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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 14.1916

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Heft 10
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Eberstadt, Rudolf: Zur Geschichte des Städtebaues, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4751#0519

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Die mit dem neunzehnten Jahrhundert einsetzende
neuere Entwickelungzuverfblgen, liegt ausserhalb des
Bereichs der vorliegenden Studie. Deutschland trat
in diesen Zeitabschnitt mit baukünstlerischen und
bauwissenschaftlichen Leistungen, die es zu einer
bedeutenden Stellung berechtigten. In Norddeutsch-
land, vor allem in Berlin, waren hervorragende
Meister am Werk; der Süden bot, neben der Bau-
praxis, die angesehenen Lehrer der Baukunst: Wein-
brenner, dessen prächtig geschriebene Lebenser-
innerungen fast mehr des Wissenswerten bringen,
als sein akademisches Lehrbuch; und namentlich
Wiebeking und Heigelin, deren Bücher einen Reich-
tum an selbständigen Gedanken und Anregungen
enthalten, die noch heute unsere Beachtung verdienen.
Den Schriften von Wiebeking und Heigelin hatte
kein anderes Volk Gleichwertiges an die Seite zu
stellen; auch die vielbenutzten Lehrbücher der Fran-
zosen stehen hinter diesen Werken weit zurück.
Gleichwohl war es Deutschland nicht vergönnt, im
Städtebau des neunzehnten Jahrhunderts eine selb-
ständige, geschweige denn eine leitende Stellung zu
erlangen. Die Führung fiel vielmehr an England
und an Frankreich, denen sich die deutschen Städte-
bauer rückhaltlos überantworteten. Mit dem Auf-
schwung der Städte seit 1860 gelangten die fremden
Systeme zur Herrschaft, in einem Umfang, wie es
auf keinem anderen Gebiet geschehen ist, selbst nicht
bei der gerne zitierten Rezeption des Römischen
Rechts, das in seiner Feindschaft gegen die nationale
Entwickelung niemals so weit gegangen ist, wie
das System des neuzeitlichen Städtebaus. Die ein-
heimische Überlieferung, die vielleicht in keinem
Lande gleich bedeutende künstlerische Vorbilder
des Städtebaus bot wie in Deutschland, wurde ab-
geschnitten. Ein neues System des Städtebaues und
der Bodenparzellierung gelangte zur Einführung.
Was unter der Erde war, Kanalisation und Ent-
wässerung, wurde hierbei aus England, was über

der Erde war, Strassensystem, Bodenparzellierung
und Hausfcrmen, aus Frankreich übernommen.

Zu der Unselbständigkeit der nationalen Ent-
wickelung kam die allgemeine Erbschaft des neun-
zehnten Jahrhunderts hinzu, das Spezialistentum,
das im Städtebau, dessen Wesen in der Gesamtleitung
besteht, notwendigerweise zu Fehlwirkungen führen
musste. Der Hochbauer und der Tiefbauer, der
Hygieniker und der Jurist, der Grünflächenkünstler
und der Wohnungsreformer, sie alle bearbeiten ihre
Spezialität; sie alle haken ihr Teilgebiet für das
Ganze; sie alle kommen der Reihe nach mit irgend-
einem Schlagwort oder Modewort zu Gehör, das sich
nach wenigen Jahren als wirkungslos erweist. Eine
Unsumme von Kraft, Aufwand und agitatorischer
Bethätigung wird nutzlos vergeudet; auf die Leitung,
die das Ganze umfasst, warten wir vergebens. Eine
Einheit giebt es allerdings auch in diesem Städtebau;
es ist der eine, für den sie alle arbeiten; der Nutz-
niesser der schlechten Zustände, dem der Vorteil
aus der Preistreibung des Bodens und der Nutzen
aus der fehlerhaften Entwicklung zufällt. Auf un-
sere Frage: für wen werden unsere Städte gebaut?
lautet die Antwort trüber als jemals.

Kann aber der Künstler zufrieden sein, wenn
man ihn mit den Dekorationskünsten gewähren
lässt, die dieser Städtebau gebraucht? von ihm die
Afterkunst verlangt, die eine historische Mode von
der Vergangenheit borgt? Von den Alten wollen
wir nicht die äusseren Formen lernen. Die Formen
gehören der Zeit und vergehen mit der Zeit. Wir
wollen den Geist erkennen, aus dem sie einst ein-
heitliche Werke im Städtebau schufen, echte und
wahre Verkörperungen der Aufgaben ihres Zeit-
alters. Kunst heisst: Gestaltungskraft. Wenn unsere
Künstler die Ziele erkannt haben, die unser Städte-
bau verwirklichen soll, dann werden sie —■ an
technischem Können fehlt es nicht — auch die
rechte Form finden.

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