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Heidelberger Volksblatt (70) — 1935 (Nr. 150-228)

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Nr. 221 - Nr. 228 (21. September - 30. September)
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Wissenschaft im- Kunst / Aus -er Welt -er Frau / Sie Lekestun-e

Pfälzer Bote

Samstag, 28. September 1SZS

70. Jahrgang / Ar. 227

Das Memelproblem

Weiter kommen Meldungen von zahlreichen
Verhaftungen aus Wahlversammlungen heraus.
Den Memelländern wird die Verteilung von
Flugblättern verboten.

Glue französische Stil
AndleAbreffe -esVSlkerbunbes
DNB. Paris, 27. Sept.
Der französische Senator Lemery schreibt
in der „Tribüne des Nations" über das
Memelproblem. Es sei bedauerlich, daß der
Völkerbund durch den italienisch-abessinischen
Streitfall so sehr in Anspruch genommen sei,
daß er der Memelfrage nicht die notwendige
Aufmerksamkeit widmen könne. Hier hätte der
Völkerbund einmal Gelegenheit, eine Probe
seiner Nützlichkeit abzulegen.
Lemery gibt zu, daß die französische öffent-
liche Meinung, ja sogar die Weltmeinung das
Memelproblem sehr schlecht kenne. Man sehe
dieses Problem nur unter dem rechtlichen Ge-

me der Gerechtigkeit
dem ganzen Gebiet kommen Meldungen von
Uebergriffen gegen deutschgesinnte Memelländer.
Aus dem Ort Plicken wird gemeldet, daß dort
bei einer Wahlversammlung die litauische Poli-
zei eine Anzahl von unschuldig verhafteten
Memelländern mit dem Gummiknüppel bear-
beitet und mit einem Auto in das Zuchthaus
Bajohen geschleppt hat. Ein Arbeiter wurde
blutig geschlagen und mit Füßen getreten.
Aehnlich benahmen sich die litauischen Grenz-
polizisten in dem Ort Erabsten. Dort erschien
ein litauischer Polizeibeamter bei einer Fami-
lie Köhler und verprügelte die Tochter, schlug
sie zu Boden und brachte ihr blutige Verletzun-
gen bei. Frau Köhler wurde von einem ande-
ren Polizeibeamten mit Erschießen bedroht.

Neue Beschwerde der Mehrheit des früheren
Memellandtages
Genf, 27. Sept.
Der Stellvertreter der Mehrheit des frühe-
ren Memelländischen Landtages hat den Ver-
tretern der Signatarmächte eine neue Be-
schwerde überreicht, in der nachgewiesen wird,
daß die Statutwidrigkeit des litauischen Vor-
gehens nicht nur in dem neuen Wahlgesetz, son-
dern auch vor allem in den dazu ergangenen
Ausfiihrungsbestimmungen und den Anord-
nungen der Wahlkreiskommission liegt. Die
öffentliche Kontrolle werde ausgeschaltet und
ein System der Willkür organisiert. Der Be-
schwerde sind Schriftstücke und Wahlproteste bei-
gefügt.

Sorgen der Vereinigten Staaten
Die amerikanische Neutralitätspolitik vor schwierigen Fragen

sichtswinkel an, also biete sich hier eine ausge-
zeichnete Gelegenheit, diesen Fall in voller Ob-
jektivität zu behandeln und so die schweren Ver-
wicklungen zu vermeiden, die notwendigerweise
daraus folgen müßten, wenn man das Memel-
problem weiterhin vernachlässigen würde. Der
Fall Memel habe große Aehnlichkeit
mit dem Fall Danzig. Das Memelstatut sei
von England, Frankreich, Italien und Japan
ausgearbeitet worden. Diese Großmächte hätten
auch die Garantie dafür übernommen. Diese
Regelung sei international und nach der Ab-
sicht ihrer Urheber endgültig gewesen. Litauen
habe dagegen diese Regelung nur als vorläufig
betrachtet.
Durch einen Eesetzeserlaß vom 13. Mai 1935
habe sich Litauen das Recht genommen, die Be-
stimmungen des Statuts selbständig auszulegen.
Sein Ziel sei gewesen, das Memelgebiet seinen
anderen Provinzen anzugleichen und somit sich
die vollständige Oberhoheit auch über dieses Ge-
biet zu sichern.
Lemery betont weiter, daß die Mehrheit
derBevölkerungdeutschsei und daß die
Earantiemächte diese Tatsache nicht übergehen
könnten.
Das augenblickliche Direktorium habe gegen
alle Beschlüsse des Landtags Einspruch erhoben
und somit die gesetzgebende Arbeit völlig lahm-

DNV Washington, 27. Sept.
Politische und wirtschaftliche Kreise Amerikas
beschäftigen sich eingehend mit dem abessini-
schen Konflikt. Mit starker Sorge wird
die Frage der Möglichkeit eines bewaffneten
Zusammenstoßes zwischen England und Italien
geprüft, die besonders heikel wäre, wenn dieser
Fall eintreten sollte bevor sich Italien mit
Abessinien im Kriegszustand befindet. Präsi-
dent Roosevelt könnte dann vor die Entscheidung
gestellt werden, aufgrund des Neutrali-
tätsgesetzes die Ausfuhr von Kriegsmate-
rial nach England und anderen kriegführenden
Ländern zu sperren. Dies würde den amerika-
nischen Ausfuhrinteressen nicht entsprechen. Der-
artige Maßnahmen würden sich aber schwer mit
den traditionell freundschaftlichen Be-
ziehungen zu England in Einklang bringen
lassen.
Falls der Völkerbund Italien von jeder Zu-
fuhr absperren sollte, würde auch die Ausfuhr
von Gütern die nicht Kriegsmaterial darstellen,

unmöglich werden. Dies würde das Recht der
Vereinigten Staaten auf „Freiheit der
Meere" berühren und außerdem dem ameri-
kanischen Ausfuhrhandel einen Verlust von
monatlich durchschnittlich fünf Millionen Dol-
lar zusügen.
Es muß andererseits jedoch berücksichtigt wer-
den, daß der politische Druck gegen jeg-
liche Verwicklung in europäische
Fragen in den Staaten des Mittelwestens
und Westens so stark ist, daß der Staatssekretär
für Handel sogar in Erwägung zieht, außer
eigentlichem Kriegsmaterial auch die für die
Zwecke der Kriegführung wesentlichsten Roh-
stoffe wie Kupfer, Petroleum, Eisen, Stahl und
Baumwolle auf die Liste der kon'zessionspflich-
tigen Ausfuhrwaren zu setzen.
Die politische Entwicklung wird daher mit
großer Spannung verfolgt und die Westeuropa-
Abteilung des Außenamtes steht mit Genf und
London in ständiger Verbindung.

gelegt und den Landtag beschlußunfähig ge-

macht.
Unter Bezugnahme auf die bevorstehenden
Wahlen schreibt Lemery weiter, die litauische
Regierung habe in der Zwischenzeit Las Wahl-
gesetz geändert: Das Wahlrecht sei den „nicht-
loyalen Bürgern" entzogen worden, eine Ve-,
griffsbestimmung, die allen Mißbräuchen
Tür und Tor öffne. Aus diesem Grund
habe Deutschland protestiert und die Garantie-
mächte aufgefordert, dafür Sorge zu tragen, daß
das Memelstatut beachtet würde.
Die Antwort des litauischen Vertreters in
Genf auf die deutschen Vorstellungen sei aller-
dings völlig ausweichend gewesen.
Am Schluß seiner Ausführungen fragt Lemery
ob denn der Völkerbund nicht diese Umstände
sehe, „die geeignet seien, den Frie-
den zu stören", wie es in Artikel 11 der
Völkerbundsfatzung heißt und weiter, wodurch
der Völkerbund denn die nötige Achtung vor
seiner Autorität durchsetzen wolle, wenn er zu-
lasse, daß Litauen offensichtlich die Bestimmun-
gen des internationalen Statuts verletzen
dürfe? Hier habe der Völkerbund eine verhält-
nismäßig leichte Aufgabe, den Frieden in Ost-
europa zu sichern, und es wäre ein gutes Bei-
spiel, das man Deutschland von dem kollektiven
System geben könne.
Das litauische Wüten
gegen die Memeldeutschen
DNB. Königsberg, 27. Sept.
Die litauischen Parteien sind anscheinend be-
strebt, ihre Niederlagen, die sie in den von ihnen
»inberufenen Wahlversammlungen erleben, durch
rücksichtslose Maßnahmen wettzumachen. Aus

Erste Sitzung des
IZer-AuSschufses
Madariaga Vorsitzender
DNB. Eens, 27. Sept.
Der am Donnerstag vom Völkerbundsrat ein-
gesetzte 13er-Ausschuß, dem alle Ratsmitglieder
mit Ausschluß der streitenden Parteien ange-
hören, hat am Freitag seine erste Sitzung abge-
halten und den spanischen Delegierten de Mada-
riaga zum Vorsitzenden gewählt.
Madariaga begann die Aussprache über die
Grundlagen seiner Arbeit und erörterte außer-
dem den in dem letzten Telegramm des Kaisers
von Abessinien an den Rat erneut gestellten
Antrag auf Entsendung neutraler Beobachter
nach Abessinien. Der Ausschuß beschloß, die Prü-
fung dieser Frage drei Sachverständigen, einem
Franzosen, einem Engländer und einem Spa-
nier, zu übertragen.
Man mißt gegenwärtig dieser Angelegenheit
keine besondere Bedeutung mehr bei, da diese
neutralen Beobachter, wenn man den Ausbruch
der Feindseligkeiten als bevorstehend betrachtet,
wahrscheinlich zu spät eintreffen würden und
auf alle Fälle bei der Ausdehnung des Landes
und der Ungewißheit über öen Ort des ersten
Zusammenstoßes unverhältnismäßig große tech-
nische Schwierigkeiten zu überwinden hätten.
Der Text der Antwort auf das letzte Telegramm
des Kaisers von Abessinien wurde genehmigt.—
Die nächste Sitzung findet Samstag vormittag
statt.
Sie englische Antwort
Veröffentlichung Anfang nächster Woche
DNB. Paris, 27. Sept.
Die englische Antwort auf die Anfrage des
Quai d'Orsay hinsichtlich der Haltung Englands
im Falle einer Gefährdung des europäischen

Gleichgewichts soll Anfang nächster Woche ver-
öffentlicht werden. Die Pariser Blätter bestäti-
gen aber bereits heute ihre bisherige Ansicht,
wonach diese Antwort lediglich eine nähere Um-
schreibung der Rede des englischen Außenmini-
sters in Genf darstellt und keinerlei neue Bürg-
schaften enthält. Wenn die französische Öffent-
lichkeit nicht enttäuscht werden solle, schreibt der
„Jour", so dürfe sie von England nicht mehr
erwarten als das, was es bereits gegeben habe.
Auch das „Echo de Paris" weist darauf hin, daß
die englische Antwort nicht über die Rede Sir
Samuel Hoares hinausgehe.
Pariser Sorgen um Englands europäische
Verwurzelung
DNB Paris, 27. Sept.
Obwohl an der englischen Antwort auf die
französische Anfrage wegen der Anwendung von
Sühnemaßnahmen im europäischen Raum
nichts mehr zu ändern ist, da sie überreicht,
wenn auch noch nicht veröffentlicht ist, redet der
„Temps" England nochmals gut zu, es möge
seine europäische Bindung und seine Völker-
bundtreue nicht vergessen. England sei ebenso
wie alle anderen Mächte mitten in der euro-
päischen Völkergemeinschaft verwurzelt, deren
höchster Schutz die Inanspruchnahme des Völ-
kerbundes sei.

„Star" behauptet, der Minister für Bölker-
bundsangelegenlheiten Eden müsse sich gegen ge-
wisse diplomatische Einflüsse in London wehren.
Es seien Kreise gewesen, die Italien nm jeden
Preis hätten versöhnen wollen. Glücklicherweise
sei jetzt „die Gefahr", daß Mussolini zu Gefallen
ein Verrat am Völkerbund geübt werde" vor-
über-

„Grenze zwischen Europa
und Asien"
Litauens Annektierungsabsichten
Genau eine Woche vor den Wahlen zum 4.
memellüwdischen Landtag läßt die englische Re»
gierung durch Botschafter Phipps in Berlin
mitteilen, daß die Signatarmächte des Memel-
statuts davon absehen werden, Beobachter zu den
Wahlen in Memelland zu entsenden. Damit
hat sich also der französische Vegllnstigungsstand--
punkt gegenüber Litauen erneut durchgesetzt.
Litauen weiß nun, daß es von niemandem in
der weiteren Terrorisierung der Wahlen gestört
werden wird, auch nicht von den Staaten, die
sich vertraglich dazu verpflichtet haben! Wa«
unter diesen Umständen, d. h. bei dieser erneu»
ten direkten Ermunterung Litauens durch die
„Earantie"staaten als Wahlergebnis heraus-
kommen wird, kann man sich schon jetzt nach
allen litauischen Vorbereitungen denken.
Aber hat nicht der litauische Außenminister
Lozoraitis eben erst versichert, daß alle Verträge
beachtet werden würden? Und hat nicht der
französische Ministerpräsident Laval in einer
Unterredung mit Herrn Lozoraitis diesen aus-
drücklich darauf aufmerksam gemacht, daß di«
Wahlen korrekt durchgeführt werden müssen?
Nun, erstens sind litauische Versicherungen er-
fahrungsgemäß schon seit 17 Jahren unglaub-
würdig. zweitens hat die Ermahnung durch
Herrn Laval lediglich formelle Bedeutung, um
den Anschein der Vertragserfüllung durch
Frankreich vorzutäuschen, und drittens erfolgte
die Mitteilung über die Nichtentsendung von
Beobachtern nach den Bemerkungen des Li-
tauers und des Franzosen. Die drei Signatar-
mächte geben sich bequemlichkeitshalber den An-
schein, als wenn sie den litauischen Versiche-
rungen glauben. Die darin liegende offene Be-
günstigung Litauens durch die Mächte kann
nach allen Erfahrungen mit der litauischen Il-
loyalität nicht deutlicher sein.
Diese Haltung der Mächte ist umso verhäng-
nisvoller, als ibre gelegentlichen Noten und De-
marchen sich mit dem entscheidenden Ziel der
litauischen Bestrebungen niemals befaßt haben,
nämlich mit der Annektierung des Memellan-
des. Schon die Abstimmung der Memeldeutschen
(vor 1923) gegen die Zuschlagung des urdeut-
schen Landes Litauen wurde damals von der
Votschafterkonferenz überhaupt nicht beachtet.
Nachdem die Votschafterkonferenz die Rückgabe
des Landes an Deutschland, dem es ohne den ge-
ringsten Grund entrissen war. abgelehnt hatte,
ging man mit dem Memellande genau so um,
wie man heute etwa in Paris mit Abessinien
als einem politischen Handelsobjekt umgeht.
Inzwischen wurde die stückweise Zerschlagung der
Memelautonomie durch Litauen zur systemati-
schen Vorarbeit für die Annektierung, die die
Kownoer Regierung niemals aus dem Auge
verloren hat.
Es ist wohl eine der hohnvollsten Ant-
worten aus Kowno, wenn dort am 29.
April ds. Js., also kurz nach der letzten
Demarche der Mächte, die litauische Presse
mitteilen konnte: „Man ist im Minister-
rat übereingekommen, die politische Linie
im Memelgebiet nicht zu ändern."
Die litauischen Pläne enthüllen sich mit dersel-
ben Deutlichkeit wie ihre Duldung durch die
zum Gegenteil verpflichteten „Garantie"mächte.
In der Tat, eine Tollheit, die Methode hat,
um es faustisch zu sagen. Das tollste aber daran
ist eigentlich die Tatsache, daß es die verant-
wortlichen Mächte selbst sind, die in offizieller
Form als erste auf die Annektierungsabsichten
Litauens hingewiesen haben. Eine nach Memel
entsandte Sonderkommission der Botschafterkon-
ferenz hat nach ihrer Rückkehr nach Paris am
6. März 1923 einen ausführlichen Bericht über
den Befund aufgesetzt, in dem es heißt, daß die
Litauer „die glatte Annexion erstreben"! Die-
ser Bericht ist beiläufig unterzeichnet von dem
Franzosen Clinchant, dem Engländer Fry und
dem Italiener Baron Aloisi, dem jetzigen Ver-
treter Italiens in Genf. Dieser Bericht, der
gleich zu Beginn hervorheben muß, daß memel-
ländische Fragen „von der litauischen Diploma-
tie und Propaganda mutwillig verschleiert und
verdreht werden", enthält Sätze, die für die
Memelfrage noch heute von entscheidender Be-
deutung sind und in ihrer Richtigkeit auch heute
von den Sügnatarstaaten nicht bestritten werd««
 
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