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Monatshefte der kunstwissenschaftlichen Literatur — 3.1907

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Erstes Heft (Januar 1907)
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Schottmüller, Frida: [Rezension von: Georg Kerschensteiner, Die Entwicklung der zeichnerischen Begabung]
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Waetzoldt, Wilhelm: [Rezension von: G.A.O. Collischonn, Der erzieherische Wert - Samuel Both, Victor Roth, Wege zur Kunst]
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https://doi.org/10.11588/diglit.49882#0040

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12

Monatshefte der kunstwissenschaftlichen Literatur.

Januar-Heft.

wertig steht der Text neben den Tafeln. Die
souveräne Beherrschung der Materie, die Prägnanz
der Fragestellung, der Scharfsinn der Ausführungen
und die Durchsichtigkeit des Aufbaus lassen das
exakt wissenschaftliche Buch selbst zum Kunst-
werk werden.
Die Untersuchungen gelten der zeichnerischen
Darstellung von Mensch, Tier und Pflanze, Gegen-
stand und Kaum. Münchner Volksschulkinder, so-
wie die aus mehreren bayrischen Dörfern - dar-
unter Oberammergau — lieferten das Material.
Sehr eigenartige Erzeugnisse stammen aus der
Idioten-Anstalt Ursberg in Schwaben. Als Gegen-
pol erscheinen die Arbeiten von ein paar beson-
ders begabten Knaben. Ein achtjäriger hat sprin-
gende Pferde, ein dreizehnjähriger Bildnisse der
Seinen geschaffen, die durch ihre Ausdruckskraft
bei geringsten Mitteln geradezu verblüffen.
Daneben gelang es K., annähernd Gleiches so
weit zu konstatieren, dass sich das normale (zeich-
nerische) Können auf bestimmten Altersstufen zum
mindesten ungefähr umgrenzen lässt.
K. unterscheidet beim Kinde drei Stufen des
künstlerischen Sehens, die natürlich in einander
übergehen. Die frühste, die des Schemas, geht von
der „begrifflichen Niederschrift der Gegenstands-
merkmale“ aus. Eigne Beobachtungen sachlicher
Art am einzelnen Objekt führen zur zweiten Stufe,
der des Erscheinungsgemässen. Von ihr geht es
— gefördert durch Erkenntnisse, wie sich der Ge-
genstand von bestimmtem Ort aus perspektivisch-
räumlich zeigt — zur höchsten Stufe, die als form-
gemässe Darstellung angesprochen wird. Gegen
diese Einteilung kann m. E. nichts eingewendet
werden, obwohl in der Praxis häufig formge-
mässes und erscheinungsgemässes Sehen in ein-
ander übergeht. Jedoch ich halte die Wahl von
diesen zwei Bezeichnungen nicht für unbedingt
glücklich. — In der Geschichte der bildenden
Knust pflegen die Neuerer Interpreten der Er-
scheinung genannt zu werden (oder sie nennen
sich selbst so) gegenüber den Aelteren, den Dar-
stellern der Eorm. Wobei Form und Erscheinung
natürlich anders aufgefasst werden, als es K. tut.
Von K.s wichtigsten Feststellungen seien hier
einige genannt (S. 486—7): „Die Differenz der
graphischen Ausdrucksfähigkeit ist bei Kindern
gleichen Geschlechts bis zum achten Jahr gering;
sie nimmt dann bis zum vierzehnten bedeutend
zu.“ — „Das formgemässe, perspektivische Sehen
beginnt bei Knaben mit dem siebenten, bei Mäd-
chen mit dem neunten Jahre; es entwickelt sich
bei Knaben häufiger und rascher als bei Mädchen.“
„Ueberhaupt ist der Knabe für den graphischen
Ausdruck der Gesichtsvorstellungen begabter“;

„das Mädchen früher und vielleicht stärker für
rhythmische, dekorative Flächenkunst.“ — „Deko-
rativer Sinn wird durch Pinseltechnik (Flächen-
technik) sehr viel mehr gefördert als durch Blei-
und Federzeichnung (Linienkunst)“. — K. unter-
scheidet „Vorstellungsbegabung“ und Gedächtnis-
begabung ; nur erstere lässt eine künstlerische Ent-
wicklung erwarten. — „Sehr grosse Begabung für
graphischen Ausdruck ist bei den Kindern regel-
mässig mit guter intellektueller Begabung ver-
bunden. Doch ist der Satz nicht umkehrbar“.
Genug der Proben. Sie sollen unsere Leser
anregen zum eignen Studium der „Kinderzeich-
nungen“. Ihre hohe Bedeutung konnte hier nur
angedeutet werden.
Frida Schottmüller
G. A. O. Collischonn: Der erzieherische Wert
der Kunst. Heidelberg 1906, Carl Winters
Universitätsbnchhandlung. VII. 99 S.
SamueiBoth und VictorRoth: Wege zur Kunst.
Sieben Vorträge zur künstlerischen Er-
ziehung in der Volksschule. Herrmann-
stadt, Verlag von W. Krafft. 1906. IV. 63 S.
Zwei kleine Schriften zum Thema: „Kunster-
ziehung“. Aber wie verschieden fassen die Autoren
den Begriff der Erziehung! Bei Collischonn handelt
es sich um Fragen einer ästhetischen Erziehung
des Menschengeschlechtes im Sinne Schillers; die
beiden Schullehrer meinen naturgemäss eine Er-
ziehung zur Kunst und durch Kunst im Rahmen
des Schulunterrichtes. In C.’s Buch stehen keine
Erkenntnis-, sondern Glaubensfragen zur Diskussion.
Glaubensfragen insofern, als es sich im letzten
Grund um die Auseinandersetzung einer mehr
ethisch gerichteten mit einer rein ästhetischen
Weltanschauung handelt. Der alte Streit zwischen
Gehalts- und Formästhetikern lebt heutzutage
wieder auf. Dort wird die Kunstgeschichte zur
Kulturgeschichte und hier zur Psychologie. Wer
im Kunstwerk in erster Linie die Spiegelung der
„Weltanschauung des Künstlers“, im Kunstgenuss
„die Entwicklung der affektiven Energien desKunst-
werkes auf die Seele des Beschauers“ und in ästhe-
tischen Problemen „Erziehungs- und Kulturpro-
bleme“ zu erkennen glaubt, mag Kunst und Künstler
von einer höheren Warte sehen, als der andere,
für den das Kunstwerk vor allem ein Werk
künstlerischer Intentionen ist, der aber deshalb
auch der Kunst um soviel sinnlich näher, als jener
im Unsinnlichen über ihr steht. Zwischen beiden
Anschauungen muss man wählen. C. steht auf
der Seite einer ethisch-philosophischen Wertung
der Kunst, und schon seine Kapitelüberschriften
geben den Gang der temperamentvoll und stets vor-
 
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