Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutsche Gesellschaft für Christliche Kunst [Editor]
Die christliche Kunst: Monatsschrift für alle Gebiete der christlichen Kunst u. der Kunstwissenschaft sowie für das gesamte Kunstleben — 21.1924/​1925

DOI article:
Lill, Georg: Das Problem der Christlichen Kunst
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.53139#0094

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
DAS PROBLEM DER CHRISTLICHEN KUNST

7o

seine Mauern selbst gebaut, sondern auch
von außen her wurde ein Wall gezogen.
Der Realismus und Naturalismus fand selbst
keinen Weg zur Monumentalität einer reli-
giös-christlichen Kunst. Wie konnte sich
ein überbetonter Individualismus an eine
liturgische Vorschrift, an einen dogmati-
schen Inhalt binden? Was wollte eine Kunst,
der das ,wie‘ alles, das ,was‘ gar nichts galt,
in der Kirche, wo das Sein alles, die bloße
Erscheinung nichts bedeutet! Dazu noch
die skeptische Verachtung des Kirchlich-
Religiösen überhaupt, die sich in weiten
Kreisen der Künstlerschaft bis zur lasziven
Verhöhnung und bis zur absichtlichen Über-
spitzung des Erotisch-Sinnlichen steigerte.
Trotzdem — all das wäre sicher auch im
19. Jahrhundert zu überwinden gewesen,
wenn nicht die wesentlichste Vorbedingung
einer religiösen Kunst gefehlt hätte : die
Tiefe der religiösen Erfassung. Keine große
religiöse Welle ist seit dem 16./17. Jahrhun-
dert, der Zeit der Gegenreformation, mehr
über die christliche Weit gelaufen. Und was
gerade diese ungeheuren periodischen Er-
schütterungen, die mit elementarer Wucht
sämtliche Kreise der Bevölkerung, hoch wie
nieder, erfaßten und den sterilen Boden auf-
lockerten, für die religiös-christliche Kunst
bedeuteten, ist uns erst rein wissenschaft-
lich-kritisch in den letzten Jahrzehnten klar
geworden: der Katakombengeist für das
Entstehen der Basilika, die Cluniazenser-
reform für die romanische Kunst, die Kreuz-
zugsbewegung für die gotische Kathedrale,
die seraphische Erneuerung des hl. Fran-
ziskus für die italienische Renaissance, die
Mystik für die deutsche Gotik, die innere
Reform der Kirche und der Geist des
hl. Ignatius für die Barockkunst. Jede große
Bewegung gebiert einen neu geformten Dom
der Andacht. Wo ist der neue Dom des
19. Jahrhunderts? Man darf allein aus dem
Fehlen dieses neuen Doms auf eine Schwäche
des religiösen Lebens schließen. Manche
werden die romantische Bewegung des be-
ginnenden 19. Jahrhunderts entgegenhalten.
Aber gerade bei einer eingehenderen Unter-
suchung dieser für die Neuzeit wichtigsten
geistig-religiösen Bewegung wird sich die
Tatsache ergeben, daß der Bewegung die
Intensität und der Umfang abgeht, wie sie
etwa die früheren Erneuerungszeiten hatten.
Ein Teil der religiösen Bewegung, beson-
ders in gläubig-protestantischen Kreisen,
bog sich nur zu bald in rein national-poli-
tische Ziele um, ein anderer, mehr im katho-
lischen Gebiet, beschränkte sich wesentlich

auf literarische und theologische Zirkel.
Gewiß sickert von ihnen eine Erneuerung
auch der breiteren Schichten der Gebilde-
ten, Bürger und Bauern durch. Aber wer
etwa noch traditionelle Verbindungen boden-
ständiger Familien verfolgen kann, wird aus
der damaligen Generation die rationalisti-
sche Kühle, ein Erbteil der vorangehenden
Periode, herausfühlen, die schließlich doch
nur eine korrekt bürgerlich-sittliche Anstän-
digkeit als wesentlich betont, dagegen jede
Glut der Erneuerung — und nur daraus
kann schließlich die letzte Blüte treiben —
als ungehörigen Überschwang ablehnt. Diese
korrekte Zurückhaltung spricht sich in der
ganzen Geistigkeit der biedermeierlichen
Periode aus und kann ganz deutlich in Por-
träts und Kunstwerken der zwanziger bis
vierziger Jahre erschlossen werden.
So fehlten der christlichen Kunst des
19. Jahrhunderts die inneren wie die äuße-
ren Voraussetzungen eines wirklichen Hoch-
standes. Aber durch den — in der zweiten
Hälfte des Jahrhunderts fast völligen — Ab-
schluß von der lebendigen profanen Kunst
trat eine Inzucht ein, die zur völligen Qua-
litätslosigkeit führen mußte, um so mehr,
als auch im sonstigen geistigen Leben des
katholischen Volksteils diese Qualitätslosig-
keit, ja überhaupt der geradezu mangelnde
Instinkt für Qualität, erschreckend über-
hand nahm. Ich verweise nur auf analoge
Klagen in bezug auf Literatur und Wissen-
schaft. Das ständige Abströmen der gebil-
deten und besser situierten Schichten ins
liberale, libertinistische und freigeistige La-
ger entfernte gewiß die für eine andere Ein-
stellung wichtigsten Träger, andere robu-
stere, aber auch weniger reizsame traten an
ihre Stelle. Dazu kam die mechanisch-ma-
terielle, industrielle Zeitanschauung, auch
die rein naturwissenschaftliche, experimen-
telle Geislesrichtung, die auch die breitesten
Massen nur auf eine äußerliche Richtigkeit,
auf die Photographentreue züchtete, aber
den seelischen Ausdruck und seine nicht
meßbare Form negierte. Trotz alledem bleibt
es unverständlich, wie auch in sehr weiten
Kreisen maßgebender katholischer Geist-
licher jedes Gefühl für Qualität, das heißt
für innere Kostbarkeit, Echtheit und Wahr-
heit völlig ersterben konnte, wo doch ge-
rade die katholische Kirche mit einem wun-
derbaren Verständnis für tiefe Symbolik und
Naturverwachsenheit nur das in jeder Be-
ziehung Wertvollste um die Geheimnisse
des Altares duldet, wo sie mit den ge-
nauesten Vorschriften nicht nur über Gold
 
Annotationen