Zur Wissenschaft wird die Pädagogik in unsern Tagen, sie soll zur Kunst sich
entfalten: „Das ist der Schule höchstes Ziel, dass sie ist Menschenbildnerin“.
Ihr Fibelkünstler habt uns grosses Vertrauen entgegengebracht, ihr sollt nicht
enttäuscht sein. Lasst uns nur Zeit, dass wir uns erst einmal von unsrer Ver-
wunderung erholen. Längst schon war ja der Frühling ins Land gezogen und uns hielt
noch die lange Winterstarre gefangen. Wir träumten von Blumen und Sonnenschein
und draussen blühten sie schon, die Veilchen und Rosen. Da wurden wir plötzlich
geweckt, und dann hat der lachende Sonnenschein unsre schwachen Augen geblendet
und die Farbenfülle unsre verstumpften Sinne verwirrt. Wir müssen zuerst umkehren
und mit den Kindern das Sehen lernen: wir wollen für die Fibelbilder reif werden.
Aber beurteilen will ich ja
die Bilder, nicht loben, sonst könnten
die beiden Künstler versucht sein, sie
auszustreichen (s. Gellerts Fabel „Der
Maler“). Attempto!
I.
Es gab einst eine fibellose, glück-
liche Zeit. Lange schon hatte wohl der
kleine Mose die Bildreihen am hoch-
ragenden Obelisken bewundert, wenn
er mit den andern Knaben des könig-
lichen Hauses zu ihren Füssen im Nil-
sande spielte, und früh wird er auch
versucht haben, die komischen Gestalten
in den Sand zu zeichnen. Wie glücklich
mag er aber erst gewesen sein, als ihm
der alte Priester erzählte, dass diese
hohe Säule ein steinernes Geschichten-
buch sei und reden könne. Der Lehrer
durfte wohl nie über Unaufmerksam-
keit seines Zöglings klagen , wenn er
ihn zur Säule führte und die Bildschrift
mit ihm entzifferte. Das Lesenlernen
war eine Lust, und Mose zählte wohl
bald zu den „Kundigen“ und konnte
unterrichtet werden „in aller Weisheit
der Aegypter“.
Pharao, der Göttersohn, wollte
nicht nur für die Mitwelt leben, auch
die Nachwelt sollte ihn kennen und
verehren. Aber die mündliche Ueber-
lieferung war kurzlebig und mythen¬
reich und sein Ruhm sollte doch ewig währen. Er griff zum Baustein und schuf
sich in der Pyramide ein Grabmal, das tausend und aber tausend Jahre redet.
Wer ruht darin? Das Bild im Stein soll’s künden. Damit trat er selbst in die
Geschichte ein, bald auch sein Volk; von oben her, vereinzelt erst, in grossen,
dann in kleinen Taten und endlich tatenlos im Werktagskleid wird’s uns im
Bilde vorgeführt — die Schrift war da. Ein Dingbild war es erst und alle körper-
lichen und seelischen Eigenschaften wurden aussen hingehängt und recht kräftig
betont; so wurde es zur Karikatur. Die lose Reihung der Dingbilder richtig zu
deuten, erforderte ein genaues Beobachten und exakte Schlüsse, das Lesen war mehr
ein Können als ein Wissen, oft mag es wohl ein unsicheres Raten gewesen sein.
Bald versuchten findige Köpfe und tüchtige Zeichner die abstrakten Begriffe von
der Körperform zu lösen und gesondert im Bilde zu veranschaulichen, „Gerechtigkeit“
wurde als Wage, das „Gehen“ durch zwei schreitende Beine, „Durst“ als ein
springendes Kalb über drei Wellenlinien (Wasserwellen) dargestellt; so entstand
entfalten: „Das ist der Schule höchstes Ziel, dass sie ist Menschenbildnerin“.
Ihr Fibelkünstler habt uns grosses Vertrauen entgegengebracht, ihr sollt nicht
enttäuscht sein. Lasst uns nur Zeit, dass wir uns erst einmal von unsrer Ver-
wunderung erholen. Längst schon war ja der Frühling ins Land gezogen und uns hielt
noch die lange Winterstarre gefangen. Wir träumten von Blumen und Sonnenschein
und draussen blühten sie schon, die Veilchen und Rosen. Da wurden wir plötzlich
geweckt, und dann hat der lachende Sonnenschein unsre schwachen Augen geblendet
und die Farbenfülle unsre verstumpften Sinne verwirrt. Wir müssen zuerst umkehren
und mit den Kindern das Sehen lernen: wir wollen für die Fibelbilder reif werden.
Aber beurteilen will ich ja
die Bilder, nicht loben, sonst könnten
die beiden Künstler versucht sein, sie
auszustreichen (s. Gellerts Fabel „Der
Maler“). Attempto!
I.
Es gab einst eine fibellose, glück-
liche Zeit. Lange schon hatte wohl der
kleine Mose die Bildreihen am hoch-
ragenden Obelisken bewundert, wenn
er mit den andern Knaben des könig-
lichen Hauses zu ihren Füssen im Nil-
sande spielte, und früh wird er auch
versucht haben, die komischen Gestalten
in den Sand zu zeichnen. Wie glücklich
mag er aber erst gewesen sein, als ihm
der alte Priester erzählte, dass diese
hohe Säule ein steinernes Geschichten-
buch sei und reden könne. Der Lehrer
durfte wohl nie über Unaufmerksam-
keit seines Zöglings klagen , wenn er
ihn zur Säule führte und die Bildschrift
mit ihm entzifferte. Das Lesenlernen
war eine Lust, und Mose zählte wohl
bald zu den „Kundigen“ und konnte
unterrichtet werden „in aller Weisheit
der Aegypter“.
Pharao, der Göttersohn, wollte
nicht nur für die Mitwelt leben, auch
die Nachwelt sollte ihn kennen und
verehren. Aber die mündliche Ueber-
lieferung war kurzlebig und mythen¬
reich und sein Ruhm sollte doch ewig währen. Er griff zum Baustein und schuf
sich in der Pyramide ein Grabmal, das tausend und aber tausend Jahre redet.
Wer ruht darin? Das Bild im Stein soll’s künden. Damit trat er selbst in die
Geschichte ein, bald auch sein Volk; von oben her, vereinzelt erst, in grossen,
dann in kleinen Taten und endlich tatenlos im Werktagskleid wird’s uns im
Bilde vorgeführt — die Schrift war da. Ein Dingbild war es erst und alle körper-
lichen und seelischen Eigenschaften wurden aussen hingehängt und recht kräftig
betont; so wurde es zur Karikatur. Die lose Reihung der Dingbilder richtig zu
deuten, erforderte ein genaues Beobachten und exakte Schlüsse, das Lesen war mehr
ein Können als ein Wissen, oft mag es wohl ein unsicheres Raten gewesen sein.
Bald versuchten findige Köpfe und tüchtige Zeichner die abstrakten Begriffe von
der Körperform zu lösen und gesondert im Bilde zu veranschaulichen, „Gerechtigkeit“
wurde als Wage, das „Gehen“ durch zwei schreitende Beine, „Durst“ als ein
springendes Kalb über drei Wellenlinien (Wasserwellen) dargestellt; so entstand