Höhere
Mädchenschule
Wien
P.K.SOMMER-BRESLAU: ZUR GEGENWÄRTIGEN LAGE’
Herr Amtsgenosse Frantzen-Hannover hat sich in
Heft 4 v. J. zu der Frage geäußert und fest-
gestellt, daß vier Gruppen von Zeichenlehrern einan-
der gegenüberstehen. Nun kommt durch den Aufruf
der Münchener Arbeitsgemeinschaft scheinbar noch
eine fünfte Gruppe dazu.
Dem ist nicht so. Trotzdem möchte ich hierzu vom
Standpunkt der Norddeutschen noch folgendes sagen:
Die Gruppierung, die Herr Frantzen feststellt,
zeigt, daß eigentlich eine „bürgerliche Einheits-
liste", wenn ich einmal im Tone des Alltags reden
darf, sehr wohl möglich ist. Um unnötige Wieder-
holung zu vermeiden, verweise ich auf Heft 4 von
Kunst und Tugend. Gruppe 1, 2 und 4 lassen sich
immerhin zusammenfassen. Krasser, unüberbrückbarer
Gegensatz besteht eigentlich nur zur 3. Gruppe, zu
den Abstrakten, die alles durch die verschiedenen
Arten von Linien erreichen wollen.
Gewiß, wir wollen tolerant sein. Wenn ich mir aber
als Vater vorstelle, daß meine Kinder neun Jahre
nur in dieser Richtung Kunsterziehung erhalten soll-
ten, dann ist es mit der Toleranz aus: Es ist zu ver-
stehen, daß ein Vater, der selbst anerkannter Künst-
ler ist, der aus einer Künstlerfamilie stammt und gute
Tradition pflegt, in den Harnisch geriete, wenn seine
Söhne alles als Kitsch bezeichneten, was nicht kan-
dinskisch ist, die blasiert alles Erhabene und Große
in unsern Museen als langweilig ablehnten und die
Bordellkunst junger Kunstverbände priesen, die Pot-
ters Stier nicht als Kunstwerk genießen, sondern
Stiere, die ein moderner Jüngling in grün und knall-
rot gemalt, die eher Giraffen oder Krokodilen ähneln,
die es als rückständig bezeichnen, wenn gemalte
Blumen naturhaft duften, überhaupt so selbstbewußt
und dreist über Kunst urteilen, daß einem übel und
wehe wird.
Der gute Bürger wird vielleicht lächeln über seine
ganz modernen Söhne und seine Banausigkeit ein-
’ Ich nehme an, dal) es dem Herrn Verfasser erwünscht isl, wenn recht
viele Amfsgenosson zu diesen Ausführungen im „Sprechsaar Stellung
nehmen. G. K.
sehen. Die Herren von der höheren Schule müssen
ja das viel besser wissen.
Und das ist das Bekämpfenswerte. Man müht sich,
das Publikum zu „erziehen", um den letzten Rest von
gesundem Menschenverstand totzuschlagen. Und man
klagt, daß dieser Kampf ein so schwerer ist. Das ge-
sund empfindende Volk will nun mal partout nicht
Gefolgschaft leisten.
Gott sei dank, daß es so ist. Bemerken will ich
aber noch, daß ich persönlich nicht Ursache habe,
daheim einen solchen Verzweiflungskampf gegen
meine Jungen zu führen. Ich bin im Gegenteil den
Kollegen dankbar. Aber ich kann mich hinein ver-
setzen in die Auswirkung einer extremen, modernen
Kunsterziehung, die nicht Verstaubte aufrüttelt, son-
dern einen erbitterten Kampf und viel trübe Stunden
heraufbeschwört.
Wie dem abhelfen? Lehrfreiheit auch in der Kunst-
erziehung erlangen, freie Wahl des Zeichenlehrers
seitens der Eltern und Schüler wären das Ideal. Läßt
sich aber nicht durchführen. Eine Möglichkeit läge
auch in der Beantragung des Vaters um Befreiung
von diesem Fache. Auch das gäbe Unzuträglichkeiten.
Hier können sich die Pädagogen noch den Kopf zer-
brechen. Wer findet einen Ausweg?
Bei den übrigen Gruppen ist keine Gefahr. Wenn
auch die Ansichten Abweichungen zeigen, so sind
sie doch im Großen und Ganzen nicht weitbewegen
der Natur. Ja, wir verlangen, daß auch die Anhänger
des Systems von 1902 zu Studienräten befördert wer-
den. Es waren Künstler von hohem Können, ich er-
innere an Knackfuß, Kolitz, Frank, Bräuer usw., die da-
mals die jungen Studierenden modellierten, formten,
preßten, beeinflußten, überzeugten, ja begeisterten,
die die oft Widerstrebenden belehrten, daß da noch
ein Lichtchen und da noch ein kleiner Schatten über-
sehen war, bis sie nachher wohl geformt auf die
Fahne der Maßgebenden schworen und streng und
getreu ihrem Eide nun 25, 30 Jahre dienten. Ein Über-
gehen oder Wettlaufenlassen mit den Jüngsten wäre
ein Verbrechen an Veteranen, eine scheußliche Bai-
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