Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Monatshefte der kunstwissenschaftlichen Literatur — 3.1907

DOI issue:
Zehntes/Elftes Heft (Oktober/November 1907)
DOI article:
Waetzoldt, Wilhelm: [Rezension von: Karl Simon, Seitenansicht und Vorderansicht]
DOI article:
Burger, Fritz: [Rezension von: Weizsaecker, Semrau, Warburg (u.a.), Kunstwissenschaftliche Beiträge]
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.49882#0239

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Okt./Nov.-Heft. Monatshefte der kunstwissenschaftlichen Literatur.

209

Es kann Vorkommen, dass ein Porträtist auf die
Wiedergabe seines Modells von der Seite, die im
Leben als die sprechendste empfunden wird, ver-
zichten muss, weil sie sein Bildnis als Bild un-
möglich machen würde. — Ein einzelnes Porträt
wird nicht stets „einer höheren Einheit erst durch
ein zweites, ihm entgegengesetztes einverleibt“.
Die Senkung des Blickes hebt jede Beziehung zu
einem ausserhalb des Bildraumes befindlichen
dritten auf, lässt den Profilkopf ganz „für sich“
erscheinen. Ich denke beispielsweise an den schönen
Kopf eines Mädchens aus der Schule von Urbino
im Museo nazionale in Florenz. — Für die Ent-
stehungsgeschichte des Profilporträts in Frankreich
ist auf den Einfluss der italienischen Malerei im
14. Jahrhundert hinzuweisen, wie dies Karl Westen-
dorp in seinen „Anfängen dei’ französisch-nieder-
ländischen Porträttafel“ (Köln 1906) getan hat. —
Psychologisch sehr interessant ist schliesslich die
grundverschiedene Rolle, die Vorder- und Seiten-
ansicht in der Menschen dar Stellung der Kinder
und der primitiven Völker spielen. Für meine
„Kunst des Porträts“, in der ich auch diese Fragen
eingehender behandelt habe, konnte ich Simon’s
interessanten Aufsatz leider nicht mehr verwerten.
Wilhelm Waetzoldt
o
Verschiedenes.
Kunstwissenschaftliche Beiträge, August
Schmarsow gewidmet zum fünfzigsten Semester
seiner akademischen Lehrtätigkeit von Weiz-
saecker, Semrau, Warburg, Kautzsch, Wulff,
Schubring, J. v. Schmidt, Simon, Graf Vitzthum,
Niemeyer, Pinder. Leipzig 1907, Hiersemann.
In vorliegender Festgabe wird man weniger
eine Gelegenheitsschrift als ein wissenschaftliches
Denkmal zu erkennen haben, das den Jubilar nicht
minder ehrt als die stattliche Schar seiner Schüler,
die sich hier in ernster Arbeit vereinigt haben.
Die Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen
beginnt mit einem Aufsatz Oscar Wulffs über
„Die umgekehrte Perspektive und die Niedersicht,
eine Raumanschauungsform der altbyzantinischen
Kunst und ihre Fortbildung in der Renaissance“,
eine Abhandlung, die ihrer feinen künstlerischen
Beobachtungen ebensosehr wie der literarischen
Formulierungen der Gedanken wegen besonders
verdient, den Reigen zu eröffnen. W. liefert hier
einen interessanten Beitrag zur Psychologie mittel-
alterlicher Raumauffassung. Ob freilich die hier
analysierte Entstehung der umgekehrten Perspek-

tive, die zweifellos im Trecento in Italien
noch nachlebt, sich in einer kontinuierlichen Ent-
wicklung und langsamen Umbildung in die Re-
naissance hinein fortsetzt, dafür scheint mir der
Beweis nicht erbracht.
Wulff geht von der Beobachtung aus, dass die
dimensionale Betonung der im Mittel- oder Hinter-
gründe befindlichen zum Teil in Aufsicht gegebenen
Figuren in frühmittelalterlichen Werken der bil-
denden Kunst nicht ohne weiteres aus den Prin-
zipien naiver Darstellungsweise zu erklären ist,
dass vielmehr diese Raumbildung, die das perspek-
tivische Prinzip gleichsam auf den Kopf stellt, auf
entwicklungsgeschichtlichem Wege zu erklären ist.
Unter Schilderung der Genesis antiker Relief-
kunst und ihrer Bedeutung für die Landschafts-
malerei führt uns Wulff das Prinzip in seiner ge-
schichtlichen Entwicklung besonders im Orient vor
Augen, wobei er im wesentlichen auf den For-
schungen Kailabs und Delbrücks fusst. Die male-
risch-illusionistischen Tendenzen hellenistischer
Raumdarstellung erscheinen durch die Spätantike
und dann die altchristliche Kunst in vertikaler
Projection auf der Bildebene, wodurch das Hinter-
einander in ein Uebereinander nach dem uralten
naiven Prinzipe senkrechter Staffelung sich ver-
wandelt. Die im Hintergründe oder Mittelgründe
stehende Hauptfigur wird nun nach oben gerückt
und von ihr aus gleichsam das Relief räumlich
orientiert, so dass an Stelle des realen optischen
ein irrationaler ästhetischer Blickpunkt getreten ist.
Diese mehr psychologische als formale Erklärung
der Raumdarstellung erscheint besonders angesichts
der Miniatur aus dem Vergilcodex der Vaticana
glaubhaft, doch wird man sich wohl hüten müssen,
diese psychologische Erklärung generell zu akzep-
tieren. In Italien wird dies Prinzip nun über-
nommen und die Szene aus der Legende der hei-
ligen Magdalene in der Unterkirche in San Fran-
cesco zu Assisi ist wohl das eklatanteste Beispiel
hierfür. Hier wäre wohl auch auf die Kanzel-
reliefs Niccolö Pisanos im Baptisterium in Pisa
hinzuweisen, der nach denselben Prinzipien wie die
Wiener Genesis das Figürliche im Raume gruppiert.
Nunmehr dasselbe Gesetz in neuer Formu-
lierung in denjenigen Szenen dei' Früh- und
schliesslich Hochrenaissance wieder erkennen zu
wollen, in denen eine Niedersicht der Landschaft
von dargestellten Figuren aus versucht wird,
scheint mir um dessentwillen nicht anzugehen,
weil es sich hier doch bei den von W. angeführten
Bildern um Szenen handelt, die sich hoch in der
Luft abspielen und man durch die Niedersicht der
Landschaft, die keine reale Beziehung zur Bild-
ebene hat, doch auf eine illusionäre Raumwirkung
 
Annotationen