Stück Natur erkennt — son-
dern daß jeder einzelne sich
darin achtet und behütet.
Wenn cin solcher Kerl nackt
aus der Straße herumliefe,
so wäre das Argernis nicht
dies, daß wir ihn sahen,
sondern daß er selber schnm-
los ware. Wie aber solch
ein Bildhauerwerk, das keine
Persönlichkeit, sondern nur
ein Stück Stein ist, diese
Schamhaftigkeit aufbringen
soll, ist schwer verständlich.
Einen nacktcn wie einen
bekleideten Stein gibt es
nicht — oder möchte einer
diesem Steinbild etwa ein
paar Leinenhosen anziehn?
— er trägt die Formen, in
der sein Künstler ihn gebil-
det hat; und etwa dem eine
Schamlosigkeit daraus abzu-
leiten, daß er ihn so bildete:
das eben ist der llbergriff,
den die bildende Kunst als
Prüderie zurückweisen muß.
Jhre Welt ist die Form
der Dinge und Wesen, und
solange künstlerische Hände ani
Bilden sind, hat der menschliche
Körper als höchster Gegenstand
gegolten, wohlgemerkt: der Kör-
per, nicht die Tracht. Wenn
etwa auf dem Reformations-
denkmal in Stuttgart (Abb. 6)
der gleiche Künstler die Gestal-
ten der Reformatoren hinstellen
wollte und er gäbe sie nackt:
so wäre das natürlich eine Ge-
schmacklosigkeit; denn mehr oder
weniger handelte es sich dann
um Portrats, d. h. um die Dar-
stellung von Persönlichkeiten,
und da sie nicht nackt gingcn,
sondern bckleidet waren und mit
ihrer Tracht in die Vorstellungs-
welt eingegangen sind, darf auch
der Künstler sie nicht entklei-
den, ohne ihnen persönlich eine
Schamlosigkeit zu unterlegen,
dercn sie nicht fahig waren. Die
Sache aber wird sosort anders,
wenn es sich um sogenannte
Jdealfiguren, um allegorische
Darstellungen usw. handelt: Da
hier die Persönlichkeit wegfällt,
vielmehr eine unpersönliche Er-
scheinung gegeben werden soll,
kann sic sich durch keinerlei Ent-
blößung von sich aus einer
Schamlosigkeit im Sinn un-
serer Anschauungcn schuldig
machen; weshalb dcnn auch
unsere bildenden Künstlcr,
dem natürlichen Gefühl fol-
gend, zur Darstellung des
„nackten" menschlichen Kör-
pers Jdealfiguren wählen.
llm eine Jdealfigur, nicht
um den Sennhirten Jakob
Hammelmeier aus Schwyz
handelt es sich hier, und
darum ist jeder derartige
Einspruch ein Übergriff, eine
Prüderie, die mitnatürlicher
Schamhaftigkeit nichts zu
tun hat.
I. Brüllmann, der den
Aürchern den Geiserbrunnen,
gemeinsam mit dem Archi-
tekten Freytag bildete, ist
ein in Fachkreisen längst
geschätzter Bildhauer, der
als geborener Schweizer in
Stuttgart lebt. Seine Art,
die aus den andern Abbil-
dungen ziemlich deutlich
sichtbar wird, kommt der
Lösung solcher Aufgaben
durch die deutliche Stilisierung
günstig entgegen. Denn auch
das noch sei „im Jnteresse der
öffentlichen Schamhaftigkeit" zu-
gegeben: ein naturalistisch nach-
gebildeter Akt an dieser Stelle
würde immerhin nicht so ganz
unbedenklich sein, weil er durch
die naturalistische Durchbildung
einem empfindlichen Gefühl als
Porträt, als ein Jndividuum
vorkommen könnte, das sich
unnötig auf eincm öffentlichen
Platz entkleidet hat; während
die deutliche Stilisierung ihn für
jedes Auge als Jdealfigur dieser
Auffassung entrückt.
Daß auch rein künstlerisch
diese Stilisierung wohltätig wirkt,
hat damit natürlich direkt nichts
zu tun. Sie erst erwirkt den
überzeugenden Einklang mit der
Architektur, der dieses Brunnen-
bildwerk vor vielen andern aus-
zeichnet. Wer den Turner in
den Zürcher Seeanlagen kennt,
hat ein Gegenbeispiel dazu, wie
unmöglich ein in Bronze ge-
gossenerNaturalismus auf einem
Steinpostament steht.
Seitdem unsere Bildhauer-
kunst erfreulich aus der akade-
Abb. 3' I. Brüllmann: Kindergruppe (Sandstein).
Abb. 4. I. Brüllmann: Brunnenbekrönung.
(Aufnahmc nach dem Modell. Das Original im Besitz
des Herrn A. Farmer, Langenthal.)
Bronze, Architektur: Treuchtlinger Marmor.)
-l
dern daß jeder einzelne sich
darin achtet und behütet.
Wenn cin solcher Kerl nackt
aus der Straße herumliefe,
so wäre das Argernis nicht
dies, daß wir ihn sahen,
sondern daß er selber schnm-
los ware. Wie aber solch
ein Bildhauerwerk, das keine
Persönlichkeit, sondern nur
ein Stück Stein ist, diese
Schamhaftigkeit aufbringen
soll, ist schwer verständlich.
Einen nacktcn wie einen
bekleideten Stein gibt es
nicht — oder möchte einer
diesem Steinbild etwa ein
paar Leinenhosen anziehn?
— er trägt die Formen, in
der sein Künstler ihn gebil-
det hat; und etwa dem eine
Schamlosigkeit daraus abzu-
leiten, daß er ihn so bildete:
das eben ist der llbergriff,
den die bildende Kunst als
Prüderie zurückweisen muß.
Jhre Welt ist die Form
der Dinge und Wesen, und
solange künstlerische Hände ani
Bilden sind, hat der menschliche
Körper als höchster Gegenstand
gegolten, wohlgemerkt: der Kör-
per, nicht die Tracht. Wenn
etwa auf dem Reformations-
denkmal in Stuttgart (Abb. 6)
der gleiche Künstler die Gestal-
ten der Reformatoren hinstellen
wollte und er gäbe sie nackt:
so wäre das natürlich eine Ge-
schmacklosigkeit; denn mehr oder
weniger handelte es sich dann
um Portrats, d. h. um die Dar-
stellung von Persönlichkeiten,
und da sie nicht nackt gingcn,
sondern bckleidet waren und mit
ihrer Tracht in die Vorstellungs-
welt eingegangen sind, darf auch
der Künstler sie nicht entklei-
den, ohne ihnen persönlich eine
Schamlosigkeit zu unterlegen,
dercn sie nicht fahig waren. Die
Sache aber wird sosort anders,
wenn es sich um sogenannte
Jdealfiguren, um allegorische
Darstellungen usw. handelt: Da
hier die Persönlichkeit wegfällt,
vielmehr eine unpersönliche Er-
scheinung gegeben werden soll,
kann sic sich durch keinerlei Ent-
blößung von sich aus einer
Schamlosigkeit im Sinn un-
serer Anschauungcn schuldig
machen; weshalb dcnn auch
unsere bildenden Künstlcr,
dem natürlichen Gefühl fol-
gend, zur Darstellung des
„nackten" menschlichen Kör-
pers Jdealfiguren wählen.
llm eine Jdealfigur, nicht
um den Sennhirten Jakob
Hammelmeier aus Schwyz
handelt es sich hier, und
darum ist jeder derartige
Einspruch ein Übergriff, eine
Prüderie, die mitnatürlicher
Schamhaftigkeit nichts zu
tun hat.
I. Brüllmann, der den
Aürchern den Geiserbrunnen,
gemeinsam mit dem Archi-
tekten Freytag bildete, ist
ein in Fachkreisen längst
geschätzter Bildhauer, der
als geborener Schweizer in
Stuttgart lebt. Seine Art,
die aus den andern Abbil-
dungen ziemlich deutlich
sichtbar wird, kommt der
Lösung solcher Aufgaben
durch die deutliche Stilisierung
günstig entgegen. Denn auch
das noch sei „im Jnteresse der
öffentlichen Schamhaftigkeit" zu-
gegeben: ein naturalistisch nach-
gebildeter Akt an dieser Stelle
würde immerhin nicht so ganz
unbedenklich sein, weil er durch
die naturalistische Durchbildung
einem empfindlichen Gefühl als
Porträt, als ein Jndividuum
vorkommen könnte, das sich
unnötig auf eincm öffentlichen
Platz entkleidet hat; während
die deutliche Stilisierung ihn für
jedes Auge als Jdealfigur dieser
Auffassung entrückt.
Daß auch rein künstlerisch
diese Stilisierung wohltätig wirkt,
hat damit natürlich direkt nichts
zu tun. Sie erst erwirkt den
überzeugenden Einklang mit der
Architektur, der dieses Brunnen-
bildwerk vor vielen andern aus-
zeichnet. Wer den Turner in
den Zürcher Seeanlagen kennt,
hat ein Gegenbeispiel dazu, wie
unmöglich ein in Bronze ge-
gossenerNaturalismus auf einem
Steinpostament steht.
Seitdem unsere Bildhauer-
kunst erfreulich aus der akade-
Abb. 3' I. Brüllmann: Kindergruppe (Sandstein).
Abb. 4. I. Brüllmann: Brunnenbekrönung.
(Aufnahmc nach dem Modell. Das Original im Besitz
des Herrn A. Farmer, Langenthal.)
Bronze, Architektur: Treuchtlinger Marmor.)
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