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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 11.1931

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Heft 6 (Juni 1931)
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Sprechsaal / Umschau / Buchbesprechungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.28010#0182

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I'ürljenlichldruck nach dem Gemälde: Kamelie am Fenster von
E. Mense. Verlag der Photographischen Gesellschaft Berlin W 35
der mit dem Namen „Neue Sachlichkeit" nur mißver-
ständlich gekennzeichnet ist. Wir fragen uns: Welche
Hilfen kann uns ein solches Blatt gewähren bei der
weitaus schwersten Aufgabe, die wir als Kunstlehrer
haben, bei der Aufgabe, den Schülern zu einem inne-
ren persönlichen Verhältnis zu Werken der Kunst zu
verhelfen? Zunächst gehen wir davon aus, daß nichts
gefährlicher ist als die leider so vielfach beliebte
intellektuelle „Erklärung" (oder eigentlich Zerklä-
rung) von Kunstwerken, die das Kunstwerk entge-
heimnist, ihm den Duft abstreift, es als Ganzes zer-
stört. Hauptgrundsatz muß bleiben: das Kunstwerk
soll aus sich selbst und durch sich selbst, d. h. durch
seine unmittelbare Gegenwart auf das Schauver-
mögen der Schüler wirken. Wir werden also ein sol-
ches Kunstblatt (zunächst am besten im Wechsel mit
anderen)'im Zeichensaal aufhängen und vorerst gar
nichts dazu sagen. Erst wenn die Schüler mit Fragen
an uns herantreten, werden wir diese mit wenigen
vorsichtigen, den Lebensaltern angepaßten Hinwei-
sen zu beantworten suchen. Auf der Oberstufe ist es
dann vielleicht Zeit, auf eine Aussprache über die
Gestaltungsweise und -gesetze einzugehen. Daß es
sich dabei nur um eine sachliche Wertung, also nicht
um eine subjektive Gefühlswertung handeln kann,
braucht man in unseren Kreisen wohl nicht zu be-
tonen.
Im Nachstehenden versuche ich, einige leitende
Gesichtspunkte herauszuslellen, die man die Schüler
bei einer solchen Aussprache über Menses Kamelie
finden lassen kann.
Vielleicht gehen wir, sofern wir ein geeignetes
Blatt haben, von einem Werk des Impressionismus
aus und stellen Menses Bild daneben. Daß wir hier
ein nach anderen Gesetzen geschaffenes Werk vor
uns haben, erkennen die Schüler sofort. Sie finden:
unser Bild stellt keinen zufälligen Naturausschnitt dar,
sondern ist strenggesetzlich gebaut. Das Thema des
elementaren Gegensatzes der Urlinien Waagrecht und
Senkrecht, kraftvoll angeschlagen in den Sprossen
und Rahmen des Fensters, beherrscht das Bild. Damit
ist betont: der Bildbau richtet sich nach der Bild-

fläche: „Bild und Rahmen sind lüi einander du. "
(Wölfflin.)
Das Motiv der Senkrechten wiederholt sich im
Stamm der Kamelle und klingt nach hinten aus in den
Tannen der Landschaft. Auch das Motiv der Waag-
rechten wiederholt sich in der Landschaft und klingt
im anmutigen Spiel der gewellten Geländelinien .ins.
Neben dieses Richlungssystem der Urinien t:iit -in
zweites, schwächer betontes Lini-ensystem, <1.. i 11 o
und reiche (zu deutsch differenzierte) Spie! der
Schrägen: vor allem im Vorhang li.il.-,. der in,
Bild kühn durchschneidet (seine Fallen gleichen sich"
aber — und das ist nicht zufällig —<iem Bild, and zij
der Senkrechten an), ferner in den Linien der Zweige
der Kamelie, dann in den Linien der Fensterl,oibung,
in den nach oben auseinander strebenden Mantel-
linien des Blumentopfes (ein echt tektonisches Motiv!),,
in den nach vorn stoßenden Schlagschatten sowie in.
der Anordnung der Früchte (Apfelsine und Apfel).
Auch diese Schrägen klingen in den Linien der Land-
schaft vielfältig weiter und verklingen nach oben in
den Bergen.
So haben wir ein reiches und doch klar übersicht-
liches Spannungssystem gegeneinander abgewogener
Linien vor uns, das dem Gesetz der Abgrenzung der'
Bildfläche untertan ist. Der gewollt shen,ge Bildauf-
bau tut sich auch kund in der besonders betonten,
nur an einer Stelle unterbrochenen l/littelspto.'.
Fensters, die nahezu als Symmetrieachse
Betrachten wir die B i I d I o't m e n in. -I:m
so finden wir: Alles Unbestimmte, Verschwelende,
wie es zum Wesen des Impressionismus gehört, ist.
vermieden. Die Farbflecke haben bestimmte Grenzen,
denen das Auge beim Ablesen des Bildes folgen muß.
Perspektivische Überschneidungen und Verkürzungen
sind ebenfalls vermieden. Die Blätter und Blüten der
Kamelie breiten sich in leicht faßbaren Schauformen
aus, sind also keine „Ansichten" der Naturformen.
Das Gestaltungsprinzip der elementaren Gegensätz-
lichkeit waltet auch in der farbigen Gestaltung des
Bildes. Der starke klare Dreiklang: Rot (Vorhang,
Blumentopf, Apfelsine, Kamelie), Grün (Fensterleibung,
Blätter der Kamelie), Blau (Himmel, Wald und Schat-
ten auf dem Schneefeld) beherrscht das Bild. Auf das
Spiel der durch die Einflüsse von Luft und Licht be-
dingten farbigen Erscheinung, also auf die Wieder-
gabe des optischen Scheines ist nicht abgesehen,
vielmehr tritt die gegenständliche Eigenfarbe über-
all klar hervor. Auch die Schatten sind nicht auf die
atmosphärische Erscheinung hin gesehen, sondern
ganz einfach eben dunkler als die gegenständliche
Lokalfarbe. (Nur in der Winterlandschaft erblicken
wir die durch die Spiegelung des Lichtes und des
Himmels bedingten Gegensätze von Orange und
Blau.) Und die Schatten verhüllen die Formen nir-
gends, sondern klären den körperlichen Tatbestand:
„Zeichnung und Modellierung decken sich."
Wir haben ein Werk vor uns, das, um mit Wölfflin
zu reden, dem objektiven Talsachen-Stil angehört,
nicht dem subjektiven malerischen Stil des „Augen-
betruges". Dieser Stil der sog. neuen Sachlichkeit
(auch dieses Wort hat Wölfflin gepiägt) ist unser
augenblicklicher Zeitstil. Er entspricht unserer heu-
tigen Weltanschauung. Wir streben überall nach Klar-
heit, Sachlichkeit, nach in sich ruhender Vollkommen-
heit und Vollendung. Statik und Tektonik sin I Kein-
begriffe unserer Zeit. Darum sucht die Kunst jede
Form zu abgeschlossenem Dasein zu gestalten Das
Unbegrenzte, Werdende, Bewegte in dei Kunst als
das Symbol des Strebens nach Unendlichkeit gehört
nicht zum wesenhaften Ausdruck unserer Zeit.
Mit dieser Feststellung sind selbstverständlich die
Qualitätsfragen der bildnerischen Gestaltung nicht
berührt. G K.

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