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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 11.1931

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Heft 11 (November 1931)
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Gahlbeck, Rudolf: Phantasie und Zufall
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https://doi.org/10.11588/diglit.28010#0297

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möglich sein, dabei eine der vier Hauptrichtungen des
Rechtecks grundleglich zu machen. Dabei muß der
Schüler sich so eng wie möglich an die Farben des
„Originals" anlehnen. Nur dort, wo sie zu offensicht-
lichen Mißverständnissen führen könnten, werden sie
gemildert, bzw. ihrem in der dinglichen Welt gegebe-
nen Träger angenähert. Hier ist nun beachtlich, daß
sich immer wieder herausstellt, daß diejenigen Arbei-
ten, die sich am wenigsten vom „Original" entfernen,
die besten sind. Das muß jedem, der sich ernstlich
um dieses Problem bemüht, zu denken geben. Andrer-
seits erhellt daraus, daß wir uns auf die Dauer der
Anerkennung und Auswertung der „unbewußten Kräfte"
nicht „verschließen" können und dürfen. Je weiter
ihre Tore „geöffnet" werden, um so besser! Oder
aber es bleibt ein Konto, das uns die Natur selber
einrichtete, unabgehoben.
Wenn Heckmann sagt, daß solche Ergebnisse einer
mit Worten schwer zu umreißenden .„Konzentration"
„weit über das bisher Gewohnte hinausgehen", so
kann ich das nur aus meinen eigenen Erfahrungen
heraus auf das freudigste bestätigen. Denn wenn ich
beispielsweise nur die „fertigen" Bilder zeigen wollte,
ohne ihre Entstehung zu verraten, würde es in der
überwiegenden Anzahl der Fälle schlechthin unglaub-
lich erscheinen, daß diese Bilder von Schülern gemalt
sein sollen. Lediglich ein ja nur selten in diesem
Maße zu überwindender Mangel der technischen Seite
der Wiedergabe könnte auf Schülerarbeiten schließen
lassen. So habe ich Blätter darunter, deren Urheber-
schaft sich — bezüglich des Wesentlichen — ein
Nolde, Munch oder Dulac bestimmt nicht schämen
würde.
Hier sei noch kurz eingeschaltet, daß die Farben,
völlig getrocknet, ein anderes Bild ergeben als wäh-
rend des Trocknens. Die Auswahl tritt aber unmittel-
bar hinterher ein, so daß bei nachträglicher Betrach-
tung oft die Herleitung des Bildes aus dem „Original"
auf einige Schwierigkeiten stößt, was vornehmlich
bezüglich der Form gilt, die ja beim Trocknen mehr
oder weniger großen Veränderungen unterworfen ist.
Was nun den Inhalt der Bilder anbetrifft, so gibt
es kaum ein Thema, das nicht in den „Farbspielen"
anzutreffen wäre. Neben Stilleben und Landschaften,
die sowohl der Natur nahestanden, als auch aus fer-
nen Traumwelten herübeileuchten können, tauchen da
märchenhaft vermummte Gestalten auf: garstige Hexen
und tollkühne Seiltänzer, fellgegürtete Riesen und
gazellenschlanke Scheherezaden, Rokoko-Prinzeßchen
in verwunschenen Grotten und dumpf brütende Kät-
nerinnen, freudig Bewegte und hoheitsvoll Schreitende,
Prophetengestalten von fast biblischer Wucht, Stier-
kämpfer, Mönche und Ritter in herbstlichen Wäldern,
gespenstische Schatten der Unterwelt und tölpelhafte
Brillenträger. Keine Beredtsamkeit reicht aus, auch
nur annähernd diesen zauberhaften Reigen zu erschöp-
fen, der unversiegbar, immer neu und überraschend
aus den Quellen des Unterbewußtseins heraufsteigt.
Sollen wir diesen Reigen ungerufen lassen, wo er so
willig gehorcht?
Und ebenso gibt es kaum ein Zeitalter und
dessen „Mode", das nicht anzutreffen wäre. Von den
Zeiten des Pfahlbaus über Mittelalter, Barock und Bie-
dermeier bis zur Gegenwart mit allen Launen ihrer
Mode- alles ist da, ja, bis zur möglichen Mode einer
Zukunft.
Keine Zone fehlt. Europäer und Asiaten, Afrikaner
und Bewohner noch unerforschter, rätselumwitterter
Inseln, sie alle geben sich hier ein farbenrauschendes
Stelldichein, und sie alle auf den leisen Wink des
großen Zauberers „Zufall". Man wäre versucht, diese
Abwandlung zu wagen:
„Greift nur hinein in diese Zufallsbilder,
Wo ihr sie packt, da sind sie interessantl"

Gleichwohl soll nun die hiergegen etwas trocken
anmutende Frage nicht unterlassen werden, die ver-
mutlich zu erwarten ist: entspricht denn diese
Welt nun auch tatsächlich dem Auffassungs-und Gestal-
tungsvermögen der Schüler? Wird hier nicht ein allzu
kecker Sprung in das lockend-schillernde Meer der
Phantasie gewagt? Darauf ist nur zu antworten, daß
der Schüler jeweils das bildmäßig erschauen wird,
was der Schwungkraft seiner Phantasie und seinem
Alter entspricht. Dadurch erledigt sich die Gefahr
einer verfrühten Überspannung des Bogens von selbst.
Demgegenüber ist vielmehr mit allem Nachdruck
darauf hinzuweisen, daß dem Lehrer ein nicht hoch
genug zu veranschlagendes Mittel an die Hand ge-
geben wird, aufgrund eben dieser Auswahl die
Persönlichkeit des Schülers näher kennen zu lernen,
was ja Voraussetzung zu ihrer Pflege und Förderung ist.
Nun sind von hier aus mit Leichtigkeit Brücken
zu schlagen zu allen Gebieten, die den Kunstunter-
richt unmittelbar oder mittelbar angehen. Sie bieten
sich geradezu an, wie von selber gewachsen. Hierin
liegen die weiteren Werte solcher Aufgaben, die
bezüglich ihrer Wichtigkeit einander kaum nachstehen.
Uber die Farbe wurde bereits gesprochen. Der
Schüler wird zu Vergleichen bewußter und unbewuß-
ter Farbgebung angeregt. An den durchweg überaus
wohlklingenden Farbharmonien, die aus dem Unbewuß-
ten in die Hand flössen, kann er sein „Farbengehör",
seinen Geschmack in fruchtbarster Weise schulen.
Dazu kommt dann das Formale. Die Wege, die
zur Betrachtung des Bildaufbaus, der Komposition
führen, öffnen sich wie von selber. Die so schwer aus-
rottbare Neigung des Schülers, alle Dinge und Men-
schen fast immer „ganz" zu zeichnen, seine Scheu
vor Überschneidungen, Verdeckungen und Verkürzun-
gen empfängt hier einen heilsamen Gegenstoß. Er
wird gewahr, welche großen Reize und Ausdrucks-
möglichkeiten sich gerade nach dieser Richtung hin
erschließen. Er lernt begreifen, daß das „Ganze"
durchaus nicht immer nötig ist, daß im Gegenteil ein
Weniger oftmals ein Mehr ist.
Damit kämen wir zwanglos zum Bildausschnitt,
von dem Ähnliches zu sagen wäre. Der Schüler erlebt,
welche Wandlungen etwa eine Figur während ihrer
Verrückung innerhalb der Bildgrenze und über diese
hinaus, durchläuft, er lernt, daß es nicht gleichgültig
ist, wo sie im Bilde steht, und wie auch ihre Um-
gebung den Gesetzen dieser Wandlung unterworfen ist.
Der Anschluß an die Kunstbetrachtung ist
hier ohne weiteres gegeben. Es dürfte einleuchten,
daß gerade nach solchen Aufgaben die Meisterwerke
der Malerei vom Schüler mit ganz anderen Augen
betrachtet werden, und das bezüglich aller Bild-
elemente.
Daß sich solche Arbeitsweise auch auf das bewußte
Gestalten ungemein bereichernd und belebend
auswirkt, ergibt sich als weitere Folge von nicht zu
unterschätzender Bedeutung.
Und endlich — doch nicht zuletzt — kommen wir
damit der „grundwichtigen" Frage nach gerechtem
Maßstab zur Bewertung derSchülerleistung
um einen ganz wesentlichen Schritt näher. Denn die
Erfahrung lehrt, daß viele Schüler, die auf anderen
Gebieten mehr oder weniger versagen, bei der Bun-
desgenossenschaft mit dem „Zufall" ganz unerwartete
Fähigkeiten zeigen, was sich wiederum als „ausglei-
chende Gerechtigkeit" für die Bewertung auswirkt.
Ich habe mich hier in Kürze auf das Wesentliche
eines verhältnismäßig kleinen Kapitels aus dem um-
fangreichen Komplex der „Mitarbeit unbewußter
Kräfte" beschränkt und würde es gleichfalls in unser
aller Interesse aufs lebhafteste begrüßen, wenn wir
nunmehr in eine andere Werkstatt, in weitere Erfah-
rungen dieser Art Einblick nehmen könnten.

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