echtes Augenmaß, um die Empfindlichkeit für eine
derartige Dehnungsveränderlichkeit, der die mathe-
matische Behandlung immerhin als verwandt zur Seite
steht. Gewebte Streifen einer Struktur, wie es 14
schematisiert — würden den quälenden Beigeschmack
besitzen von Reliefwirkung: Bauchungen bzw. Vor-
dringen von Graten. Könnten nur durch farbige
G e g e n bewegung „in der Fläche" erhalten werden.
18 bis 23 zeigen Verhältnisse bei Schriftformen. 19
ist römische Kapitalschrift, bei der Mitte gehalten
wird. 18 die viel spätere Form, die noch „gestern"
für so selbstverständlich gehalten wurde, daß Schrift-
lehrbücher grundsätzlich damit anfangen konnten, das
Auge verlange beim E den Mittelbalken oberhalb
der Mitte. Es wurde „funktionell erklärt": der Ober-
teil dürfe keinesfalls schwerer wirken; er täte es
wenn der Balken in die Mitte käme. Das E bei 19 fällt
nun keineswegs um, ebensowenig, wie Buchstaben
der verschiedensten Sprachen, die es mit ähnlichen
Teilungen zu tun und ihre eigne Formschönheit haben
wegen der entschiedenen Mittenbetonung.
Nebenbei versagte die obige funktionale Erklärung
schon beim R (18), von wo aus man wieder feststellen
kann, daß der Stilwille stärker ist als „biologische"
Gründe. 20 und 21 bringen Verhältnisse von n-Höhe
zur Ober-Unterlänge, die etwa goldener Schnitt sind.
21a zeigt ein gleichzeitig primitives und barockes
Übermaß der Längen. 22 ist aus dem gestrigen „Nor-
malalfabet" — noch betont barockl 23 die Haltung
der Sütterlinschrift, mit recht auf primitives Gleichmaß
zurückgreifend — wie auch Keil- und Flammenstriche
meidend.
Zurück zum Anfangl — Die Verwirrung in der „Gol-
denen-Schnitt"-Angelegenheit ist aus zwei Gründen
erklärlich. Einmal ist es die „innere Verwurzelung",
der zufolge das bildnerische Problem auch mathe-
matisch spruchreif wurde. Daß die mathematische
Erkenntnis sich zur diktatorischen Maß-Regel aufwer-
fen konnte, war schon Symptom der Ent-wurzelung.
Zum andern aber liegt hier überdeutlich vor, in wel-
cher — unkritischen — Weise die größere „Natürlich-
keit", die a I s Folge der „gewachsenen" Denkfähig-
keit sich ergab (der Anblick ist in der bildenden
Kunst immer das Ergebnis, wie Braque es so schön
formulierte), nun in und an den Naturgegenständen
selber „nachgeprüft" wird. Wirklich ist nichts andres
als die naive Gleichsetzung von Kunstform mit Natur-
bild (die kritische Besinnung sieht tatsächlich so viele
„Naturen" als es Kunst-, d. h. überhaupt -Formen der
Weltanschauung und Erklärung gibtl) der Grund, wes-
halb noch immer Leute bestrebt sind, den goldenen
Schnitt an Naturgegenständen beweisen zu wollen.
Sie beweisen tatsächlich nur ihre bestimmte
Auffassung in die Natur hinein, keineswegs aber aus
der Natur eine Erkenntnis heraus. Die natürliche Viel-
gestaltigkeit ist so reich, daß es immer möglich ist,
darin zu finden, was man grad sucht, d. h. wozu man
„geistig disponiert" ist. 8b (hier quergelegt, bitte
senkrecht lesenl) zeigt das Maß-anlegen, wie es in
Abb. 39 der Carry van Biemaschen Schrift „Farben und
Formen als lebendige Kräfte" voikommt. Was aber
ist damit „bewiesen", wenn derart an dieser Eschen-
zweigspitze eine Proportionsfolge „gemessen" wird?
Leider gar nichts. Man schlage die Abb. (Photo) nach,
um zu sehen, mit welcher Willkür „passende" Punkte
gesucht sind. Man schlage auch die andern Abbn. nach,
um die Willkür des Hineinlegens noch drasti-
scher bestätigt zu finden. Tatsächlich war dieser Auf-
wand gar nicht nötig! Daß Naturgebilde sich auch
einmal wirklich darein fügen, auch wenn man die Maße
vernünftiger auf wirklich „ähnliche" Teilpunkte legt,
bleibe völlig unbestritten. Falsch aber ist es und irre-
führend, wenn gefolgert wird, die Natur beherrsche
der Goldene Schnitt ebenso wie er die „maßvolle"
Kunst kennzeichnete. Und womöglich zu meinen, der
Mensch habe den goldenen Schnitt aus der Natur
destilliert. Gewiß — jedoch aus der weiteren gei-
stigen Natur, die im Menschen zuvor wach sein muß,
damit er seine Erkenntnis z. B. auch auf solche Dinge
anwende. — 8a zeigt aus der gleichen Schrift die —
auch sonst heute beliebte — Schachtelhalmspitze. Dar-
unter steht: „Jede Stufe steht zur nächsten im Gol-
denen Schnitt. Dies Wachstumsgesetz geht durch die
ganze Pflanzenwelt." Den letzten Sproß habe ich be-
reits unterschlagen; er macht nicht mehr mit. Wesent-
licher aber ist dies: Es ist eine durch gar nichts be-
rechtigte Ungenauigkeit, die Tatsache der unbestreit-
baren Ähnlichkeit stetigen Wachsens mit der Progres-
sion geometrischer Reihen (8) dem „Goldenen Schnitt"
allein anzukerben. Der „Goldene Schnitt" meint ein
ganz bestimmtes Maß des Schwellens (siehe
Anfang). Wenn dieser Begriff überhaupt reinlich als
Grenzfall (vom eigentlichen Sinn war schon genugsam
die Rede) gesehen wird, dann wird es unstatthaft,
den Namen auf alles zu übertragen, was an geome-
trische Reihung erinnert. Denn es gibt viele andre
solcher Reihen, die auch „reizvoll" sind, aber nur
eine, die sich den Namen Goldene-Schnitt-
Proportionen historisch verdient hat. Als in der Natur
anklingend lassen sich viele solcher Reihen „be-
weisen". Es könnte also nur heißen: „Das Wachstum
der Natur zeigt — unter anderm — Ähnlichkeiten mit
„geometrischen Progressionen"; teilweise lassen sich
derartige Zähl-maße ablesen. In gewissen Fällen tritt
uns aber auch das Maß des Goldenen Schnittes ent-
gegen". Mehr kann man bei einiger Verantwortung
nicht sagen! — Der Beweis — auf den die mei-
sten Maß-Regler aus sind —, daß nur solche Grenz-
werte als „schön" oder als besonders „schön" em-
pfunden würden, läßt sich nicht führen. Er hat immer
nur für denjenigen den Glauben „absoluter Geltung",
der seine ganz bestimmte Denkstufe für die Selbst-
verständliche hält. Die Zeit der Gotik hat ganz andre
Proportionen für „schön" gehalten, das Barock des-
gleichen, heute spielt eine Art „geometrischer" (bes-
ser: logarithmischer) Progression eine Rolle, die auch
nichts mit dem eigentlichen „Goldenen Schnitt" zu
tun hat. Kurz — wenn nicht das übergeordnete
Problem der stetigen Ausdehnungsveränderlichkeit
erkannt wird, das in verschiedenen Modifika-
tionen vorliegt (und gleichnishaft wohl in eine Paral-
lele zu differenziertem mathematischen Vorstellen ge-
rücktwerden kann; was der Verständigung über diese
Fragen nicht abträglich zu sein braucht!) dann ist die
unausbleibliche Folge eine hemmende Einseitigkeit.
Ein Künstler darfeinseitig sein, muß es in seinen eigen-
sten Stilfragen. Der Kunstlehrer darf es schon erheb-
lich weniger. Er ist gleichzeitig „Historiker des Ju-
gendalters" und sollte infolgedessen die Sprachen
mehrerer Epochen des bildnerischen Geschehens
verstehen können. Alles, was zum Soll und Haben des
Kunst leh re rs vorgebracht wird, kreist — wie auch
enger oder weiter um dieses spezifisch berufs-bezeich-
nende Soll.
Es ist im letzten Jahrzehnt öfter in der Unterrichts-
wirklichkeit das besondere Maß einer Progression
etwa wie 8a „pädagogisch gewollt" worden (Phan-
tasiegewächse einschl. der beliebten „Stufenkakteen"),
d. h. vom Lehrer diese seine Vorstellung eines Form-
reizes herangetragen worden. Hier wird die Frage
brennend: kann man einen „Stil" übertragen wollen?
Kann man nicht vielmehr nur jeweilig die „Stile" bil-
den wollen, die im Ansatz spontan vorliegen, kann
man nicht vielmehr nur (was allerdings schwerer ist,
weil mehr Einsicht voraussetzend) den Vollendungs-
willen bei den Schülern aufrufen: das konzentriert zu
„können", was im eigensten Vermögen steht? Es liegt
ähnlich mit den heute beliebten progressiven Schat-
tierungsstrichen im Sinne von 14 bei „technischen"
Gegenständen. Es käme darauf an, die Gefahr zu
85
derartige Dehnungsveränderlichkeit, der die mathe-
matische Behandlung immerhin als verwandt zur Seite
steht. Gewebte Streifen einer Struktur, wie es 14
schematisiert — würden den quälenden Beigeschmack
besitzen von Reliefwirkung: Bauchungen bzw. Vor-
dringen von Graten. Könnten nur durch farbige
G e g e n bewegung „in der Fläche" erhalten werden.
18 bis 23 zeigen Verhältnisse bei Schriftformen. 19
ist römische Kapitalschrift, bei der Mitte gehalten
wird. 18 die viel spätere Form, die noch „gestern"
für so selbstverständlich gehalten wurde, daß Schrift-
lehrbücher grundsätzlich damit anfangen konnten, das
Auge verlange beim E den Mittelbalken oberhalb
der Mitte. Es wurde „funktionell erklärt": der Ober-
teil dürfe keinesfalls schwerer wirken; er täte es
wenn der Balken in die Mitte käme. Das E bei 19 fällt
nun keineswegs um, ebensowenig, wie Buchstaben
der verschiedensten Sprachen, die es mit ähnlichen
Teilungen zu tun und ihre eigne Formschönheit haben
wegen der entschiedenen Mittenbetonung.
Nebenbei versagte die obige funktionale Erklärung
schon beim R (18), von wo aus man wieder feststellen
kann, daß der Stilwille stärker ist als „biologische"
Gründe. 20 und 21 bringen Verhältnisse von n-Höhe
zur Ober-Unterlänge, die etwa goldener Schnitt sind.
21a zeigt ein gleichzeitig primitives und barockes
Übermaß der Längen. 22 ist aus dem gestrigen „Nor-
malalfabet" — noch betont barockl 23 die Haltung
der Sütterlinschrift, mit recht auf primitives Gleichmaß
zurückgreifend — wie auch Keil- und Flammenstriche
meidend.
Zurück zum Anfangl — Die Verwirrung in der „Gol-
denen-Schnitt"-Angelegenheit ist aus zwei Gründen
erklärlich. Einmal ist es die „innere Verwurzelung",
der zufolge das bildnerische Problem auch mathe-
matisch spruchreif wurde. Daß die mathematische
Erkenntnis sich zur diktatorischen Maß-Regel aufwer-
fen konnte, war schon Symptom der Ent-wurzelung.
Zum andern aber liegt hier überdeutlich vor, in wel-
cher — unkritischen — Weise die größere „Natürlich-
keit", die a I s Folge der „gewachsenen" Denkfähig-
keit sich ergab (der Anblick ist in der bildenden
Kunst immer das Ergebnis, wie Braque es so schön
formulierte), nun in und an den Naturgegenständen
selber „nachgeprüft" wird. Wirklich ist nichts andres
als die naive Gleichsetzung von Kunstform mit Natur-
bild (die kritische Besinnung sieht tatsächlich so viele
„Naturen" als es Kunst-, d. h. überhaupt -Formen der
Weltanschauung und Erklärung gibtl) der Grund, wes-
halb noch immer Leute bestrebt sind, den goldenen
Schnitt an Naturgegenständen beweisen zu wollen.
Sie beweisen tatsächlich nur ihre bestimmte
Auffassung in die Natur hinein, keineswegs aber aus
der Natur eine Erkenntnis heraus. Die natürliche Viel-
gestaltigkeit ist so reich, daß es immer möglich ist,
darin zu finden, was man grad sucht, d. h. wozu man
„geistig disponiert" ist. 8b (hier quergelegt, bitte
senkrecht lesenl) zeigt das Maß-anlegen, wie es in
Abb. 39 der Carry van Biemaschen Schrift „Farben und
Formen als lebendige Kräfte" voikommt. Was aber
ist damit „bewiesen", wenn derart an dieser Eschen-
zweigspitze eine Proportionsfolge „gemessen" wird?
Leider gar nichts. Man schlage die Abb. (Photo) nach,
um zu sehen, mit welcher Willkür „passende" Punkte
gesucht sind. Man schlage auch die andern Abbn. nach,
um die Willkür des Hineinlegens noch drasti-
scher bestätigt zu finden. Tatsächlich war dieser Auf-
wand gar nicht nötig! Daß Naturgebilde sich auch
einmal wirklich darein fügen, auch wenn man die Maße
vernünftiger auf wirklich „ähnliche" Teilpunkte legt,
bleibe völlig unbestritten. Falsch aber ist es und irre-
führend, wenn gefolgert wird, die Natur beherrsche
der Goldene Schnitt ebenso wie er die „maßvolle"
Kunst kennzeichnete. Und womöglich zu meinen, der
Mensch habe den goldenen Schnitt aus der Natur
destilliert. Gewiß — jedoch aus der weiteren gei-
stigen Natur, die im Menschen zuvor wach sein muß,
damit er seine Erkenntnis z. B. auch auf solche Dinge
anwende. — 8a zeigt aus der gleichen Schrift die —
auch sonst heute beliebte — Schachtelhalmspitze. Dar-
unter steht: „Jede Stufe steht zur nächsten im Gol-
denen Schnitt. Dies Wachstumsgesetz geht durch die
ganze Pflanzenwelt." Den letzten Sproß habe ich be-
reits unterschlagen; er macht nicht mehr mit. Wesent-
licher aber ist dies: Es ist eine durch gar nichts be-
rechtigte Ungenauigkeit, die Tatsache der unbestreit-
baren Ähnlichkeit stetigen Wachsens mit der Progres-
sion geometrischer Reihen (8) dem „Goldenen Schnitt"
allein anzukerben. Der „Goldene Schnitt" meint ein
ganz bestimmtes Maß des Schwellens (siehe
Anfang). Wenn dieser Begriff überhaupt reinlich als
Grenzfall (vom eigentlichen Sinn war schon genugsam
die Rede) gesehen wird, dann wird es unstatthaft,
den Namen auf alles zu übertragen, was an geome-
trische Reihung erinnert. Denn es gibt viele andre
solcher Reihen, die auch „reizvoll" sind, aber nur
eine, die sich den Namen Goldene-Schnitt-
Proportionen historisch verdient hat. Als in der Natur
anklingend lassen sich viele solcher Reihen „be-
weisen". Es könnte also nur heißen: „Das Wachstum
der Natur zeigt — unter anderm — Ähnlichkeiten mit
„geometrischen Progressionen"; teilweise lassen sich
derartige Zähl-maße ablesen. In gewissen Fällen tritt
uns aber auch das Maß des Goldenen Schnittes ent-
gegen". Mehr kann man bei einiger Verantwortung
nicht sagen! — Der Beweis — auf den die mei-
sten Maß-Regler aus sind —, daß nur solche Grenz-
werte als „schön" oder als besonders „schön" em-
pfunden würden, läßt sich nicht führen. Er hat immer
nur für denjenigen den Glauben „absoluter Geltung",
der seine ganz bestimmte Denkstufe für die Selbst-
verständliche hält. Die Zeit der Gotik hat ganz andre
Proportionen für „schön" gehalten, das Barock des-
gleichen, heute spielt eine Art „geometrischer" (bes-
ser: logarithmischer) Progression eine Rolle, die auch
nichts mit dem eigentlichen „Goldenen Schnitt" zu
tun hat. Kurz — wenn nicht das übergeordnete
Problem der stetigen Ausdehnungsveränderlichkeit
erkannt wird, das in verschiedenen Modifika-
tionen vorliegt (und gleichnishaft wohl in eine Paral-
lele zu differenziertem mathematischen Vorstellen ge-
rücktwerden kann; was der Verständigung über diese
Fragen nicht abträglich zu sein braucht!) dann ist die
unausbleibliche Folge eine hemmende Einseitigkeit.
Ein Künstler darfeinseitig sein, muß es in seinen eigen-
sten Stilfragen. Der Kunstlehrer darf es schon erheb-
lich weniger. Er ist gleichzeitig „Historiker des Ju-
gendalters" und sollte infolgedessen die Sprachen
mehrerer Epochen des bildnerischen Geschehens
verstehen können. Alles, was zum Soll und Haben des
Kunst leh re rs vorgebracht wird, kreist — wie auch
enger oder weiter um dieses spezifisch berufs-bezeich-
nende Soll.
Es ist im letzten Jahrzehnt öfter in der Unterrichts-
wirklichkeit das besondere Maß einer Progression
etwa wie 8a „pädagogisch gewollt" worden (Phan-
tasiegewächse einschl. der beliebten „Stufenkakteen"),
d. h. vom Lehrer diese seine Vorstellung eines Form-
reizes herangetragen worden. Hier wird die Frage
brennend: kann man einen „Stil" übertragen wollen?
Kann man nicht vielmehr nur jeweilig die „Stile" bil-
den wollen, die im Ansatz spontan vorliegen, kann
man nicht vielmehr nur (was allerdings schwerer ist,
weil mehr Einsicht voraussetzend) den Vollendungs-
willen bei den Schülern aufrufen: das konzentriert zu
„können", was im eigensten Vermögen steht? Es liegt
ähnlich mit den heute beliebten progressiven Schat-
tierungsstrichen im Sinne von 14 bei „technischen"
Gegenständen. Es käme darauf an, die Gefahr zu
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