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sie mit ihren Jungen, auf einer Tafel stellt sie sich gegen den Karo oder kratzt
den bösen Buben, der sie schlägt — köstliche Szenen, dem Leben abgelauscht,
meist selbst erlebt und mit den nötigen Erklärungen mir vorgeführt. „So, Kinder,
jetzt könnt ihr alles schreiben, was ihr wollt.“ Und die Kinder setzen Dingbild
neben Dingbild in Form von allerdings ungewollten Karikaturen (der Feldschütz
mit grossen Händen und langen Beinen); dann vereinzelt taucht auch das Sinnbild
auf: Kinder, welche sich unter dem Weihnachtsbaum freuen oder vor dem Pelz-
märte fürchten (die Stube ist immer ohne Aussenwand, das Haus hat drei sicht-
bare Flächen). Jede Pause wird mit „Malschreiben“ ausgefüllt, ganze Geschichten
und Märchen entstehen und werden mir, dem Unkundigen, verdeutscht. Sage mir
nur noch einer, die Kinder können nicht produzieren. „Aufgepasst, jetzt kommt
was Feines, schreibet mir ein AI“ Allgemeines Grübeln, manche Vorschläge.
Plötzlich ruft der lebhafte W.: „Ich kann’s, ich mach’ einfach einen Apfel“ (das
Wort „Apfel“ war ihm in den letzen Tagen besonders wichtig geworden, weil ich
es statt des mundartlichen „Epfel“ gebraucht habe; er korrigierte mich damals
„mir saget halt ,Epfel’“), der ganze Chor fiel jubelnd ein: „Ich auch, also ich
auch“, nur mein Allerweltsbesserwisser, der originelle K., sagte: „Und ich mach
eine Axt“. So kamen wir
zur Bilderschrift.
Wollen wir der natür¬
lichen Entwicklung des
kindlichen Seelenlebens
gerecht werden, dann
müssen wir diesen Weg
gehen. Dies ist wenigstens
in den ersten Schulwochen
selbst bei einer Klasse mit
104 Schülern (worunter
54 des I. Schuljahrs mit 17
Wochenstunden) zwischen
den hintersten Schwarzwaldbergen möglich. Leider müssen wir zu früh schon zur Zwangs-
jacke greifen, wir wollen sie wenigstens nur lose binden und die kleinen Pfadfinder
hin und wieder ein Viertelstündchen herausschlüpfen lassen, damit die zarten
Seelensaiten klingen können und der phantasiereiche Kindergeist nicht nach kurzem
Fluge flügellahm zur Erde sinkt, nicht frühe schon verknöchert und verkümmert.
So grausam ist selbst die härteste Notwendigkeit des späteren Lebens nicht, dass
sie dieses Opfer von uns fordern würde. Das Kind hat ein Hecht zu leben
und sich zu entfalten.
Dies haben unsere deutschen Lautzeichen vergessen, sie haben die Fühlung
mit der Natur draussen völlig verloren, vielleicht nie recht gehabt. Längst schon
waren findige Schulmänner und Kinderfreunde bemüht, Gedächtnishilfen zur Ein-
prägung dieser verkünstelten Formen zu finden, Knittelverse fürs ABC und Buch-
stabensuppen, Lauterzeugungsbilder mit Erklärungen, die Freyschen Merkbilder
(Faust mit aufgerichtetem Daumen für 6) und die Spieserschen Schreibdruckformen,
die Normalwort- und auch Bilderfibeln zeugen davon. Es waren wohl manche
dieser Erfindungen ganz zweckdienlich und wirkliche „Hilfen“, aber meist machte sich
eine elende After- und Pfennigkunst breit. In den Fibeln für die evangelischen
Volksschulen Württembergs allerdings nicht, sie kannten keine Gedächtnishilfen.
Schon vor Jahren habe ich einmal geschrieben: „Es scheint, als sollte bei den
Schwabenkindern möglichst frühzeitig schon durch mechanische Uebungen bis zur
Bewusstlosigkeit künstlich Schädelverdickung erzeugt werden, damit sie später die
Kiegelwände der Lebenshindernisse unbeschadet ausstossen könnten.“
(Fortsetzung folgt.)
Abbildung 7.
sie mit ihren Jungen, auf einer Tafel stellt sie sich gegen den Karo oder kratzt
den bösen Buben, der sie schlägt — köstliche Szenen, dem Leben abgelauscht,
meist selbst erlebt und mit den nötigen Erklärungen mir vorgeführt. „So, Kinder,
jetzt könnt ihr alles schreiben, was ihr wollt.“ Und die Kinder setzen Dingbild
neben Dingbild in Form von allerdings ungewollten Karikaturen (der Feldschütz
mit grossen Händen und langen Beinen); dann vereinzelt taucht auch das Sinnbild
auf: Kinder, welche sich unter dem Weihnachtsbaum freuen oder vor dem Pelz-
märte fürchten (die Stube ist immer ohne Aussenwand, das Haus hat drei sicht-
bare Flächen). Jede Pause wird mit „Malschreiben“ ausgefüllt, ganze Geschichten
und Märchen entstehen und werden mir, dem Unkundigen, verdeutscht. Sage mir
nur noch einer, die Kinder können nicht produzieren. „Aufgepasst, jetzt kommt
was Feines, schreibet mir ein AI“ Allgemeines Grübeln, manche Vorschläge.
Plötzlich ruft der lebhafte W.: „Ich kann’s, ich mach’ einfach einen Apfel“ (das
Wort „Apfel“ war ihm in den letzen Tagen besonders wichtig geworden, weil ich
es statt des mundartlichen „Epfel“ gebraucht habe; er korrigierte mich damals
„mir saget halt ,Epfel’“), der ganze Chor fiel jubelnd ein: „Ich auch, also ich
auch“, nur mein Allerweltsbesserwisser, der originelle K., sagte: „Und ich mach
eine Axt“. So kamen wir
zur Bilderschrift.
Wollen wir der natür¬
lichen Entwicklung des
kindlichen Seelenlebens
gerecht werden, dann
müssen wir diesen Weg
gehen. Dies ist wenigstens
in den ersten Schulwochen
selbst bei einer Klasse mit
104 Schülern (worunter
54 des I. Schuljahrs mit 17
Wochenstunden) zwischen
den hintersten Schwarzwaldbergen möglich. Leider müssen wir zu früh schon zur Zwangs-
jacke greifen, wir wollen sie wenigstens nur lose binden und die kleinen Pfadfinder
hin und wieder ein Viertelstündchen herausschlüpfen lassen, damit die zarten
Seelensaiten klingen können und der phantasiereiche Kindergeist nicht nach kurzem
Fluge flügellahm zur Erde sinkt, nicht frühe schon verknöchert und verkümmert.
So grausam ist selbst die härteste Notwendigkeit des späteren Lebens nicht, dass
sie dieses Opfer von uns fordern würde. Das Kind hat ein Hecht zu leben
und sich zu entfalten.
Dies haben unsere deutschen Lautzeichen vergessen, sie haben die Fühlung
mit der Natur draussen völlig verloren, vielleicht nie recht gehabt. Längst schon
waren findige Schulmänner und Kinderfreunde bemüht, Gedächtnishilfen zur Ein-
prägung dieser verkünstelten Formen zu finden, Knittelverse fürs ABC und Buch-
stabensuppen, Lauterzeugungsbilder mit Erklärungen, die Freyschen Merkbilder
(Faust mit aufgerichtetem Daumen für 6) und die Spieserschen Schreibdruckformen,
die Normalwort- und auch Bilderfibeln zeugen davon. Es waren wohl manche
dieser Erfindungen ganz zweckdienlich und wirkliche „Hilfen“, aber meist machte sich
eine elende After- und Pfennigkunst breit. In den Fibeln für die evangelischen
Volksschulen Württembergs allerdings nicht, sie kannten keine Gedächtnishilfen.
Schon vor Jahren habe ich einmal geschrieben: „Es scheint, als sollte bei den
Schwabenkindern möglichst frühzeitig schon durch mechanische Uebungen bis zur
Bewusstlosigkeit künstlich Schädelverdickung erzeugt werden, damit sie später die
Kiegelwände der Lebenshindernisse unbeschadet ausstossen könnten.“
(Fortsetzung folgt.)
Abbildung 7.