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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 42.1931

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Michel, Wilhelm: Struktur-Bildung und fliessendes Leben
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https://doi.org/10.11588/diglit.10795#0185

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STRUKTUR-BILDUNG UND FLIESSENDES LEBEN

NEUE BEWEGUNGEN SIND NEUE EINSCHMELZUNGS-PROZESSE

Eine HaupterscheinuDg im Lebensprozeß ist:
Strukturbildung. Was heißt das? Es heißt:
Überführung von Stoffen, die zunächst in flüssig-
gelöstem Zustand dem Organismus innewohnten,
zum festen und unlöslichen Zustand. Am klarsten
tritt das bei dem Prozeß des »Alterns« hervor,
wie er bei Menschen und Tieren beobachtet wird.
Im alternden Organismus nehmen die festen, un-
löslichgewordenen Bestandteile, die Ablagerungen
ständig zu, während der Wassergehalt der Gewebe
und Zellen abnimmt. Altern heißt: »Überladenheit
mit Struktur«; was sich u. a. in der zunehmenden,
individuelleren Formen-Ausprägung äußert,
in der Anhäufung von »Schlacken«, von Produk-
ten, die innerhalb des bestimmten Organismus
nicht mehr »reversibel«, also nicht mehr in den
flüssigen Zustand zurückzuführen sind.. Man kann
das auf die Formel der tragischen Einsicht bringen:
Leben ist im wesentlichen Struktur-Bildung; aber
gebildete Struktur bringt am Ende den Tod.

*

Leben hat die unabweisbare Tendenz, aus
seinem »Blute« d. h. aus dem geheimnisvollen nep-
tunischen Lebensstrom, der es durchfließt, struk-
turierte Trockenstoffe auszuscheiden; indessen
nicht nur als »Schlacken«, als bloße »Abfälle«,
sondern ganz gewiß auch als »Lebens-Siche-
rungen«, als wohltätige Befestigungen, als »burg-
hafte« Formationen. Aber zugleich drohen diese
Trocken-Substanzen dem Leben den Erstickungs-
tod, und sie bewirken ihn in dem Augenblick, wo
das Verhältnis zwischen Strukturmasse und le-
bendem Protoplasma sich erheblich zu Ungunsten
des Letzteren verschiebt. . »Der Tod«, sagte
Heine 1843 zu Hebbel, »ist nicht so zufällig, als
man denkt; er ist das Resultat des Lebens«.

*

Man gewinnt von da aus einen Blick auch für
den großen Dialog von Leben und Tod in dem
geistig-künstlerischen Geschehen, das sich
in der Menschenwelt vollzieht. Ständig treten da
»neue Bewegungen«, neue Impulse auf, die als
ein Sich-Regen und Flüssigwerden von Leben auf-
zufassen sind. Aber ständig drängen diese Er-
regungen dazu, sich in »Struktur«, d. h. in For-
meln, Rezepten, Normen, Gebräuchen zu ver-
festigen. Das ist Lebensfunktion, und doch ist es
zugleich Äußerung des »Todestriebes«. . Wir
müssen diese Lebensfunktion der »Struktur-Bil-
dung« ehren, denn es hieße das Leben selbst steri-
lisieren, wenn man es grundsätzlich hindern wollte,
in »Struktur zu gehen«. Aber es gilt auch zu sehen,
wie mächtig und gerecht immer wieder die Er-
neuerungs-Tendenzen, d. h. »Verflüssigungs-
Tendenzen« im Gesamt-Organismus der Mensch-

heit auftreten. Die Übergänge von einer Denk-
oder Kunstweise zur andern, aber auch die großen
welthistorischen Untergänge und Aufgänge sind
immer wahre Einschmelzungs-Prozesse.
Sie haben den Sinn von Heimholungen der struk-
turierten Bestandteile in das große Strömen, und
sie haben diesen Sinn gerade dann, wenn sie mit
vielen scheinbaren »Sinnlosigkeiten« einhergehen.



So verstimmt es die Menschen einer Wende-
zeit immer, wenn sie die melancholische Erfahrung
machen, daß Probleme, um die sie gerungen haben,
von den nachdrängenden Generationen nicht etwa
»gelöst«, sondern einfach fallen gelassen werden;
oder wenn vorübergehend ein Tohuwabohu unter
den Wertsetzungen entsteht — nach Analogie der
Hexenweisheit »Fair is foul and foul is fair«. . .
Aber gerade das ist »Lösung«: nicht Lösung von
bestehenden Problemen, sondern chemische »Auf-
lösung« von strukturierter Substanz, — mit dem
Ergebnis, daß das Ganze »wieder ins Fließen«
gerät, daß es vom Saturnischen ins Neptunische
geht und das Leben wieder »Gefälle« bekommt.

*

Laotse, der Weise des Ostens, wußte von die-
sem Allem, als er das »Tao«: den großen, lebens-
vollen Zusammenhang, der alle Wesen durch-
strömt, dem Wasser verglich und als er dem Dok-
tor Kungtse, dem Verherrlicher des Festen, ent-
gegenhielt: »Weich und schwach beginnt der
Mensch sein Leben, hart und stark ist er beim
Sterben. Weich und zart sind alle Wesen, Bäume
und Kräuter im Leben, dürr und starr im Tode.
Daher gehören Hart und Starr zum Tode, Weich
und Schwach aber zum Leben«. . wilhelm michel.



ANSCHAUUNG. Es ist nicht ungefährlich,
l. wenn man sagt, es komme heute nicht mehr
auf das »ästhetische Verhältnis« zum Kunstwerk
an. Daß man heute von ihm so wenig hält, ja,
sogar meint, es unterbinde die Möglichkeit, jenen
innigeren und allgemeinen Kontakt wieder zu
gewinnen, liegt an gewissen Ressentiments und
Irrtümern. . Durch abgeleitete Begriffe ist der
eigentliche Sinn des »Ästhetischen« verwischt
worden. Ihn wieder klarlegen, heißt gleichzeitig:
ihn rehabilitieren. Das Wort stammt von einem
griechischen Verbum, welches »anschauen« bedeu-
tet. »Schauen« ist mehr als »sehen«, ein Kunst-
werk »anschauen« heißt nichts anderes als:
einen Gehalt in einer Form als Einheit
aufzunehmen und zu deuten wissen. Es gibt
keine andere Erlebnisform, die gleich wertvoll
wäre: denn nur sie erfaßt das Ganze. . a.wenzel.

1931. IT. 4.
 
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