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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 22.1912

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Heft 7
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Schmidtbonn, Wilhelm: Zwei Gedichte
DOI Artikel:
Halm, August Otto: Über die Variation, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.26494#0269

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Über die Variation.

sondern rot, hart,

den Winter durch hängt,

im weißen Schnee,

an eure Aste geklammert,

bis dann — der Frühling nicht,

der frühe Sommer erst

seine lebendigen Säfte treibt,

und ihr den Weg des natürlichen Todes

alles dessen, das lebt,

nachgebend nicht,

trotzig nur, kämpfend nur,

geht, gehn müßt.

ber die Vanation.

Variation heißt Veränderung. Thema heißt das
Gesetzte, der Satz; und zwar der Satz, welcher
den leitenden Gedanken enthält, also etwa die Uberschrift
einer Abhandlung, eines Aufsatzes; ein musikalisches
Thema ist der musikalische Gedanke, die Formel, welche
das Musikstück beherrscht und ihm auch meistens voran-
gestellt wird. Ein Thema mit Variationen bedeutet ein
musikalisches Gebilde, welches sich in mancherlei Formen
verändert darstellt. Ein solches Variationenwerk ist der
erste Satz der ^.s-äur-Sonate; zu Anfang steht, als das
„Thema", die liedartige Melodie, ihr folgen die „Varia-
tionen". Beethoven hat sowohl die Variationenform
innerhalb größerer, mehrsätziger Kompositionen, so in
dieser Sonate für den ersten Satz, vorher in der O-äur-
Sonate ox>. 14, für den Mittelsatz benützt, als auch solche
Variationenwerke geschrieben, welche für sich stehen.

Man könnte fragen: ist eine veränderte Forni nicht
cben eine andere Form, ist also eine Variation
nicht ein anderes, ein neues Musikstück? Die Frage ist
ja aus der Erfahrung heraus leicht zu verneinen, jedoch
folgt daraus, was nicht so leicht und ohne weiteres be-
greiflich ist, daß ein Tonstück dem Wert nach verschiedene
Bestandteile, daß es Wesentliches und weniger Wesent-
liches enthalt.

Der Mediziner unterscheidet bei cinem Mittel, etwa
einer Pille, die „Basis" und das „Corrigens", d. h. das
was die Ausammensetzung der wichtigen und wirksamen
Bestandteile bildet, und das was den Geschmack korrigiert,
das Mittel genießbar macht; das Wesentliche ist offenbar
die Basis, das Unwesentliche das Corrigens; das letztere
darf also unbeschadet der Wesenheit geändert werden.
Mit einiger Vorsicht können wir dieses Bild heran-
ziehen zur Erklärung dasür, wie zwischen zwei verschieden
gestalteten Stücken eine musikalische Beziehung, wie in
beiden dieselbe musikalische Wesenheit erhalten bleibt.

Eine Melodie wird häufig mit einer Linie verglichen.
Das Aufwärts- oder Abwärtsgehen der Töne erweckt
die naheliegende räumliche Vorstellung; man spricht
von dem Schwung, den Kurven einer melodischen Linie.
Nun kann eine Linie wie auch eine Melodie „verziert"
werden, indem dieEinzelheiten sich beleben und bereichern,
während das Ganze, die hauptsächlichen Richtungen der
Linie unverändert bleiben. Die Verzierungen sind das
„Corrigens", sie machen die Melodie reizvoller, ge-
schmeidiger, angenehmer. „Ues u§remeuts" nannte

u//

man deshalb solche Formen, welche der Verzierung
dienten. Jn der dritten englischen Suite (O-moll) läßt
Bach der Sarabande noch eine Variation derselben
folgen, und gibt dieser den Titel: les ugremsnts cle lu
meme ZLrg.da.ucle d. h. die Melodie der Sarabande mit
LAremeuts, mit Verzierungen geschmückt. Wir finden
hier fürs erste einzelne Töne mit Verzierungen versehen,
d. h. statt des einfachen und ruhenden Tons einen be-
wegten, schwankenden, wodurch die Hauptformen der
Verzierungen, der Vorschlag, der Doppelschlag und
Triller, die eigentlichen g.Aremeuts oder „Manieren"
entstehen; sodann sehen wir eine Tonfolge ausge-
schmückt, einen größeren, langsamen Jntervallschritt
durch schnellere Gänge durch kleinere, untergeordnete
Notenwerte verbunden und ausgefüllt. Jn beiden
Fällen treten an Stelle einer oder mehrerer Noten von
längerer Dauer mehrere oder eine Reihe von kürzeren
Noten, ein Notenwert wird in mehrere oder viele kleinere
aufgelöst. Jm 16. und 17. Jahrhundert war das der
Zweck und Jnhalt einer ausgedehnten Kunstübung, nmn
nannte es: Diminuieren („Vermindern", nämlich der
Notenwerte). Diese Kunstfertigkeit wurde besonders
von den Sängern gepflegt und in ihren Schulen über-
liefert, vom Gesang aus ging sie in das Spiel auf musika-
lischen Jnstrumenten über.

Was wir heute an „Manieren" hören, z. B. den
Triller, den Doppelschlag, oder überhaupt an gebräuch-
lichen Gangen ist zuni größten Teil eine Auslese aus deni
Vielen dieser Art, welches in einer langen Arbeit ge-
wonnen und erobert wurde. Heute scheinen uns solche
Figuren das Selbstverständliche zu sein, sie sind das wohl
auch: aber ihrBesitzist darum durchaus nicht selbst-
verständlich. Was sich bei der Ausbildung der Sprache
an logischen Beziehungen in den syntaktischen Formen
der Grammatik festgelegt hat, sind überlieferte, dem Ge-
brauch anbequemte Denkprozesse. Täglich benützt man
sie beim Sprechen, Lesen und Schreiben, selten nur
bedenkt einer, wie auch dieses ein schwer erworbener
Gewinn, das Resultat einer großen Arbeit ist. Das
Richtige, welches seiner Aufgabe am besten dient, scheint
uns oft das Natürlichste zu sein, wenn wir es in der Hand
haben. Um aber zu dem Natürlichen solcher Art zu ge-
langen, hat die Menschheit oft einen weiten und be-
schwerlichen Weg, vielfach auch lange Umwege machen
müssen. Gerade das Natürliche, das Aweckmäßige und
Selbstverständliche will erst entdeckt, erarbeitet werden,
das Gezwungene, Unnatürliche und Unvollkommene
bietet sich von selbst dar. Die Ordnung ist nicht in der
Natur, sie wird durch den Geist mit Mühe gesunden.

Das Diniinuieren, die Veränderung einer Melodie
durch Ausschmückung ist eine Art der Variation; es gibt
noch andere, da ja die Musik nicht nur aus Melodie,
sondern auch aus Harmonie und Rhythmus besteht.
Jeden dieser Bestandteile kann die Veränderung treffen,
auch zwei oder vielleicht gar alle drei zusammen, letzteres
freilich nur bei Anwendung großer Vorsicht; denn,
soviel Freiheit dem Phantasiespiel zuerkannt werden
möge: der einen Forderung muß sich dieses immer fügen,
daß namlich das Thema, das Urbild, durch die Verände-
rung hindurch noch zu erkennen bleibe. Die Veränderung
muß noch als Veränderung empfunden werden können,
sie darf nicht als etwas ganz Neues wirken, ihre Her-

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