch in starkem Maße gelungen.
Ich konnte mit der Bemerkung schließen, die wahr-
lich nicht boshaft sein sollte, sondern eine gewisse
Fröhlichkeit barg, die der Lust am Leben und Leben-
wecken entsprang, daß wir Zeichner somit wohl auf
der Schulbank (Zensurenliste) zuletzt sitzen, auf der
Bank des Lebens, vielmehr am Quell des Lebens uns
einen Platz recht vornan erobert haben.
Der Eindruck der Ausstellung auf die Besucher war
gewaltig. Freude, unverhohlene Freude kam immer
und immer wieder zum Ausdruck. Eine neue, bisher
unbeachtete Welt erschloß sich allen, eine Welt, deren
Tore man selbst verriegelt und verbaut hatte und die
nun wieder aufsprangen und in manchem treffenden
Wort blinkendes Gold des Herzens eines lebensuchen-
den und lebenfindenden deutschen Herzens zu Tage
förderten.


20
 
Annotationen