auch, daß der Einzelne lange Zeit ohne Kunst auszu-
kommen vermag.
Aber unentbehrlich, lebensnotwendig wie Luft, Brot
und Wasser ist auf die Dauer innerhalb eines Volks-
ganzen die Funktion Kunst. Nicht als Wünschbar-
keit, nicht als Schmuck, sondern als Lebensfunktion,
die zwar „höherer" Ordnung ist als andre Funktionen,
aber biologisch genau so notwendig wie sie. Was
heißt das: Die Kunst steht mit den übrigen Kräften
und Funktionen des Volkslebens in einem biologischen
Zusammenhang?
Es heißt etwas sehr Einfaches. Es heißt, daß das
Leben nicht nur gelebt, sondern auch im selben Zuge
verstanden werden muß, daß sich zur Wahrnehmung
auch die Deutung, zur pathischen Ergriffenheit auch
die geistige Abstandnahme, die aktive Formung stel-
len muß. Anwesenheit von Kunst innerhalb einer
Volkskultur bedeutet Anwesenheit von gebundenem,
d. h. an das Erleben gebundenem Geist — und damit
Anwesenheit des wirklichen und unverkürzten Men-
schen. Überall wo Kunst ist, geschieht gleichzeitig
mit dem Erleben ein Verstehen; ein Verstehen, das
nicht als Zaungast am Rande steht und zusieht, son-
dern in die Materie des Erlebens hineingeknetet, ja
völlig gleichzeitig mit ihr geboren Ist. Kunstwerk ist
Leben, aber immer zugleich auch Aneignungsakt, gei-
stiges Hereinnehmen des Erlebens in das eigene Da-
sein. Kunstwerk ist die Klammer, die das wirkliche
Leben mit einem zugehörigen Element von Deutung
verklammert, so unlöslich, daß das Wirkliche darin
nicht ohne das hinzugegebene Stück „Verstehen" zu
haben ist. Kunstwerk ist im selben Zuge Stoff und
Deutung, Lebensnahe und geistige Distanz, und zeigt
beides in seinen wunderbaren Zusammenhängen. Das
Große aber ist, daß das Kunstwerk damit das eigent-
lich menschliche Verhalten zur Welt ideal durch-
führt und vorbildet. Zwar ist der Künstler nach geläu-
figer Anschauung ein Ausnahmetyp — und zahlen-
mäßig trifft dies ja auch zu. Aber er ist nicht auf die
Art Ausnahme, daß er mit seinem Tun etwas in die
Luft gaukelt, was von der Weise der Mitmenschen
phantastisch abzweigt — sondern auf die Art, daß
er die allgemein-menschliche Weise richtiger, voller,
wahrer, erfüllter, durchgeführter zeigt, als sie im nor-
malen Tun und Erleben dasteht.
Das ist schließlich der Kernpunkt, weswegen wir,
jenseits aller augenblicklichen Verlegenheiten und
Bedrängnisse der Kunst, von einem solidarischen, von
einem gleichsam „formalen" Gesamtinteresse an der
Kunst reden müssen: die Kunst vertritt, ja sie vertei-
digt, sie propagiert, sie befestigt in immer wieder-
holten Akten die geistige Menschengestalt,
in die wir hineingeboren sind. „Der Menschheit
Würde ist in eure Hand gegebenl", rief Schiller
den Künstlern zu. Holt man diese Mahnung aus dem
veralteten Wortklang heraus, so bedeutet sie: die
Menschenform, auf die wir verpflichtet sind, diese
bestimmte Zueinanderordnung von geistigen und vi-
talen Kräften, die seit vier- oder fünftausend Jahren
unsre Struktur beherrscht, findet im Kunstwerk ihren
vollendeten Ausdruck; einen Ausdruck, der nicht nur
für die müßige Anschauung dasteht, sondern ständig
im Sinne dieser Menschenform wirkt und wirbt und
bildet. Wir haben ja heute in die Vorstufen dieser
Menschengestalt allerlei Blicke getan. Wir wissen,
daß diese Menschengestalt sich „historisch" heraus-
gearbeitet hat, daß es außerhalb ihrer noch viele
Möglichkeiten gibt, die wir als altertümliche, als pri-
mitive Formen kennen und als künftige vermuten kön-
nen. Das Kind, der Geisteskranke, der Wilde leben
uns einige dieser Formen greifbar vor — deutlich
genug, um uns zu Bewußtsein zu bringen: unsre heu-
tige Struktur hat ein bestimmtes „Maß" in der Ver-
schränkung der geistigen und der vitalen Faktoren,
das aus Ewigkeitsgesichtspunkten nicht besser oder
220
schlechter sein mag als andere Strukturen, das aber
eine ungeheure Verpflichtungskraft für uns hat und
daher immer vertreten, vor Augen geführt und prak-
tisch bewährt werden muß. Diese Vertretung und
Bewährung leistet die Kunst, so wie wir sie kennen,
mit dem größten Nachdruck. Wir haben ein Interesse
an der für uns verpflichtenden Menschengestalt —
und deshalb haben wir ein solidarisches Interesse an
der Kunst. Es ist das Interesse daran, daß Leben und
Geist beieinander bleiben in derjenigen Art und
Innigkeit der Gesellung, die für uns die biologisch
richtige ist.
Ja selbst wenn wir den ungeheuren Gedanken fas-
sen müßten, daß wir an eine grundlegende Struktur-
veränderung der Menschengestalt bedrohlich nahe
herangerückt seien, wenn die heutigen Kunstzweifel
nicht nur als vorübergehende Gleichgewichtsstörun-
gen in unserem biologischen System zu lesen wären,
sondern als Anzeichen eines schon begonnenen Neu-
baues — selbst dann und gerade dann müßten wir
der Kunst mit ihrem ständig lösenden, ausgleichen-
den, überführenden, aller Genese so innig angepaß-
ten Wesen die Treue halten. Wir müßten dann die
Worte Hölderlins aus der Titanen-Hymne vor uns hin-
stellen, die so viel um jede mögliche „Katastrophe"
wissen, unter anderem auch das, daß alles Geschehen
hitzig und verzehrend wird, wenn es an „Gesang
fehlt", der „löset den Geist".
Zum Tod Ludwig Gurlitts
In Freudenstadt starb vor kurzem Professor Dr. Lud-
wig Gurlitt. Er wurde am 31. Mai 1855 in Wien als Sohn
des Landschaftsmalers Prof. L. Gurlitt geboren. So
empfing er als Familienerbe den Sinn und die Liebe
für Natur und Kunst.
Er war zunächst Lehrer am Johanneum in Hamburg,
kam an das Falk-Realgymnasium in Berlin, anschlie-
ßend an das Gymnasium in Steglitz. Im Jahr 1907 trat
er aus dem Schuldienst aus, da seine Ansichten oft :
andere Wege eingeschlagen hatten, als die damals
üblichen. Gurlitt gründete nun in Oranienburg bei Ber-
lin ein Jugenderholungsheim, zog aber 1913 nach Mün- .
chen. Zu einer Zeit, da der Sport und das Turnen noch;;
Stiefkinder der Schullehrpläne waren, setzte er sich
für die Ertüchtigung der Jugend durch körperliche Aus-
bildung ein, verlangte stärkere Betonung des
Künstlerischen in der Erziehung, vor al-
lem aber Zeichnen
Vertiefung
ständnisses und Schauens, und forderte Ein-
gehen auf den Wandertrieb der Jugend. Für diese
seine Ansichten hat er sein Leben lang einen ehe-
lichen Kampf mit unbeugsamem Willen geführt. Ä
Die Dürerschule, Staatliche Versuchsschule in Dresden,
an der unser Amtsgenosse Albert Herold mit Hin-
gabe und Erfolg wirkt, feierte die „Wiedereröffnung 5
der Hygiene-Ausstellung" mit einer Schrift, die für uns
besonders bemerkenswert ist durch die innere Ver-
bindung („Querverbindung") des Zeichen- und Kunst-
unterrichts mit anderen Fächern der Schule. Eine An-
zahl trefflicher Linolschnitte veranschaulichen Schüler-
aufsätze über das Herz, das Blut, die Atmung, Mode-
torheiten verschiedener Zeiten und Völker usw.
Der Raubmord als Zeichenaufgabe
Ein Beispiel für die ganze Verwilderung unserer Zeit
auch auf dem erzieherischen Gebiet ist das Folgende:
Ein Zeichenlehrer eines Berliner Gymnasiums, so lesen
wir in der Evangelischen Schulzeitung, stellte seinen
12—13jährigen Schülern die Aufgabe, einen der jüng-
sten Morde, in einem Neu-Köllner Kino bzw. an einem
Steglitzer Chauffeur, zu zeichnen. Gegenüber den ge-
gen ihn erhobenen Angriffen rechtfertigte er sich fol-
gendermaßen: „Die Lehraufgabe in dem fraglichen
nach der Natur, zu r
des künstlerischen Ve r-
kommen vermag.
Aber unentbehrlich, lebensnotwendig wie Luft, Brot
und Wasser ist auf die Dauer innerhalb eines Volks-
ganzen die Funktion Kunst. Nicht als Wünschbar-
keit, nicht als Schmuck, sondern als Lebensfunktion,
die zwar „höherer" Ordnung ist als andre Funktionen,
aber biologisch genau so notwendig wie sie. Was
heißt das: Die Kunst steht mit den übrigen Kräften
und Funktionen des Volkslebens in einem biologischen
Zusammenhang?
Es heißt etwas sehr Einfaches. Es heißt, daß das
Leben nicht nur gelebt, sondern auch im selben Zuge
verstanden werden muß, daß sich zur Wahrnehmung
auch die Deutung, zur pathischen Ergriffenheit auch
die geistige Abstandnahme, die aktive Formung stel-
len muß. Anwesenheit von Kunst innerhalb einer
Volkskultur bedeutet Anwesenheit von gebundenem,
d. h. an das Erleben gebundenem Geist — und damit
Anwesenheit des wirklichen und unverkürzten Men-
schen. Überall wo Kunst ist, geschieht gleichzeitig
mit dem Erleben ein Verstehen; ein Verstehen, das
nicht als Zaungast am Rande steht und zusieht, son-
dern in die Materie des Erlebens hineingeknetet, ja
völlig gleichzeitig mit ihr geboren Ist. Kunstwerk ist
Leben, aber immer zugleich auch Aneignungsakt, gei-
stiges Hereinnehmen des Erlebens in das eigene Da-
sein. Kunstwerk ist die Klammer, die das wirkliche
Leben mit einem zugehörigen Element von Deutung
verklammert, so unlöslich, daß das Wirkliche darin
nicht ohne das hinzugegebene Stück „Verstehen" zu
haben ist. Kunstwerk ist im selben Zuge Stoff und
Deutung, Lebensnahe und geistige Distanz, und zeigt
beides in seinen wunderbaren Zusammenhängen. Das
Große aber ist, daß das Kunstwerk damit das eigent-
lich menschliche Verhalten zur Welt ideal durch-
führt und vorbildet. Zwar ist der Künstler nach geläu-
figer Anschauung ein Ausnahmetyp — und zahlen-
mäßig trifft dies ja auch zu. Aber er ist nicht auf die
Art Ausnahme, daß er mit seinem Tun etwas in die
Luft gaukelt, was von der Weise der Mitmenschen
phantastisch abzweigt — sondern auf die Art, daß
er die allgemein-menschliche Weise richtiger, voller,
wahrer, erfüllter, durchgeführter zeigt, als sie im nor-
malen Tun und Erleben dasteht.
Das ist schließlich der Kernpunkt, weswegen wir,
jenseits aller augenblicklichen Verlegenheiten und
Bedrängnisse der Kunst, von einem solidarischen, von
einem gleichsam „formalen" Gesamtinteresse an der
Kunst reden müssen: die Kunst vertritt, ja sie vertei-
digt, sie propagiert, sie befestigt in immer wieder-
holten Akten die geistige Menschengestalt,
in die wir hineingeboren sind. „Der Menschheit
Würde ist in eure Hand gegebenl", rief Schiller
den Künstlern zu. Holt man diese Mahnung aus dem
veralteten Wortklang heraus, so bedeutet sie: die
Menschenform, auf die wir verpflichtet sind, diese
bestimmte Zueinanderordnung von geistigen und vi-
talen Kräften, die seit vier- oder fünftausend Jahren
unsre Struktur beherrscht, findet im Kunstwerk ihren
vollendeten Ausdruck; einen Ausdruck, der nicht nur
für die müßige Anschauung dasteht, sondern ständig
im Sinne dieser Menschenform wirkt und wirbt und
bildet. Wir haben ja heute in die Vorstufen dieser
Menschengestalt allerlei Blicke getan. Wir wissen,
daß diese Menschengestalt sich „historisch" heraus-
gearbeitet hat, daß es außerhalb ihrer noch viele
Möglichkeiten gibt, die wir als altertümliche, als pri-
mitive Formen kennen und als künftige vermuten kön-
nen. Das Kind, der Geisteskranke, der Wilde leben
uns einige dieser Formen greifbar vor — deutlich
genug, um uns zu Bewußtsein zu bringen: unsre heu-
tige Struktur hat ein bestimmtes „Maß" in der Ver-
schränkung der geistigen und der vitalen Faktoren,
das aus Ewigkeitsgesichtspunkten nicht besser oder
220
schlechter sein mag als andere Strukturen, das aber
eine ungeheure Verpflichtungskraft für uns hat und
daher immer vertreten, vor Augen geführt und prak-
tisch bewährt werden muß. Diese Vertretung und
Bewährung leistet die Kunst, so wie wir sie kennen,
mit dem größten Nachdruck. Wir haben ein Interesse
an der für uns verpflichtenden Menschengestalt —
und deshalb haben wir ein solidarisches Interesse an
der Kunst. Es ist das Interesse daran, daß Leben und
Geist beieinander bleiben in derjenigen Art und
Innigkeit der Gesellung, die für uns die biologisch
richtige ist.
Ja selbst wenn wir den ungeheuren Gedanken fas-
sen müßten, daß wir an eine grundlegende Struktur-
veränderung der Menschengestalt bedrohlich nahe
herangerückt seien, wenn die heutigen Kunstzweifel
nicht nur als vorübergehende Gleichgewichtsstörun-
gen in unserem biologischen System zu lesen wären,
sondern als Anzeichen eines schon begonnenen Neu-
baues — selbst dann und gerade dann müßten wir
der Kunst mit ihrem ständig lösenden, ausgleichen-
den, überführenden, aller Genese so innig angepaß-
ten Wesen die Treue halten. Wir müßten dann die
Worte Hölderlins aus der Titanen-Hymne vor uns hin-
stellen, die so viel um jede mögliche „Katastrophe"
wissen, unter anderem auch das, daß alles Geschehen
hitzig und verzehrend wird, wenn es an „Gesang
fehlt", der „löset den Geist".
Zum Tod Ludwig Gurlitts
In Freudenstadt starb vor kurzem Professor Dr. Lud-
wig Gurlitt. Er wurde am 31. Mai 1855 in Wien als Sohn
des Landschaftsmalers Prof. L. Gurlitt geboren. So
empfing er als Familienerbe den Sinn und die Liebe
für Natur und Kunst.
Er war zunächst Lehrer am Johanneum in Hamburg,
kam an das Falk-Realgymnasium in Berlin, anschlie-
ßend an das Gymnasium in Steglitz. Im Jahr 1907 trat
er aus dem Schuldienst aus, da seine Ansichten oft :
andere Wege eingeschlagen hatten, als die damals
üblichen. Gurlitt gründete nun in Oranienburg bei Ber-
lin ein Jugenderholungsheim, zog aber 1913 nach Mün- .
chen. Zu einer Zeit, da der Sport und das Turnen noch;;
Stiefkinder der Schullehrpläne waren, setzte er sich
für die Ertüchtigung der Jugend durch körperliche Aus-
bildung ein, verlangte stärkere Betonung des
Künstlerischen in der Erziehung, vor al-
lem aber Zeichnen
Vertiefung
ständnisses und Schauens, und forderte Ein-
gehen auf den Wandertrieb der Jugend. Für diese
seine Ansichten hat er sein Leben lang einen ehe-
lichen Kampf mit unbeugsamem Willen geführt. Ä
Die Dürerschule, Staatliche Versuchsschule in Dresden,
an der unser Amtsgenosse Albert Herold mit Hin-
gabe und Erfolg wirkt, feierte die „Wiedereröffnung 5
der Hygiene-Ausstellung" mit einer Schrift, die für uns
besonders bemerkenswert ist durch die innere Ver-
bindung („Querverbindung") des Zeichen- und Kunst-
unterrichts mit anderen Fächern der Schule. Eine An-
zahl trefflicher Linolschnitte veranschaulichen Schüler-
aufsätze über das Herz, das Blut, die Atmung, Mode-
torheiten verschiedener Zeiten und Völker usw.
Der Raubmord als Zeichenaufgabe
Ein Beispiel für die ganze Verwilderung unserer Zeit
auch auf dem erzieherischen Gebiet ist das Folgende:
Ein Zeichenlehrer eines Berliner Gymnasiums, so lesen
wir in der Evangelischen Schulzeitung, stellte seinen
12—13jährigen Schülern die Aufgabe, einen der jüng-
sten Morde, in einem Neu-Köllner Kino bzw. an einem
Steglitzer Chauffeur, zu zeichnen. Gegenüber den ge-
gen ihn erhobenen Angriffen rechtfertigte er sich fol-
gendermaßen: „Die Lehraufgabe in dem fraglichen
nach der Natur, zu r
des künstlerischen Ve r-